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Damit unser Leser sich von seiner langen unterirdischen Exkursion erhole, müssen wir ihn auf einen anderen Besuch mit uns führen und zwar nach dem glücklichen Campanien oder dem »gesegneten Campanien«, wie ein alter Schriftsteller es nannte. Dort verließen wir Fabiola verblüfft und verwirrt durch einige geschriebene Worte, welche sie gefunden hatte. Sie hatte sie erhalten wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, von der sie sich keine Vorstellung machen konnte. Sie hätte sie sich gern erklären lassen, aber sie hatte nicht den Mut zu fragen. Am nächsten Tage und den darauffolgenden Tagen hatte sie viele Besuche, und oft dachte sie daran, einem oder dem anderen ihrer Gäste die geheimnisvollen Sprüche vorzulegen, aber sie gewann es dennoch nicht über sich.
Dann kam eine Dame, deren Leben wie das ihre philosophisch korrekt und kalt tugendhaft war. Sie besprachen die modernen Ansichten des Tages miteinander. Endlich nahm sie ihr beschriebenes Stück Pergament hervor, damit der Gast sich ebenfalls den Kopf darüber zerbreche; doch zögerte sie wieder, es ihr vorzulegen, es erschien ihr fast wie eine Entheiligung.
Ein gelehrter Mann, wohl belesen in allen Zweigen der Wissenschaft und der Litteratur, machte ihr einen langen Besuch und sprach sehr anziehend über die erhabeneren Anschauungen der älteren Schulen. Sie kam in Versuchung, ihn über ihre Entdeckung zu befragen; aber es war ihr, als handle es sich um etwas höheres, das er nicht imstande sei zu begreifen.
Es war seltsam, daß die edle und stolze römische Dame sich fast wie instinktiv an ihre christliche Sklavin wandte, wenn es galt, sich Trost oder Belehrung zu verschaffen. So war es auch dieses Mal. In der ersten Stunde, wo sie sich nach so vielen Tagen der Zerstreuung und Gesellschaft allein sahen, nahm Fabiola ihr Pergamentblatt hervor und gab es Syra. Über das Antlitz der letzteren zog ein Ausdruck tiefer Rührung, welcher ihrer Gebieterin indessen entging, und sie war vollständig ruhig, als sie, nachdem sie gelesen hatte, wieder emporblickte.
»Jene Schrift,« sagte Fabiola, »bekam ich wahrscheinlich durch einen Irrtum in der Villa des Chromatius. Ich bin ganz verwirrt durch jene Sprüche und kann mich mit nichts anderem beschäftigen.«
»Und weshalb das, meine edle Herrin? Der Sinn ist doch klar genug?«
»Ja. Und grade diese Klarheit ist es, welche mir soviel Unruhe schafft. Meine natürlichen Gefühle empören sich gegen dieses Gefühl. Ich glaube, ich würde einen Mann verachten, welcher nicht Böses mit Bösem, Haß mit Haß vergälte. Das höchste wäre Vergebung zu üben; aber Böses mit Gutem vergelten – das scheint mir ein unnatürliches Begehren von der menschlichen Natur. Und doch während ich alles dies empfinde, werde ich mir klar darüber, daß ich dahin gekommen bin, dich zu achten für eine Handlungsweise, welche grade das Gegenteil von dem ist, was ich meinen Ansichten nach zu erwarten berechtigt war.
»O, sprich nicht von mir, teure Gebieterin, sondern sieh einfach auf jenen Grundsatz. Du ehrst ihn ja auch in Anderen, das weiß ich. Verachtest oder achtest du den Aristides, weil er sich einem rohen Feind verpflichtete, indem er, dazu aufgefordert, seinen eigenen Namen auf die Scherbe schrieb, welche für seine Verbannung stimmte? Du, als edle Römerin, verachtest, oder ehrst du den Namen des Coriolan um der edlen Milde wegen, welche er gegen deine Vaterstadt übte?«
»Gewiß verehre ich beide so hoch wie möglich; Syra, aber du weißt doch, jene waren Heroen, und nicht alltägliche Menschen.«
»Und weshalb können wir nicht alle Heroen sein?« fragte Syra lachend.
»O du meine Güte, Kind! In welch einer Welt lebten wir, wenn wir es wären! Es ist köstlich von den Thaten dieser wundersamen Menschen zu lesen, aber es würde uns traurig machen, wenn wir sähen, daß gewöhnliche Menschen sie jeden Tag vollbrächten.«
»Weshalb?« fragte die Dienerin eifrig.
