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Die Rückkehr Etzels in das väterliche Haus geschah unter beträchtlichem Aufsehen der Dienstleute und Hausparteien, vor allem natürlich unter hemmungslos lärmenden Ausbrüchen der guten Rie, die von einem Überschwang in den andern fiel und bald vor Schluchzen, bald vor Lachen nicht wußte, was sie beginnen sollte. Er kam um zehn Uhr vormittags; da er äußerst knapp mit dem Gelde gewesen, war er vierter Klasse gefahren und hatte beinahe vierundzwanzig Stunden zur Reise gebraucht. Nach den ersten Sturzbächen von Fragen und Interjektionen, endlosem Händeringen und Dankgeseufze entsetzte sich die Rie über seinen Aufzug; in der Tat sah er mehr einem wandernden Kesselflicker als einem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ähnlich. Das Jackett war abgerissen, das Hemd schmierig, die Kniehose glich zwei notdürftig zusammengenähten Kartoffelsäcken, die Stiefel waren vertreten und löcherig, die Haare bis in den Nacken hinunter gewachsen, das Gesicht hager in die Länge gezogen, die Augen leuchteten übergroß in dem blassen Oval. Als er sich des Rucksacks entledigt, der genau so geschwollen war wie bei seinem Abgang, verlangte er Reinigung, Wäsche, Speise und ging in sein Zimmer. Die Rie konnte sich nicht entschließen, ihn sich selbst zu überlassen, gab nur in der Küche umfassende Anweisung wegen des Frühstücks, folgte ihm sodann, riß Schränke und Läden auf, schoß ins Badezimmer, um den Hahn zu öffnen, kam wieder und indes sie mit zitternden Händen alles zum Umkleiden Erforderliche aus den Behältnissen hervorsuchte, geriet sie in ein nervös-schwatzhaftes Berichten und Erzählen. Belangloses zuerst, Ereignisse in der Nachbarschaft, Geburt eines Kindes, nächtlicher Einbruch beim Juwelier Herschmann, Zimmerbrand bei Malaperts unten. Dazwischen: »Ihr Heiligen, der Wasserhahn, Emma! die Wanne wird überlaufen!« Das gewichtigere Häusliche dann. Herr von Andergast ist nicht zu Hause. Daran ist natürlich nichts Besonderes, da er ja täglich um halb zehn ins Amt geht, unbeirrbar. Das Auffallende ist, daß er seit einiger Zeit zu ungewöhnlicher Stunde zurückkehrt, um elf, um halb zwölf schon, sich ins Arbeitszimmer begibt und es den ganzen Tag über nicht mehr verläßt, sogar die Mahlzeiten muß man ihm hineinservieren. So ist er in allem und jedem verändert. Zum Beispiel: er hängt seine Kleider nicht mehr zum Bürsten heraus. Oder: er hat sich einmal drei Tage nicht rasiert. Und das Wunderlichste: Er scheint gar nicht zu arbeiten, wenn er vom Mittag bis in die Nacht an seinem Schreibtisch sitzt. Die Rie hat ihn vorgestern dabei überrascht (sie mußte ihm eine Depesche hineintragen), wie er mit aufgestütztem Ellbogen am Fenster gesessen ist, gedankenvoll damit beschäftigt, sein silbernes Benzinfeuerzeug auf und zu schnappen zu lassen. Vielleicht hängt alles das mit einem unglaubwürdigen Gerücht zusammen, das aber nicht aufhören will zu kursieren, nämlich daß er um seine Pensionierung eingekommen sei.
Etzel hörte aufmerksam zu, sagte jedoch kein Wort. Er sah, daß die Rie noch anderes auf dem Herzen hatte, aber zuerst trieb sie ihn ins Bad, und während er sich fertigmachte, sorgte sie für einen ausgiebigen Imbiß. Sie deckte selbst den Tisch, schaute eine Weile stumm-entzückt zu, wie er alles Aufgetragene mit Appetit verschlang, und wagte die Bemerkung: »Gewachsen bist du, Etzelein, und siehst so männlich aus, was ist denn eigentlich mit dir gewesen, wenn ich's überlege, steht mir der Verstand still.« – »Laß ihn nur ruhig stehen und überleg nichts«, fiel er ihr trocken in die Rede, »erzähl mir lieber noch was, du bist ja geladen mit Neuigkeiten, also heraus damit.« Die Rie beugte sich zu ihm hinüber und teilte ihm mit, seine Mutter sei in der Stadt und wohne bei der Generalin. Da sprang Etzel auf. »Ist's wahr, Rie; Ehrenwort?« – Sie nickte und fügte hinzu, Frau von Andergast sei vor zehn Tagen hier im Hause gewesen und habe eine lange Unterredung mit dem Vater gehabt, auch mit ihr habe sie gesprochen, nicht viel freilich, Gruß und Dank nur, aber man habe doch daraus entnehmen können, daß sie eine vollendete Dame sei. – »Und wie sieht sie aus, Rie; Nett? Jung? Hast du sie gut angeschaut? Sag mir's genau.« Er schlang den linken Arm um ihren Hals, mit der rechten Hand streichelte er ihre Wangen. Die Rie, solcher Zärtlichkeiten von ihm längst entwöhnt, wurde ganz schwach vor Glück und vergoß angenehme Tränen. – »Sie wohnt also bei der Großmutter, wirklich, Rie?« – »Ja, Etzelein, und wir müssen gleich telephonieren, unverzeihlich, daß ich's bis jetzt nicht getan hab.« – Etzel hielt sie am Ärmel fest. »Nein. Wart noch, Rie. Ich mag das nicht, telephonieren. Das schickt sich nicht. Ich geh selber hin. Vorher muß aber noch was anderes sein . . .« In dem Augenblick öffnete sich weit die Tür, und Herr von Andergast stand im Rahmen.
