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Während dieses ganzen Tages schien die Kranke mit ernsten, aber beseligenden Gedanken beschäftigt. Fabiola, welche sie niemals verließ, mit Ausnahme von kurzen Augenblicken, wo sie die notwendigsten Befehle erteilte, beobachtete ihre Gesichtszüge mit einem Gemisch von Schrecken und Wonne. Es war ihr, als sei die Seele ihrer Dienerin ihrer Umgebung entrückt und befände sich in einer ganz anderen Sphäre. Bald zuckte ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge, bald glänzte eine Thräne in ihrem Auge oder rollte langsam über ihre Wange herab; zuweilen hatte sie die Augen aufgeschlagen und heftete sie lange auf den Himmel, während ein seliger Ausdruck vollkommener und stiller Zufriedenheit auf ihrem Antlitz ruhte. Dann wandte sie sich mit einem Blick unendlicher Zärtlichkeit zu ihrer Herrin und streckte ihr die Hand entgegen, welche diese liebevoll in die ihrigen schloß. Der ärztlichen Vorschrift gemäß verharrte Fabiola alsdann regungslos in dieser Stellung; sie empfand es wie eine Wohlthat, fast wie eine Ehre, mit einem so seltenen Beispiel von Tugendreinheit in Berührung zu sein.
Endlich sagte sie im Laufe des Tages, nachdem sie ihrem Pflegling einige Nahrung verabreicht hatte, mit lächelnder Miene:
»Mirjam, ich glaube, daß du dich schon viel wohler fühlst. Dein Arzt muß dir eine wundertätige Arzenei gegeben haben.«
»Das hat er wahrlich gethan, meine teure Herrin.«
Fabiola war augenscheinlich peinlich berührt. Dann lehnte sie sich über sie und sagte in ihrem sanftesten Ton:
»O, nenne mich nicht mehr mit diesem Namen. Wenn diese Bezeichnung überhaupt noch angewandt werden sollte, so müßte ich sie dir gegenüber gebrauchen. Aber in Wahrheit gehört sie nicht mehr hierher. Was ich längst zu thun beabsichtigte, ist jetzt geschehen. Und das Schriftstück, welches deine Befreiung verkündet, lautet nicht auf eine »Freigelassene«, sondern auf eine » ingenua«,Personen, welche von der Sklaverei befreit wurden, behielten die Bezeichnung von »Freigelassenen« ( libertus, liberta) der Gebieter, welchen sie angehört hatten, wie z. B. »Freigelassener des Augustus«. Wenn sie ursprünglich einer freien Klasse angehört hatten, wurden sie als » ingenuus oder ingenua« (wohlgeboren) befreit und jener Klasse wieder zugeteilt. denn eine solche bist du, das weiß ich.«
Mirjam gab nur durch einen Blick ihre Dankbarkeit zu erkennen, aus Furcht Fabiola von neuem zu verletzen. Und so fuhren sie fort, schweigend miteinander glücklich zu sein.
Gegen Abend kam Dionysius abermals und fand die Besserung so weit fortgeschritten, daß er kräftigere Nahrung vorschrieb und ein wenig Unterhaltung gestattete.
Sobald sie allein waren, sagte Fabiola:
»Ich muß jetzt die erste Pflicht erfüllen, nach der mein Herz sich sehnt: ich muß dir danken – ich wollte, es gäbe ein bezeichnenderes Wort – nicht für das Leben, das du mir gerettet hast, sondern für das hochherzige Opfer, welches du dafür gebracht – und laß mich hinzufügen, für das unvergleichliche Beispiel heroischer Tugend, welche allein dich dazu treiben konnte.«
»Was anderes that ich denn, als meine einfache Pflicht? Du hattest ein Recht an mein Leben, das ich dir hätte opfern müssen, selbst wenn es sich um viel geringeres gehandelt hätte als um die Rettung des deinen,« entgegnete Mirjam.
