Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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Siebentes Kapitel

1

Am letzten Tag der Woche, die mit dem Studium der Maurizius-Akten begonnen hatte, kam Herr von Andergast zur Teestunde nach Hause und vernahm, als er über den Korridor ging, leises Sprechen aus Etzels Zimmer. Die Tür war halb offen, er blieb stehen und sah drinnen seine Mutter, die am Tisch saß, und ihr gegenüber die Rie. Sie hatten die alten Aufsatzhefte Etzels vor sich liegen, die Rie hatte sie wohl aus den Schubladen und Regalen zusammengesucht, die Generalin blätterte darin, las hie und da ein paar Zeilen und machte mit halblauter Stimme zuweilen eine Bemerkung. Vielleicht hoffte sie, in den Heften irgend etwas zu finden, was auf den Verbleib des Knaben konnte schließen lassen, einen Zettel, einen vergessenen Brief. Alle ihre andern Bemühungen waren umsonst gewesen. Über dem Zusammensitzen der beiden Frauen hing eine Wolke von Traurigkeit. Die Generalin, in einer altmodischen spitzenbesetzten Mantille, mit einem ebenso altmodischen Stoffhütchen auf dem kleinen Kopf, sah vergrämt aus, sie konnte die Flucht des Enkels noch immer nicht fassen, noch weniger begriff sie, daß er ihr, der er schmeichlerisch seine Zuneigung glauben gemacht, kein Lebenszeichen zukommen ließ. Die Sorge zehrte sie auf. Herr von Andergast sah ihr spitzes kleines Etzelkinn und hörte, wie sie zur Rie sagte: »Verlieren wir den Mut nicht, gute Rie. Ich hab so ein bestimmtes Vertrauen. Das Blöde ist nur, daß ich schon so alt bin. Aber auch das hat seinen Vorteil. Die Menschen, die man liebt, gewöhnen einen durch ihre Abwesenheit nach und nach an den Tod. Es ist ein Training für alte Leute. Es gibt so viel Abwesenheit, und die Welt ist so groß.«

Herr von Andergast, der des Regenwetters halber Gummischuhe anhatte, ging unhörbar zur Flurtür zurück und schritt, ohne den Mantel abgelegt zu haben, wieder die Stiege hinunter und aus dem Haus. Plötzlich war ihm der Gedanke unerträglich gewesen, die Mutter höflich begrüßen zu sollen, in das elegisch zerfurchte, demütig vorwurfsvolle Gesicht der Rie blicken zu sollen, verurteilt zu sein, vor dem mit Amtspapieren beladenen Schreibtisch zu sitzen, bis es Abend wurde, bis es Nacht wurde, als einzige Gesellschaft das Tintenfaß, die Notizhefte, die Stühle, das Sofa, die gräßlichen Bilder an den Wänden und die vor Schweigsamkeit starrenden Bücher.

Er schritt rasch aus, bis er an der Dammheide aufs freie Feld kam. Dort war der Wind von doppelter Heftigkeit, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, die Wassersträhnen stachen wie Pfeile. Da er ohne Schirm war – er bediente sich grundsätzlich nie eines Schirms –, wurde er über und über naß. Er achtete nicht darauf. Es war eine gänzlich menschenverlassene Gegend, kein Haus, keine Hütte im Umkreis. Immer nach ein paar Dutzend Schritten blieb er stehen, atemschöpfend, die Hutkrempe festhaltend, blickte spähend in die Runde, aber seine Aufmerksamkeit galt nicht der Landschaft, dem Unwetter, dem wirbelnden Laub der Alleebäume, dem niedrig ziehenden verwühlten Gewölk, sie war nach innen gerichtet. Auf seiner Stirn malte sich die Anstrengung intensiver Denkarbeit. Die Brauen zogen sich mit jeder Minute dichter zusammen. Nach und nach schien er von der Umgebung überhaupt nichts mehr zu spüren, schien zu vergessen, wo er war, wo er hinging, und bisweilen sprach er Bruchstücke von Sätzen, abgerissene Überlegungen laut vor sich hin, was so von seiner Art und Gepflogenheit entfernt war, daß sich dabei der Ausdruck des Gesichts veränderte und wie aufgepflügter Boden die starre Kruste verlor.

2

Er kann sich nicht darüber täuschen: das logische Maschenwerk klafft. Damit setzen die Erwägungen ein. Bis zu einem gewissen Grad will er es entschuldbar finden, das Material war erdrückend, vom ersten Augenblick an hat man nur die eine, einzige Richtung verfolgt, eine alte kriminalistische Erfahrung schreibt jedem Verbrechen seine besondere Suggestion zu. An Justizirrtum ist nicht zu denken. In dieser Sache nicht. Sollte sich ein Fehler in dem Gewebe zeigen, jetzt, nach so langer Zeit, so wäre unter der Hand zu recherchieren. »Auf keinen Fall ein offizieller Schritt.« Die Augen der Welt auf das verjährte, abgeschlossene Verfahren zu lenken wäre eine lästerliche Dummheit. »Wenn ich sage: die volle Wahrheit ist vielleicht noch nicht aufgedeckt, so habe ich schon zuviel gesagt. Vielleicht . . . nun ja . . . vielleicht . . . wir werden sehen . . .«