Unverkennbar die von der Rie angedeutete Veränderung. Schon in der Kopfhaltung drückte sie sich aus. Das Haupt schien schwerer auf den Schultern zu lasten und mit seinem Gewicht den Hals zu verdicken. Der Kinnbart war von vielem Weiß durchsetzt, auch die Randbehaarung des kahlen Schädels spielte vom Grau stärker ins Weiß hinüber, die Lider hoben und senkten sich träger, der veilchenblaue Blick hatte etwas wie von Fesselung Schlaffes. Desorganisation. Eine Gedankenwelt, der die Ordnung abhanden gekommen war. So konnte nur ein Mann aussehen, dem gewisse Dinge näher gekommen waren, als er je vermutet und befürchtet. Aufgehobene Distanzen. Der Bezweiflung unterworfene Unverrückbarkeiten. Rückläufige Bewegung. Das Totale zersprengt und aberzersprengt und in die rohe Elementarform aufgelöst. Man denke sich einen Palast in den Steinbruch zurückverwandelt, aus dem er entstanden ist, und davor den Baumeister, von allen Gehilfen und Hilfsmitteln verlassen und selbst die Maße nicht mehr wissend. Es nimmt nicht wunder, wenn dieser Mann das Bild eines verstörten Suchers bietet. Ein äußerst angestrengter Zug im Gesicht verrät die zwangshafte Beschäftigung mit Abgeschlossenem. Prüfung, Kritik, Spruch und Widerspruch, wobei der Instanzenweg ins Innere des Menschen verlegt ist. Bequemes Mittel, der Notwendigkeit, sich zu stellen, aus dem Weg zu gehn, wird vielleicht eingewendet. Doch auf die Gewissensentscheidungen hat es wenig Einfluß, und von Belang sind zunächst nur die. Das heiß ich die Dinge nah betrachten, wenn man sich zu ihnen umkehrt, der Vorwärtsschreitende kann sich alles vom Leib halten, was ihn an Verfall und Verfehlung gemahnt. Dreht er sich aber ein einziges Mal um, so umschwirrt ihn widriges Gezücht wie Fledermäuse, die in unbewohnten Baracken hausen, und er hört auf zu sein, was er ist, Beamter zum Exempel, dessen Sachlichkeit von keinem Hinter-die-Dinge-Blicken getrübt sein darf. Es hat Abende und Nächte gegeben, in denen sich Herr von Andergast wie ein alter ego des Sträflings Maurizius erschienen ist. Eingemauert im Haus der Erinnerungen war er verurteilt, die Gegenwart und »Nähe« übler Individuen zu ertragen, es sammelten sich um ihn Hehler, Diebe, Einbrecher, Kuppler, Totschläger, betrunkene Dirnen, Mütter, die ihre Kinder mißhandelt, Defraudanten, Bankrotteure, Hochstapler, Falschmünzer, Wechselfälscher, Schmuggler, Giftmischerinnen, Kindsmörderinnen, Brandstifter, eine Armee ohne Altersgrenze nach unten und oben, Charaktere für den Bedarf von zehntausend Romanverfassern, und er als Ankläger, jedem das Schuldig zurufend. Schließlich, es wird eine Sache der Gewohnheit wie jede andere, eine mit Würde begabte, vom Kredit der Nation unterstützte. Man härtet sich ab. Der Talar isoliert. Man sitzt auf dem kurulischen Stuhl und liefert den Übeltäter an den Richter aus, der ihn mit Hilfe des Paragraphen unschädlich macht. Keine Rede davon, daß dieser Abschaum der menschlichen Gesellschaft mit Samthandschuhen anzufassen ist, so weit würde sich weder der Sträfling Maurizius noch sein romantisch angekränkelter Busenfreund Klakusch versteigen, man kann die strenge Welt der Ereignisse nicht zu einem Rührei von Verantwortungslosigkeiten werden lassen oder jeden Montagvormittag die soziale Ordnung von neuem anfangen, um am Samstagnachmittag verzweifelt seine Ohnmacht und Inkompetenz zu bekennen. Aber wenn die Tausende und Tausende von Gesichtern Revue passieren, erhebt sich eins oder das andere, ein jähes Blitzlicht fällt erschreckend darauf, und in den Augen und auf den bitter verschlossenen Lippen liegt eine Frage. Nichts weiter eigentlich: eine Frage, wortlose Frage. Und es genügt. Ein oder das andere Gesicht aus einer Armee, und es genügt. Das Merkwürdige ist: einer zeugt immer für eine ganze Schar. So wie der Sträfling Maurizius für alle, für eine ganze Welt gezeugt hat. Es vollzieht sich dann selbsttätig, daß der Verbrecher, der vor etwa sechzehn Jahren abgeurteilt worden ist und dessen Namen man bereits vergessen hat, plötzlich zum Ankläger