»Ohne Zweifel,« antwortete Fabiola, »erscheint es dir so, die du in den Lehren auferzogen bist, die mich überwältigen, nämlich daß die Menschen die heldenmütigsten Thaten als Pflichten der außergewöhnlichsten Tugend zu betrachten haben.«
»Und dadurch hören sie auf, das zu sein, was du sie nennst,« entgegnete Mirjam.
»Nein, nein,« rief Fabiola enthusiastisch, »versuche nicht, mich vor meinem eigenen Herzen niedrig und kleinlich zu machen, indem du mich lehrst, das zu unterschätzen, was ich nur als einen Akt unvergleichlicher Tugend bezeichnen kann. Seitdem ich diese That gesehen, habe ich Tag und Nacht darüber nachgedacht, und meine Seele hat danach gedürstet, mit dir darüber zu reden; aber selbst jetzt wage ich es noch nicht, mit dir davon zu sprechen, aus Furcht, daß ich dich durch die Flut meiner überquellenden Gefühle von neuem schwach machen könnte. Es war edel, es war groß, es war über jedes Lob erhaben, obgleich ich weiß, daß du es nicht zugeben willst. Ich weiß nicht, durch was die Größe deiner Handlung noch gesteigert werden könnte; ich kann nicht glauben, daß menschliche Tugend auch nur noch um eine einzige Stufe höher steigen könnte!«
Mirjam, die sich jetzt zu einer sitzenden Stellung emporgerichtet hatte, umfaßte Fabiolas Hand mit der ihren, und indem sie sich zu ihr wandte, sprach sie in sanftem, mildem, wenn auch tief ernstem Ton zu ihr:
»Gute und edle Dame, höre mich nur auf einen Augenblick an. Da es dich schmerzt, will ich das nicht mehr verkleinern und herabsetzen, was du zu schätzen gütig genug bist, aber ich will dich lehren, wie weit entfernt wir noch von dem sind, was hätte gethan werden können. Laß mich dir zu diesem Zweck eine Scene ausmalen, die ähnlich aber in jeder Beziehung umgekehrt ist. Laß es einen Sklaven sein – verzeih mir, teure Fabiola, daß ich dir wiederum einen Schmerz verursache – ich sehe es in deinen Zügen, aber es soll der letzte sein, den ich dir zufüge – ja, einen wilden, undankbaren, aufrührerischen Sklaven, gegen den großmütigsten und gütigsten aller Herrn. Und laß den Schlag, nicht eines Mörders, sondern des gerechten Richters über seinem Haupte schweben. Wie würdest du die That nennen, wie die Tugend jenes Gebieters bezeichnen, welcher aus reiner Liebe, und damit er jenen Unglücklichen für sich retten könne, sich unter die Streiche jener Axt wirft und dann in seinem letzten Willen noch bestimmt, daß er jenen Sklaven zum Erben seiner Reichtümer macht und den Wunsch ausspricht, daß man diesen wie seinen Bruder betrachte?«
»O Mirjam, Mirjam, du hast ein Bild entworfen, welches zu erhaben ist, als daß Menschen daran glauben könnten. Du hast deine eigene That nicht verdunkelt, denn ich sprach von menschlicher Tugend. Zu handeln, wie du es soeben beschrieben Haft, würde, wenn es möglich ist, die Tugend eines Gottes erfordern!«
Mirjam drückte die gefalteten Hände an die Brust, heftete auf Fabiolas verwundert fragende Augen einen Blick voll himmlischer Begeisterung und entgegnete dann in mildem, feierlichem Ton:
»Und Jesus Christus, der alles dies für die Menschheit that, war in Wahrheit Gott.«
Fabiola bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und verhielt sich lange Zeit hindurch schweigend.
Mirjam betete ernst und andächtig in ihrem eigenen, stillen Herzen.
»Mirjam, ich danke dir aus der Tiefe meiner Seele,« sagte Fabiola endlich, »du hast dein Versprechen, mich zu führen, erfüllt. Seit einiger Zeit habe ich begonnen zu fürchten, daß du keine Christin seist; aber das konnte ja nicht sein!