»Weshalb? Nun, wer möchte denn ein kleines Kind, das man säugt, in seiner Wiege finden, wie es mit Schlangen spielt oder sie erwürgt? Mir würde es sehr unangenehm sein, wenn ein Gast, welchen ich an meine Tafel geladen, mir ruhig erzählte, daß er am selben Morgen bereits einen Minotaur getötet oder eine Hydra erdrosselt habe; oder wenn ein Freund sich erböte, die Tiber durch meine Ställe zu leiten, um diese zu reinigen. Nur kein Heroengeschlecht! sage ich.«
Und Fabiola lachte herzlich über die Idee. Mit derselben guten Laune fuhr Syra fort:
»Aber nimm nun an, Herrin, daß wir das Unglück hätten, in einem Lande zu leben, wo solche Ungeheuer wie Centauren und Minotauren, Hydren und Drachen existierten. Wäre es denn nicht besser, daß gewöhnliche Menschen genug von einem Helden in sich verspürten, um diese zu besiegen, als daß wir von der andern Seite der Welt einen Theseus oder Herkules holen lassen müssen, um sie zu vernichten? Wahrlich, in solchem Falle wäre ein Mann, wenn er sie bekämpfte, nicht mehr Heros als ein Löwentöter es in meiner Heimat ist.«
»Sehr wahr, Syra; aber ich sehe die Nutzanwendung deiner Idee nicht ein.«
»Die Nutzanwendung ist diese: Zorn, Haß, Ehrgeiz, Rache, Geiz sind für mein Gemüt ebenso fürchterliche Ungeheuer wie Schlangen und Drachen; und sie überfallen und zerfleischen den gewöhnlichen Menschen grade so, wie jene wilden Ungetüme. Weshalb sollte ich denn nicht grade so gut imstande sein, sie zu besiegen wie Aristides, Coriolan oder Cincinatus? Weshalb müssen wir es denn den Heroen überlassen, das zu vollbringen, was wir doch ebensogut selbst zu thun imstande sind.«
»Willst du dies wirklich als einen ganz allgemeinen moralischen Grundsatz aufstellen? Wenn das der Fall ist, so fürchte ich, daß du dich zu hoch emporschwingst.«
»Nein, teure Gebieterin. Du warst überrascht, als ich mich erkühnte, zu behaupten, daß innere und unsichtbare Tugend ebenso notwendig sei wie die äußere und sichtbare. Aber ich fürchte, daß ich dich noch mehr überraschen muß.«
»Fahre fort und fürchte dich nicht, mir alles zu sagen.« »Nun denn, der Grundsatz des Systems, zu dem ich mich bekenne ist folgender: daß wir als gewöhnliche und alltägliche Tugend, nein, als einfache Pflicht das betrachten und ausüben müssen, was jedes andere Gesetz – sei es das reinste und erhabenste – für heldenhaft und einen Beweis der leuchtendsten Tugend hält.«
»Das ist allerdings ein erhabener moralischer Standpunkt. Aber merk wohl auf den Unterschied zwischen diesen beiden Fällen. Der Heros wird durch die Lobpreisungen der Welt gehoben und gestützt; seine That wird aufgezeichnet und der Nachwelt überliefert, wenn er seine eigenen Leidenschaften unterdrückt und eine erhabene Handlung begeht. Wer aber sieht, belohnt oder kümmert sich um das arme, ungekannte, unglückliche Geschöpf, welches sich in demütiger Verborgenheit abmüht, seinem Beispiel zu folgen?«
Mit feierlich andächtigen Blicken und Gebärden erhob Syra die Augen und die rechte Hand zum Himmel und sagte dann langsam:
»Sein Vater im Himmel, welcher die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte.«
Überwältigt schwieg Fabiola einige Augenblicke, dann sagte sie liebreich und ehrfurchtsvoll:
»Wiederum, Syra, hast du meine Philosophie besiegt. Deine Weisheit ist ebenso folgerichtig wie sie erhaben ist. Du verlangst, daß eine heroische, wenn auch ungesehene Tugend die gewöhnliche Alltagstugend eines jeden Menschen sei. Die Menschen aber, welche auch nur versuchten, solche Tugend zu üben, müßten mehr sein als Götter. Der einfache Gedanke allem wiegt aber schon alle Philosophie auf. Kannst du mich noch höher führen als so?«
»O, noch weit – weit höher.«
»Und wohin würdest du mich schließlich führen?«
»Dorthin, wo dein Herz dir sagen würde, daß es endlich Frieden gefunden hätte.«