wird, weil aus einem übersehenen Schlupfwinkel Umstände zutage treten oder beachtenswert scheinen, die den Fall, hätte man damals sein Augenmerk darauf gelenkt, aus einem Rechtsfall zu einem Menschenfall gemacht hätten, und was soll man mit einem Menschenfall machen? Staat und Gesetz geben keine Handhabe dazu. Aber der krankhafte Rückschau- und Umkehrzwang bewirkt, daß sich Herr von Andergast mit seinem unvergleichlichen Tatsachengedächtnis den ganzen Bau und Verlauf des Prozesses vergegenwärtigt, genau wie er es im Fall Maurizius getan, bisweilen auch die einschlägigen Akten noch zu Rat zieht und wühlt und wühlt und wühlt. Da es aber jetzt nicht mehr bei dem einen Fall sein Bewenden hat, sondern zu gleicher Zeit ein halb Dutzend und mehr Fälle in seinem Kopf rumoren, verwirrt sich manchmal alles in ihm, er kommt sich vor wie in eine Walpurgisnacht versetzt, und es geschieht nicht selten, daß er zu später Stunde das Haus verläßt (davon weiß die Rie nichts) und bis zum Morgengrauen in den öden Straßen, herumirrt. Und Wortschälle und Widerschälle zerreißen die Stille: »Der Angeklagte behauptet, an dem fraglichen Tag zwischen zwölf und halb zwei bei seiner Tante gegessen zu haben, erwiesen ist aber . . . Ich stelle den Antrag, diesen Zeugen, den die Verteidigung grundlos zu verunglimpfen bemüht ist, noch einmal vorzuladen . . . Frau Zeugin, Ihre Aussage gibt zu schweren Bedenken Anlaß, ich ermahne Sie an Ihren Eid . . .« Scheue Blicke, leidenschaftliche Beteuerungen, angstvolle und haßerfüllte Mienen, nachgeprüfte Zeit, nachgeprüfte Wege, der Zufall als Verräter, die stummen Dinge als Verräter, Lokalaugenschein in Stuben, Gärten, Höfen, an Flußufern und in Kaschemmen, Lüge und Leugnen, falsche Bezichtigung, verzweifelter Kampf um Freispruch, unüberzeugte Geschworene, überhebliche Advokaten, indolente Richter, befangene Richter, das Gesetz nicht von erwünschter Klarheit, die öffentliche Meinung mißleitet, und jetzt, in der Rückschau, alles eingebrachte Rechtsgut unter makabren Zweifel gesetzt, wie Getreide, das in der Scheune fault . . . einen Meter Strafe für einen Millimeter Schuld . . . kein Ansehn der inneren Person, und immer einer, da und da und da, mit der lautlosen Frage auf den Lippen, die das Richterrecht verwirft und den Ankläger anklagt. Oft wenn Menschen schweigend an ihm vorübergehen, hat Herr von Andergast eine Regung von Furcht, als solle er sich verantworten und könne sich nicht erinnern wofür und in welcher Sache, ist dann die Begegnung glücklich überstanden, so fühlt er sich versucht, dem Betreffenden nachzueilen und ihn zu bitten, eine Strecke Wegs mit ihm zu gehen. Er möchte nicht so allein sein. Er erwägt, daß es nicht unmöglich wäre, den entlassenen Sträfling Maurizius unvermutet an einer Straßenecke zu treffen, aus der Erwägung wird Wunsch, aus dem Wunsch heftiges Verlangen. Er bleibt vor den Türen der Hotels stehen, um die Aus- und Eingehenden zu mustern, er späht durch Vorhangspalten in Wirtsstuben und Kaffeehäuser, es wäre nicht unmöglich, daß Maurizius drinnen sitzt, auch allein, gewiß nicht weniger allein als Herr von Andergast. Eines Abends ging er in das Haus, wo Violet Winston gewohnt hatte. Er läutete an der Tür. Ein Mädchen, das die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete, sagte ihm, das Fräulein sei vor einer Woche abgereist. Ungeachtet dieses Bescheides kam er am nächsten Abend noch einmal, als hätte er gänzlich vergessen, was man ihm gesagt, oder als sei er des Glaubens, Violet sei zwischen gestern und heute zurückgekehrt. Dabei lebte gar keine Vorstellung mehr von ihr in seinem Innern, und wenn sie wirklich die Tür aufgemacht hätte, wäre es ganz bedeutungslos für ihn gewesen. In der gleichen Nacht suchte er zu Hause unter alten Briefen die heraus, die er von Etzel erhalten hatte (es waren nur wenige, von Ferienreisen, aus dem Odenwälder Heim), las sie aufs genaueste durch, wieder und wieder, als hätten die einfachen Worte doppelten Sinn, den zu ergründen so unerläßlich wie unaufschiebbar war.