Sag mir jetzt, ob diese hehren und doch so süßen Worte, die du soeben gesprochen hast, und die sich in mein Herz gesenkt haben, so tief, so leise und so unwiderbringlich wie ein Stück Gold, das auf die Oberfläche des stillen Meeres geworfen, bis auf seinen Grund sinkt – ob diese Worte nur einen Teil des christlichen Systems bilden, oder ob sie seinen Hauptgrundsatz ausmachen?«
»Teure Gebieterin, aus einer einfachen Allegorie hat dein mächtiger Geist den Hauptschlüssel unserer ganzen Lehre mit einem Griffe erfaßt. Dein feines Verständnis hat die hauptsächlichsten und hervorragendsten Doktrinen des Christentums herausgezogen und in einen Gedanken zusammen gefaßt. Du hast ihren innersten Gehalt ans Licht gezogen. Daß der Mensch, Gottes Geschöpf und Knecht sich gegen den Herrn auflehnte, daß die unerbittliche Gerechtigkeit ihn gerichtet und verfolgt hatte; daß dieser Herr selbst sich äußerte und Knechtsgestalt annahm, und im Äußern gleich einem Menschen erfunden wurde;Philipp. Kap. 2, V. 7. daß Er in dieser Gestalt Streiche, Faustschläge, Gespött und einen schmählichen Tod erlitt; daß Er ›der Gekreuzigte‹ wurde, wie die Menschen ihn hier nennen, und dadurch die Menschheit vom ewigen Verderben erlöste, ihr einen Teil seines eigenen Reichtums gab: alles dieses ist in den Worten zusammengefaßt, die ich gesprochen habe.
»Und du hast den richtigen Schluß gefunden. Nur Gott hätte eine so gottgleiche That vollbringen oder ein so erhabenes Sühnopfer darbringen können.«
Fabiola saß wiederum in tiefe Gedanken versunken da. Endlich fragte sie schüchtern:
»War es dies, was du in Campanien andeutetest, als du sagtest, daß Gott allein das Opfer sei, welches Gottes würdig?«
»Ja; aber ich deutete auch eine Fortsetzung dieses Opfers selbst in unseren Tagen an, welche darin besteht, daß wir eine allmächtige Liebe hegen. Doch hiervon darf ich für den Augenblick noch nicht sprechen.«
Fabiola begann von neuem:
»Ich sehe jetzt in jedem Augenblick, wie alles, was du je zu mir gesprochen hast, übereinstimmt und zusammenpaßt wie die Teile einer Pflanze; eins entspringt aus dem andern. Ich glaubte, daß sie nur die lieblichen Blüten einer prächtigen Theorie trüge; du hast mir in deinem Wesen bewiesen, wie diese zur süßen und wirklichen Frucht reifen können. In der Lehre, welche du mir soeben erklärt hast, entdecke ich den edlen Stamm, aus dem alle anderen sprießen – sogar jene edle Frucht. Denn wer könnte sich weigern, für einen anderen zu thun, was viel weniger ist als das, was Gott für ihn gethan hat? Aber Mirjam, es giebt eine tiefe und unsichtbare Wurzel aus der dies alles entspringt; vielleicht so dunkel, daß man sie nicht sehen kann, so tief, daß man sie nicht erreichen kann, so verwachsen und verschlungen, daß es nicht in der Macht des Menschen liegt, sie zu entwirren – und doch vielleicht so einfach, so erreichbar für ein vertrauendes Gemüt. Wenn ich in meiner gegenwärtigen Unwissenheit sprechen dürfte, so würde ich wünschen, daß diese Wurzel groß genug wäre, um das ganze Weltall auszufüllen, reich und kräftig genug, um die Schöpfung mit allem zu versehen, was gut und vollkommen ist; stark genug, um das Wachstum deines edlen Baumes zu tragen, bis sein Gipfel bis an die Sterne ragt und seine Äste bis an das Ende der Welt reichen.
»Ich meine, der Gedanke jenes Gottes, den du mich fürchten lehrtest, da du zu mir als Philosophin von Ihm sprachst, und den du mir als den allgegenwärtigen Wächter und Richter zeigtest; den du mich als Christin aber lieben lehren wirst, den du mir zeigen wirst als die Wurzel und den Ursprung jener grenzenlosen Güte und Barmherzigkeit.
»Wenn nicht ein tiefes Geheimnis in Seinem Wesen verborgen liegt, so kann ich die wundersame Lehre von der Erlösung des Menschen nicht verstehen.«
»Fabiola,« entgegnete Mirjam, »weisere Lehrer als ich, sollten die Unterweisung einer so begabten und klugen Schülerin übernehmen. Aber willst du mir glauben, wenn ich es versuche, dir einige Erklärungen zu geben?«
»Mirjam,« antwortete Fabiola mit starkem Nachdruck, »Eine, die bereit ist, für die andere zu sterben, wird diese gewiß nicht täuschen.«
Und jetzt begann die Kranke wiederum lächelnd, »du bist abermals auf einen großen Grundsatz gekommen – auf den Glauben. Ich will deshalb nur einfach erzählen, was Jesus Christus, der in Wahrheit für uns gestorben ist, uns gelehrt hat. Du wirst an mein Wort glauben wie an das einer gewissenhaften Zeugin; du wirst das Seine hinnehmen als das eines unfehlbaren Gottes.«
Fabiola neigte das Haupt und lauschte mit andächtigem Gemüte jener, in der sie schon seit langer Zeit eine Lehrerin wunderbarer Weisheit verehrte, die sie aus einer ihr unbekannten Schule geschöpft hatte; welche sie jetzt aber beinahe wie einen Engel anbetete, der ihr die Schleusen des ewigen Meeres zu öffnen vermochte, dessen Wasser unergründliche Weisheit sind, die sich über die Welt ergießt.
Mirjam erklärte in den einfachen Ausdrücken der katholischen Lehre die erhabene Doktrin der Dreieinigkeit; nachdem sie den Sündenfall berichtet, enthüllte sie das Geheimnis der Menschwerdung indem sie die Worte des heiligen Johannes anführte, die Geschichte des ewigen Wortes, bis Es Fleisch wurde und unter den Menschen wandelte. Oft wurde sie durch Ausdrücke der Verwunderung oder des Beifalls unterbrochen, welche ihre Schülerin äußerte; niemals aber durch Worte des Zweifels oder durch Sophistereien. Die Philosophie hatte der Religion Platz gemacht, Tadelsucht der Sanftmut, Ungläubigkeit dem Glauben.
Jetzt aber schien Traurigkeit sich des Herzens Fabiolas bemächtigt zu haben. Mirjam las diese in ihren Augen und befragte sie um die Ursache.
»Kaum wage ich es dir zu sagen,« entgegnete diese. »Aber alles, was du mir erzählt hast, ist so schön, so göttlich, daß es mir notwendig erscheint, hier zu enden.
»Das Wort, (welch eine edle Bezeichnung!) das heißt der Ausdruck der Liebe Gottes, die Sichtbarkeit Seiner Weisheit, die Beweise Seiner Allmacht, der Atem Seines lebenschaffenden Daseins – dies alles wird Fleisch! Aber wer soll ihm dieses geben? Soll Er die abgeworfene Hülle einer besudelten Menschheit auf Sich nehmen, oder wird ein neues Menschentum besonders für Ihn erschaffen? Soll Er seinen Platz in einer zwiefachen Genealogie finden und dadurch die zwiefache Flut der Verdammnis und Verderbnis in sich aufnehmen? Und giebt es irgend jemand auf der Erde, der groß und mutig und erhaben genug ist, um sich Sein Vater zu nennen?«
»Nein,« flüsterte Mirjam andächtig und sanft, »aber es wird Eine sein, die heilig und demütig genug ist, um würdig zu sein, sich Seine Mutter zu nennen!
»Beinahe achthundert Jahre bevor der Sohn Gottes auf die Welt kam, sprach ein Prophet und zeichnete seine Worte auf und legte diese Schrift in die Hände der Juden, der hartnäckigen Feinde Christi; und seine Worte lauteten also: ›Siehe, die Jungfrau wird empfangen, und einen Sohn gebären, und sein Name wird genannt werden Emanuel,‹Isaias, Kap. 7, V. 14. das bedeutet in der hebräischen Sprache ›Gott mit uns‹, das heißt mit den Menschen.