Etzel trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Guten Morgen, Papa.« Wie wenn sie einander gestern abend zuletzt gesehen hätten. Herr von Andergast schaute über den Kopf des Sohnes hinweg, hinter ihn, auf die Schürze der Rie. »Zurückgekehrt?« fragte er, und Mundöffnen und -schließen hatte etwas Fischartiges. Pause. »Darf ich dich bitten, in mein Zimmer zu kommen?« – »Gewiß, Papa.« Sie gingen in das Arbeitszimmer hinüber, die Rie sah ihnen mit einem Gesicht nach, als dächte sie sich: wenn ich den Jungen heil wiedersehe, will ich Gott danken. Herr von Andergast schritt voran, ließ Etzel eintreten, schloß die Tür, deutete auf einen Stuhl: »Bitte, nimm Platz.« Etzel starrte auf die weisende, braunbehaarte Hand und setzte sich gehorsam. Herr von Andergast ging in der Länge des Zimmers auf und ab, ungewöhnlich hastig. Etzel hatte ihn nie so hastig schreiten sehen. Die innere Bewegung, die sich darin kundgab, erweckte ein Gefühl der Befriedigung in ihm. »Ich dachte, es verwinden zu können«, begann Herr von Andergast immer rascher gehend, »ich habe es jedoch nicht verwunden. Es gibt eine Kategorie des Verrats, über die man in meinen Jahren nicht hinwegkommt. Details sind nicht von Belang, du wirst sie mir erlassen. Die Frage lautet zunächst nicht: was ist geschehen? sondern: was soll werden?« – »Ganz richtig, Papa, das ist auch meine Empfindung«, erwiderte Etzel bescheiden. – Herr von Andergast blieb mit einem Ruck stehen und blickte ihn an. »Diese Einsicht ehrt dich«, sagte er sarkastisch. Er trat noch einen Schritt näher, legte dem Knaben die Hand auf den Scheitel und bog ihm den Kopf zurück. »Sonderbar mitgenommen siehst du aus«, sagte er finster und zog die Hand zurück, als hätte er sie verbrannt. – »Ich war krank, Papa.« – »Ah, krank? kein Wunder. Wo hast du dich herumgetrieben?« Auf einmal schrie er auf, mit verzerrtem Gesicht, alle Selbstbeherrschung war dahin, schrie wie rasend auf: »Junge, wo hast du dich herumgetrieben?« schlug die Hände vor die Augen und stöhnte.
Das hatte Etzel nicht erwartet. Das erste Mal in seinem Leben sah er den Vater außer sich. Es machte ihm großen Eindruck. Auch die Berührung vorher, er hatte zu spüren geglaubt, daß die Hand des Vaters dabei gezittert hatte, und der Zug um den Mund, die Zerquältheit, alles das blieb ihm haften, daran hatte er zu denken. Und: es befriedigte ihn. Während er sich zu einer Antwort sammelte, hatte sich Herr von Andergast zur Ruhe bezwungen. »Als ich fortging, habe ich dir ja geschrieben, warum ich fortgehen mußte«, sagte Etzel, »von Herumtreiben war keine Rede.« – Herr von Andergast warf sich in den Schreibtischsessel, schlug die Beine übereinander, strich mit den Fingern nervös über den Kinnbart. »Du hast dich den Nachforschungen mit anerkennenswertem Geschick entzogen«, bemerkte er in die Luft hinein. – »Na, wenn ich nicht mal das gekonnt hätte . . .«, sagte Etzel und hob die Brauen. Herr von Andergast fand den Ton unverschämt und räusperte sich warnend. »Nun, und?« fragte er mit einem Beiklang von Hohn, der die Furcht bemänteln sollte, »und? nothing succeeds like success, sagen die Amerikaner.« – »Ich weiß, ich habe mittlerweile ein bißchen Englisch gelernt«, ließ Etzel einfließen und hatte ein kaustisches Lächeln dabei, das das Mißfallen seines Vaters noch steigerte; »also ja«, raffte er sich zusammen, den Kopf energisch hebend, »der Maurizius ist unschuldig. Total. Unschuldig verurteilt. Justizmord.« – Herr von Andergast zuckte kaum wahrnehmbar zurück. Er betrachtete seine Fingernägel. Die Hände »spielen«. Er erwidert mit der Frostigkeit, die Etzel immer als Mittagstischkälte bezeichnet hat: »So was ist leicht behauptet. Schwerer dürfte der Beweis zu führen sein.« – »Könnt ich's nicht beweisen, so säß ich nicht hier.« – Überraschter Blick vom Schreibsessel her. Darauf gleitet der Blick zu Boden, wie von einem unvermutet starken Gegner in die Flucht gejagt. Es ist etwas in der Miene des Buben, dem schwer standzuhalten ist: die Flamme der Gewißheit. »Ein großes Wort«, spottet Herr von Andergast steif. – »Waremme hat einen Meineid geschworen«, fährt Etzel entschlossen fort, »ich hab's herausgekriegt. Ich hab ihn gefunden. Er heißt nicht mehr Gregor Waremme. Er heißt Georg Warschauer. Das ist sein ursprünglicher Name. Er lebt in Berlin. Ich war sieben Wochen lang beinah Tag für Tag mit ihm beisammen. Ich will nicht sagen, daß wir uns angefreundet haben. Ich kann darüber nicht reden. Es war . . . aber das ist ja auch egal. Das Wichtige ist, daß er mir den Meineid gestanden hat. Wenn du wissen willst, wieso, kann ich dir's gelegentlich mal erzählen. Leicht war's nicht. Das darfst du getrost glauben. Aus den Eingeweiden hab ich ihm das Geständnis gerissen. Und ein Zeuge ist auch da. Vielmehr eine Zeugin. Von der weiß er nichts, aber mir ist sie sicher. Gott sei Dank.« Ein lauernder Nachdruck liegt in dem knappen Bericht, das Auge blickt fest auf den Zuhörer, die Miene ist gespannt. Herr von Andergast wippt leise mit dem rechten, übergeschlagenen Bein und starrt auf die Stiefelspitze. Er befindet sich in Violet Winstons Schlafzimmer und schaut in den Spiegel. Der Spiegel zeigt ihm eine Art von David, der auf der flachen Hand eines Goliath steht und mit der Blendlaterne das schaurig schneckengleiche Gehirn durchleuchtet. Das düstere Staunen von damals mischt sich mit dem gegenwärtigen. Er späht hinüber: der Mensch mit der Flamme der Gewißheit. Er hört die peremptorische Frage (als ob eine Stahlklinge durch die Luft sauste): »Was muß man also daraufhin tun?« – Und er antwortet, steinern kalt: »Nichts.« – Etzel schnellt in die Höhe: »Wie . . . nichts –?« – »Nichts muß man tun. Nichts ist zu tun.« – Etzel kann nicht verhindern, daß er den Mund aufsperrt wie ein Idiot. Er lallt etwas. Hat der Vater den Verstand verloren? – »Jede Aktion erübrigt sich. Der Sträfling Maurizius ist begnadigt.« – Etzel, mit Augen wie Mühlräder: »Begnadigt? Be–gna–digt –?« – Schlaffes Nicken drüben. »Durch Gnadenerlaß der weiteren Strafhaft entbunden.« – Etzel muß lachen. Er weiß, es ist respektlos, doch er kann sich nicht helfen, er muß lachen. »Gnadenerlaß . . . aber ich sage dir doch, er ist unschuldig.« – Ein müder Seufzer des Belästigten. »Der Gnadenerlaß beinhaltet diese Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit.« – Tönerne Phrase. Etzel vergißt sich, vergißt die anerzogene Ehrfurcht, er schreit auf: »Wenn er unschuldig ist, braucht er doch die Gnade nicht!« – »Die Unschuld steht nicht mehr zur Debatte«, kommt es scharf zurück, »benimm dich übrigens.« – Etzel erinnert sich seiner guten Erziehung, die er bei Waremme sträflich vernachlässigt hat, wenigstens für kurze Dauer ist die Disziplin stärker als die Empörung. »Ja . . . verzeih . . .«, stottert er, »aber wieso steht die Unschuld nicht mehr zur Debatte, wieso, bitte?« Und er macht desperate, kleine Schulterbewegungen, als wolle er eine unsichtbare Kette zerreißen. – Herr von Andergast läßt sich zu einer Auseinandersetzung herab: »Ich will annehmen, er sei wirklich unschuldig. Ich will es für bewiesen erachten. Ich supponiere, daß wir einwandfreie Beweise dafür in Händen haben –« – »Du kannst es getrost annehmen«, wirft Etzel bebend vor Ungeduld hin, »es ist so.« – »Deine subjektive Überzeugung. Mit der du jedoch den Boden der Wirklichkeit verläßt. Laß mich ausreden. Du fällst mir beständig in die Rede. Deine Manieren sind recht merkwürdig. Ich sage, du unterliegst einem verhängnisvollen Irrtum. Von juristischer Unanfechtbarkeit sind wir weit entfernt. Hast du das Geständnis schriftlich? Mit notariell beglaubigter Unterschrift? Also. Geständnisse können zurückgenommen werden. Es ist sogar die Regel. Es gibt hundert Mittel, sich ihren Folgen zu entziehen. Die seit dem Verbrechen verflossene Zeit schließt verläßliche Recherchen und Feststellungen glatterdings aus. Zeugen; was erlebt man nicht von Zeugen. Das erste Verhör macht sie unsicher, beim zweiten fallen sie um. Frage dich, ob bei den schwankenden Faktoren, die du ins Feld zu führen hast, das Resultat den Aufwand lohnt. Du hast es nicht zu bedenken. Ich habe es zu bedenken.