»Diese Weissagung erfüllte sich im Laufe der Zeit durch die Empfängnis und die Geburt des Sohnes Gottes auf Erden.«
»Und wer war sie?« fragte Fabiola mit tiefer Ehrfurcht.
»Eine, deren Namen von jedem gebenedeit wird, der ihren Sohn wahrhaft liebt. Maria ist der Name, unter dem du sie kennen lernen wirst: Mirjam, derselben in ihrer eigenen Sprache, ist derjenige unter dem ich sie verehre. Du begreifst, daß sie durch Heiligkeit und Frömmigkeit und Tugend für jene große, hehre Bestimmung vorbereitet war; nicht geläutert, sondern von allen Anfang an rein; nicht gereinigt, sondern immer heilig; nicht von der Sünde befreit, sondern vor derselben stets bewahrt. Die Flut, von welcher du sprachst, fand vor ihr den Damm eines ewigen Gesetzes, welches nicht dulden wollte, daß die Heiligkeit Gottes in Berührung kommen sollte mit dem, was sie nur erlösen konnte, wenn sie ihm fremd blieb. Klar wie das Blut Adams, als der Atem Gottes es funkelnd in seine Adern goß, rein wie das Blut der Eva, als sie frisch geformt von der Hand Gottes aus der Seite des schlafenden Adam gezogen wurde – so waren das Blut und das Fleisch, aus dem der Geist Gottes das herrliche, erhabene Menschentum bildete, welches Maria Jesus gab.
»Und nach diesem köstlichen Privilegium, welches unserem Geschlecht gewährt ist, darfst du dich nicht wundern, daß viele, wie unsere süße Agnes diese Jungfrau ohnegleichen zum Vorbilde ihres Lebens gewählt haben; daß sie in ihr, der von Gott Auserwählten, das Urbild jeder Tugend sehen; daß sie eher versuchen, auf Flügeln ungeteilter Liebe wie sie es gethan, aufwärts zu streben, als sich selbst durch die zärtlichsten Bande an den Triumphwagen dieser Welt spannen lassen.«
Nach einer langen Pause des Sinnens fuhr Mirjam fort, in kurzen Worten die Geschichte der Geburt unseres Heilands zu berichten, Seine arbeitsame Jugend, Sein thätiges aber dornenvolles, öffentliches Leben und dann Sein schmähliches Leiden und Sterben. Oft wurde die Erzählung durch Thränen und Schluchzen der erregten Lauscherin und wißbegierigen Schülerin unterbrochen. Endlich war die Zeit der Ruhe gekommen, als Fabiola noch bescheiden fragte:
»Bist du zu ermüdet, um mir noch eine Frage zu beantworten?«
»Nein,« lautete die willige Antwort.
»Welche Hoffnung kann es denn geben für eine, die nicht sagen kann, daß sie unwissend war, denn sie gab vor, alles zu wissen; daß sie vernachlässigt habe zu lernen, denn sie trug einen nie verlöschenden Durst nach jeder Art von Kenntnis zur Schau; – die nur sagen kann, daß sie die wahre Weisheit verschmähte und ihren Spender verhöhnte; – welche Hoffnung kann es geben für die, welche der Qualen spottete, die die Liebe bewiesen; die des Todes lachte, der das Lösegeld war; die Seiner nicht achtete, den sie den Gekreuzigten nannte?«
Eine Thränenflut unterbrach ihre Rede.
Mirjam wartete, bis der erlösende Strom in jenen sanften Thau übergegangen war, der dem Herzen wohlthut. Dann sprach sie in beruhigendem Ton:
»Zur Zeit unseres Heilands lebte ein Weib, das denselben Namen trug wie Seine reine, fleckenlose Mutter; aber sie hatte öffentlich und so erniedrigend gesündigt, wie du, Fabiola, es zu thun verabscheuen würdest. Wir wissen nicht wie es geschah, aber sie lernte unseren Heiland kennen; in dem tiefsten Innern ihres Herzens stellte sie ernste Betrachtungen an, bis sie dahin kam, Seine barmherzige und herablassende Freundlichkeit gegen die Sünder innig zu lieben und Seine seltsame Güte und Nachsicht mit den Gefallenen zu bewundern. Sie liebte mehr und mehr. Und sich gänzlich vergessend, dachte sie nur noch daran, wie sie ihre Liebe zeigen könne, auf daß sie, wenn auch nur die geringste Ehre Ihm, die größte Schande aber sich selbst bringen könne.
»Sie ging in das Haus eines reichen Mannes, wo die gewöhnlichen Ehren der Gastfreundschaft dem göttlichen Gaste versagt geblieben; in das Haus eines hochmütigen Mannes, welcher in der Eitelkeit seines Herzens die öffentliche Sünderin verachtete; sie erwies Ihm, den sie liebte, die Ehren, welche man Ihm gegenüber vernachlässigt hatte; und wie sie es erwartet hatte, verspottete man sie ihres aufdringlichen Thuns wegen.«
»Und wie that sie dies, Mirjam?«
»Sie kniete vor Ihm nieder, als Er an der Tafel saß, sie ließ eine Flut von Thränen auf Seine Füße fallen; sie trocknete sie mit ihrem reichen Haar, sie küßte sie inbrünstig und salbte sie mit köstlichem Öl.«
»Und was geschah dann?«
»Jesus verteidigte sie gegen die beißenden Spottreden seines Gastgebers; Er sagte ihr, daß ihr vergeben sei um ihrer großen Liebe willen und entließ sie mit süßen Trostesworten.«
»Was wurde dann aus ihr?«
»Als Er auf dem Calvarienberge gekreuzigt wurde, hatten zwei Frauen das Vorrecht, dicht neben Ihm zu stehen; Maria, die sündenlose und Maria, die reuige, um zu beweisen, wie reine und bereuende Liebe Hand in Hand gehen können neben Ihm, der da sagte, daß Er nicht gekommen sei die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder zur Buße.«
An diesem Abend wurde nichts mehr gesprochen. Mirjam, durch die Anstrengung des Sprechens ermüdet, sank in einen ruhigen Schlummer. Fabiola saß ihr zur Seite; ihr Herz war zum zerspringen voll von dieser Erzählung der Liebe und göttlichen Barmherzigkeit. Immer wieder dachte sie über dieselbe nach, und mehr und mehr sah sie ein, wie folgerecht sich jeder Teil dieses wunderbaren Systems aus dem anderen entwickelt hatte. Denn, ebenso wie Mirjam bereit gewesen war, für sie zu sterben, in Nachahmung der Liebe ihres Erlösers, so war sie auch bereit gewesen, ihr zu vergeben, als sie sie in ihrer Gedankenlosigkeit beleidigt und verletzt hatte. Sie fühlte, daß jeder Christ eine Nachahmung, ein Abbild seines Herrn sein müsse; und die, welche hier so friedlich neben ihr schlummerte, war in der That ihrem Vorbilde getreu und konnte für sie wohl als seine Nachfolgerin gelten.
Als Mirjam nach einiger Zeit erwachte, fand sie ihre Gebieterin (die Urkunde, welche ihr die Freiheit wiedergeben sollte, war noch nicht ausgefertigt) zu ihren Füßen liegend, wo sie sich in den Schlaf geweint hatte. Sie begriff sofort das ganze Verdienst und die Bedeutung dieser Selbsterniedrigung; sie bewegte sich nicht, sondern dankte Gott mit vollem überfließendem Herzen dafür, daß er ihr Opfer angenommen hatte.
Als Fabiola erwachte, kroch sie auf ihr eigenes Lager zurück, wie sie glaubte unbemerkt. Es hatte sie einen heimlichen, stechenden Schmerz gekostet, diesen Akt der Selbsterniedrigung zu vollbringen; aber sie hatte den Stolz ihres Herzens jetzt vollständig besiegt. Zum erstenmal empfand sie, daß ihr Herz christlich sei.