« – Etzel streckt den Arm aus. »Du hast einen andern Satz angefangen, du supponierst, er ist unschuldig, du willst es für bewiesen halten, hast du gesagt . . . nun und was dann?« – »Es würde nichts ändern.« – »Nichts ändern? Ist das dein Ernst? Nichts ändern, wenn du selber von seiner Unschuld überzeugt bist?« – »Nein. Nichts. Da ist eine Schranke, vor der auch unsere Überzeugung haltzumachen hat.« – »Aber es handelt sich um was Ungeheures! Um das Allergrößte auf der Welt, um Gerechtigkeit!« ruft Etzel, der nun vollständig die Fassung verloren hat, »ein Urteil kann man doch für ungültig erklären. Wenn man auch die Strafe nicht ungeschehen machen kann, das Urteil kann man doch umstoßen, die Ehre kann man, muß man dem Menschen doch zurückgeben. Und nicht bloß die Ehre . . . was ist denn die Ehre . . . was hat er, was haben wir davon . . . Gerechtigkeit ist wie Geburt. Ungerechtigkeit ist Tod. Man muß sich rühren . . . Ihr könnt nicht so zusehn . . . Das wäre ja sonst . . . soviel ich weiß, gibt's ein Wiederaufnahmeverfahren . . .!« Herr von Andergast dreht den Kopf wie eine hölzerne Puppe. »Laiengerede«, entgegnet er dumpf-widerwillig. »Wir haben uns zu hüten. Wir, die die Verantwortung tragen, dürfen nicht leichtsinnig umspringen mit Recht und Rechtsprechung. Wiederaufnahmeverfahren . . . Kindskopf, du ahnst nicht, was das bedeutet. Man mobilisiert nicht eine Armee, um einen gestürzten Baum aufzurichten, der zudem gar nicht mehr lebens- und wachstumsfähig wäre. Einen gewaltigen Apparat in Bewegung setzen, die Welt alarmieren, den alten, totgehetzten Streit von neuem entfachen . . . wo denkst du hin. Unter anderem: wäre der Meineid nicht verjährt, so müßte nach der Vorschrift des Gesetzes der Prozeß gegen diesen Waremme durch sämtliche Instanzen geführt und seine Verurteilung zu Recht bestehen. Bis dahin würden Jahre vergehen. Ich führe das nur an, damit du siehst, wie kompliziert diese Dinge sind. Die Verjährung brauchte natürlich kein Hindernis zu sein. Außerdem aber . . . es sind Rücksichten zu nehmen, schwerwiegende Rücksichten, Existenzen stehen auf dem Spiel, der Staatskasse wären enorme Kosten aufzubürden, das Ansehen des einschlägigen Gerichtshofes wäre geschädigt, die Institution als solche der zersetzenden Kritik preisgegeben, die ohnehin die Fundamente der Gesellschaft unterminiert . . . Laß ab von. der Vorstellung, daß Gerechtigkeit und Justiz ein und dasselbe sind oder zu sein haben. Sie können es nicht sein. Es liegt außerhalb menschlicher und irdischer Möglichkeit. Sie verhalten sich zueinander wie die Symbole des Glaubens zur religiösen Übung. Du kannst mit dem Symbol nicht leben. Doch in der strengen und gewissenhaften Übung das ewige Symbol über sich zu wissen, das . . . wie soll ich sagen, das absolviert. Eine solche Absolution ist natürlich notwendig. Daß man sich mit ihr beruhigt, ist gleichfalls notwendig.«
Ein Vortrag. Lehrvortrag. Als die Stimme schweigt, wird es erschreckend still im Raum. Etzel blickt eine Weile mit zusammengepreßten Lippen vor sich nieder; auf einmal schreit er schrill: »Nein!« Die Augen funkeln böse. »Nein!« schreit er abermals, »damit kann ich und damit will ich nicht leben.« Sein ganzer Intellekt fängt Feuer. Die Respektschranke bricht zusammen. »Das erkenn ich nicht an«, stammelt er in einer Erbitterung, die sich wie Betrunkenheit äußert, »Symbol . . . Übung . . . was denn . . . faule Ausreden . . .« Ein abermaliges donnerndes »Benimm dich!« findet ihn taub. Nein, er anerkennt es nicht. Der Mensch besitzt ein Urrecht, in seiner Brust, ein mit ihm geborenes. Teil hat jeder an der Gerechtigkeit, wie er teilhat an der Luft. Raubt man ihm die, muß die Seele ersticken. »Ich erkenn's nicht an, das andere, ich will's nicht, ich glaub's nicht. Schlauheit der Kaste. Komplott. Angst der Priester um den Zinsgroschen. Religiöse Übung? Wieso? Was hat das mit Religion zu tun, daß man den Unschuldigen verderben läßt, weil's die Übung ist und das Symbol nur so drüber hängt wie der Helm über einem grinsenden Schutzmannsgesicht . . .« Er nimmt es nicht an. Davon sagt er sich los. Lieber nicht leben. Lieber die Welt in Fetzen als in solcher Gemeinheit. »Nein . . . nein . . . nein . . .«
Ungeheuerlich, denkt Herr von Andergast. Er ist wie gelähmt. Er hat das Gefühl, jemand halte seinen Kopf über einen Kessel mit kochendem Wasser. Mühselig erhebt er sich. An den Hals greifend, erklärt er mit mühseliger Trockenheit: »Die Unterhaltung ist im übrigen gegenstandslos, da Maurizius die Begnadigung angenommen hat. Und zwar ohne Vorbehalt.« Etzel macht zwei sprungartige Schritte ins Zimmer hinein. Er faltet die Hände in der Höhe der Augen und drückt sie flach gegen den Mund. »Angenommen? die Begnadigung angenommen?« flüstert er scheu. – »Ohne Vorbehalt. Wie ich sagte.« – »Und lebt weiter? Läßt die Ungerechtigkeit auf sich sitzen? schweigt? lebt weiter ?« – Herr von Andergast zuckt die Achseln. »Der Mensch, wie du siehst, kann alles.« – Ein wildes Lächeln bewegt Etzels Lippen. »Das seh ich, daß der Mensch alles kann«, entgegnet er mit frechem Doppelsinn, »der eine kann die Wahrheit verschwinden machen, der andere kann dran verrecken.« – »Junge!« brüllt Herr von Andergast. – »So weit habt ihr ihn also gebracht«, fährt Etzel in maßloser Verzweiflung fort (alles, was er unternommen, ist ja nun vergeblich unternommen, alles, worauf er felsenfest gebaut, stürzt ins Nichts hinunter). »Das habt ihr erreicht mit den Paragraphen, mit den Klauseln, mit der Vorsicht und der Rücksicht . . . Dazu soll man noch das Maul halten . . . Wenn er weiterlebt, verdient er nichts Besseres . . . vielleicht hat er sich auch schön bedankt, der Maurizius, für den Fußtritt, mit dem ihr ihn aus dem Zuchthaus hinausbefördert habt. Vergelt's Gott für die neunzehn Jahre Zuchthaus, was? . . . Weißt du denn nicht, wer geschossen hat, damals? Natürlich weißt du's. Deswegen wahrscheinlich die Begnadigung . . . Ich glaub, ich kann's nicht mehr mit ansehen, alles . . . Gnade . . . wo ist der Richter, daß man ihm seine Gnade ins Gesicht spuckt . . . wie soll ich mich denn je wieder unter Menschen blicken lassen . . . das ist der Bub vom Andergast, werden sie sagen, der Alte hat dem Maurizius zur Begnadigung verholfen, der Junge kuscht dazu, die stecken alle zwei unter einer Decke . . . Fein. Gediegen. Schöne Welt. Großartige Welt. Wenn man doch auf der Stelle krepieren könnte . . .«
Er stöhnt, als ob der Erdboden unter ihm verginge, als ob die Seele den Leib verlassen wolle, voll Bedauern, daß sie sechzehn Jahre und etliche Monate gezwungen gewesen, in so einem kraftlosen, unfähigen, prahlerischen, anmaßenden, geschändeten Gehäuse zu verweilen. Keuchend redet er weiter, aber die Worte verlieren den Zusammenhang. Eingewurzelte Scheu vor dem Vater kann er nicht ganz überwinden, sie hemmt ihn selbst jetzt noch, im äußersten Jammer, er möchte etwas viel Entscheidenderes, etwas Schicksalträchtigeres sagen, aber er kommt nicht auf gegen die Nichtigkeit, Hohlheit, Plattheit und Ohnmacht der Worte, es ist ihm, als wäre sein Gaumen voll trocknem Staub. Er rennt wie närrisch rund um den Sessel herum, die Augen, blutunterlaufen, glitzern tückisch, die Hände fuchteln krampfhaft, er packt die Quaste des Sessels und reißt sie ab, er stopft das Taschentuch in den Mund, beißt die Zähne hinein und zerrt daran, bis es ein Knäuel Fetzen ist. Auf der qualvoll verzogenen Stirn bilden sich sonderbare bläuliche Flecken, er gibt Laute von sich, die ebensogut ein Gelächter wie ein Geheul sein können, dabei tritt er beständig von einem Fuß auf den andern, als habe er den Veitstanz. Das ist nicht mehr der scharmante, beherrschte, vernünftige, besonnene, kleine Etzel, das ist ein Teufel. »Wartet nur«, schäumt er, »das wird euch nicht geschenkt, das werdet ihr büßen, es kommt schon noch die Reihe an euch . . .« Herr von Andergast steht eine Weile erstarrt da. Steinerne Säule. Plötzlich macht er eine Gebärde, um den Knaben zu packen. Er umklammert Etzels Schulter. Der entwindet sich ihm, wobei sich sein Gesicht vor Angst, Zorn und Abscheu verzerrt. »Ich will nicht dein Sohn sein«, bricht es in maßloser Wildheit aus ihm hervor. – »Infamer Bube!« röchelt Herr von Andergast, sieht aber dabei aus wie einer, der was zu erbetteln hat. Etzel läuft zur Eßzimmertür. Herr von Andergast ihm nach. Etzel rennt atemlos durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Herr von Andergast ihm nach. Etzel stürzt in den Korridor. Herr von Andergast ihm nach. Die Türen hinter ihnen bleiben offen. Etzel wirft Stühle um, die ihm im Weg sind. Die Rie steht im Flur, er stößt sie beiseite und rennt zu seiner Stube. Herr von Andergast ihm nach. Seine mächtige Figur, laufend, mit vorgreifenden Händen, hat etwas entschieden Grausiges. Das Ganze hat den Charakter einer grausigen Jagd, sinnlos, gespensterhaft. Die Rie, stumm entsetzt, öffnet den Mund, die Sprache weigert sich ihr. In seiner Stube angelangt, haut Etzel die Tür zu, dreht den Schlüssel um. Herr von Andergast poltert an die verschlossene Tür. Köchin und Stubenmädchen eilen aus der Küche. Man vernimmt aus dem versperrten Zimmer langandauerndes Geklirr von zerbrechendem Glas. Die Rie stößt einen Schrei aus, daß oben und unten im Haus alles zusammenläuft. Mit seiner Riesenkraft stemmt sich Herr von Andergast gegen die Tür, es gelingt ihm, sie zu sprengen. Ein Satz, und er ist im Zimmer. Die Rie folgt händeringend. Auf der Schwelle drängen sich die Andergastschen und die Malapertschen Dienstleute, das Hausmeisterpaar und ein Briefträger, der eben die Post gebracht hat. Etzel steht blutüberströmt am Tisch. Herr von Andergast wankt auf ihn zu, nimmt seinen Kopf zwischen beide Hände. »Wasser, Wasser«, lallt er. Jemand läuft um Wasser. Die Rie faltet betend die Hände.
Was ist eigentlich geschehen? Etzel hat die Scheiben beider Fenster zertrümmert, und nicht nur das, auch den Spiegel an der Schranktür, die Gläser auf dem Waschtisch, die Porzellanvasen auf der Kommode hat er zerschlagen. Tobsüchtiger Zerstörungstrieb. Raserei der Seele. Von Schläfen, Wangen, Nase rieselt das Blut. Er ist einfach mit dem Kopf in die Scheiben gefahren, den Spiegel hat er dann mit den Fäusten bearbeitet, so daß die Hände bis zu den Gelenken zerschnitten, die Kleider über und über mit Blut besudelt sind. Danach ist er auf einmal ruhig geworden, jetzt steht er ruhig am Tisch, betrachtet mit einem Lächeln voll wilder Genugtuung seine Wunden und blinzelt mit den Lidern, weil ihm das Blut über die Augen rinnt. Ja, es ist ihm auffallend still zu Sinn, plötzlich, fast als ob mit dem Blut ein Teil der herzvergiftenden Enttäuschung aus den Adern fließe, er sieht aus wie ein Gestürzter, der sich langsam erhebt und hilflos um sich schaut und nach dem Weg fragt, den er verloren oder verlassen hat. Da, wo er steht, geht's nicht weiter, er schaut sich um und erkundigt sich, wo es weitergeht. Dabei fiel Etzels Blick auf den Vater, etwas wie zögerndes Erstaunen malte sich in seinen Zügen, als ob aus der gewohnten Gestalt, die einen überragt hat, eine andere geworden sei, die gleichsam ein paar Treppen tiefer stand als man selber, zu der man sich sogar ein wenig herabbeugen mußte, um sie zu erkennen. Nicht mehr rätselhaft, nicht mehr Wahrer und Wisser von Geheimnissen, nicht mehr Regent dunkler Schicksale, nicht mehr Trismegistos, sondern niedergebrochener, schuldiger Mensch. Herr von Andergast hatte den Mund halb geöffnet, man gewahrte seine großen Zähne, so, mit halbgeöffnetem Mund, ließ er sich auf den Stuhl nieder, die veilchenblauen Augen traten wie Knöpfe aus den Höhlen, jedes Ausdrucks bar. (Als er am Nachmittag, vom Arzt begleitet, in die Heilanstalt fuhr, sah er noch genau so aus, der Mund halb offen, die vorgequollenen Augen ohne Blick und Ausdruck.) Grübelnd betrachtete Etzel das vor seinen Augen sich förmlich zersetzende Gesicht, und während die Rie daran ging, ihm das Blut von Wangen, Stirn und Händen abzuwaschen, sagte er mit trocken-heller Bubenstimme: »Man soll meine Mutter holen.«
Was auch geschah.
Damit endet der Fall Maurizius, nicht aber die Geschichte von Etzel Andergast.