Er kniff die Lippen zusammen und bohrte den Blick in die triefende Krone einer Ulme. Daß man den Gregor Waremme auch nach dem Urteilsspruch noch hätte beobachten sollen, wenigstens eine Zeitlang, will er zugeben, obschon das eine rein polizeiliche Maßregel gewesen wäre. Aber hätte man sich damals um das Nachher gekümmert, kümmern dürfen, so hätte man wahrscheinlich wünschenswerte Aufschlüsse über das Vorher seines Lebens erhalten. Dies letztere ist versäumt worden, unbegreiflicherweise, wie Herr von Andergast jetzt konstatiert, über die Vergangenheit des Mannes war nichts bekannt, sie wurde gar nicht erwähnt. Schließlich warum auch? Das Gericht jedenfalls hatte eine solche Verpflichtung nicht, auch das Interesse nicht. Dem Gericht ist der Kronzeuge kostbares Gut, seine Glaubwürdigkeit aus eigenem Antrieb zu erschüttern, wird es sich hüten. Mit Waremme, genau genommen, stand und fiel die Causa. Ohne ihn wäre man, namentlich bei dem starrsinnigen, dem vollkommen verrückten Leugnen des Täters, zu einem gedeihlichen Ende nicht oder nur schwer gelangt. (»Gedeihliches Ende« hieß natürlich: Schuldspruch und Aburteilung.)

»Zweifellos, da sind schwache Punkte. Untersuchen wir in Ruhe die schwachen Punkte!« Herr von Andergast mäßigt seinen ungestüm ausgreifenden Schritt, um die schwachen Punkte zu sammeln. Es müssen ihrer mehr sein, als er vermutet, denn nach einer Weile pressen sich seine Lippen noch fester aufeinander. In dem Verhältnis Waremme–Anna Jahn fehlt jede befriedigende Aufklärung. Es muß sich zwischen ihnen bereits in Köln etwas ereignet haben, was auf ihre Beziehung einen Schatten geworfen hat. Das Einlernen der Rolle unter seiner Führung, ihre krankhafte Aversion gegen Theater und Theaterspiel noch ein Jahr später, niemand hat danach geforscht. Keine Andeutung, von welcher Beschaffenheit die Freundschaft war, ob sie eine erotische Grundlage hatte, ob an eine künftige Ehe gedacht war. Die eine Bemerkung gegen Elli Maurizius, er werde ihr binnen kurzem den schlagenden Beweis ihrer Unschuld erbringen, beweist nichts. Was bedeutete »Unschuld« in seinem Mund, was mochte ein Mensch wie dieser sich dabei denken? Man müßte wissen, wie sich die Dinge nach 1906 zwischen den beiden gestaltet haben. Aber da überzieht absolute Finsternis die Szene. Ist das Urteil gefällt, so verschwinden die Akteure vom Schauplatz. Das Gesetz kennt nur den Fall an sich, das erneute Leben hinterher darf es nicht antasten. »Was ich selbst als Privatperson weiß, darf ich nicht wissen.« Aber Herr von Andergast als Privatperson kennt nicht, notiert nicht das Tun und Lassen von Verurteilten und Zeugen, er verhält sich darin wie ein chemischer Stoff, der einen andern Stoff nur in einem bestimmten Aggregatzustand auf sich einwirken läßt. Er erwägt: Hätte eine mehr als freundschaftliche Intimität zwischen Waremme und der Anna Jahn bestanden, so wäre jener doch energischer gegen die Behelligungen aufgetreten, die sie von ihrem Schwager zu erdulden hatte. Andererseits besucht er sie ganz formlos in ihrer Wohnung, holt sie zu Festlichkeiten, zu sportlichen Unternehmungen ab, macht sich entschieden zu ihrem Kavalier und Beschützer. Räumt sie ihm dieses Recht nicht ein, so ist wieder unerklärlich, daß sie nach dem letzten schlimmen Auftritt mit Elli durch ihn bestimmt wird, in das Haus der Schwester zu ziehen, um sie zu betreuen, gewissermaßen in die Höhle des Löwen. Man müßte rein annehmen, daß sie des freien Willens beraubt war, um die krasse Schmähung, die sie von Elli erfahren, über Nacht zu vergessen. Und wie sieht es denn mit ihren Vermögensumständen aus? Trostlos, ohne Frage. Sie leistet ihm Sekretärinnendienst, dafür wird er sie wahrscheinlich entlohnt haben; hat er das nicht, war es nur ideale Hilfe von ihrer Seite, so muß man erst recht an ein nahes Verhältnis glauben. Was sie allerdings strikt in Abrede stellt. Wer gibt ihr die Mittel zu ihrer Existenz, da sie doch das Leben einer Dame führt? Wer bezahlt das luxuriöse Quartier? Leonhart? Er hat es geleugnet. Waremme? Es ist nicht erörtert worden. So oder so, eine bedenkliche Situation, gewiß keine eindeutige. Aber weiter. Da sie die Veranlasserin des Zerwürfnisses zwischen den Ehegatten ist und es unbedingt wissen muß, auch wenn sie sich schuldlos fühlt und vermutlich nicht am wenigsten darunter leidet: warum bleibt sie? Wenn sie den hartnäckigen Verfolger verabscheut, warum empfängt sie ihn immer wieder? War sie des Menschen überdrüssig, der ihren Ruf gefährdet, warum zeigt sie sich mit ihm an öffentlichen Orten? Wenn er im Haus der Schwester, seiner Frau, sich zu schamlosen Angriffen hinreißen läßt, so daß sie vor Verachtung und Empörung außer sich gerät, warum nimmt sie den Verkehr mit ihm wieder auf? Telephoniert, besucht seine Vorlesungen, hat seine Photographie mit einer, wie man gestehen muß, recht stürmischen, recht unmißverständlichen Widmung im Schreibtisch liegen? Sie hat sich seiner nicht zu erwehren vermocht, behauptet sie, hat quasi gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, damit er nicht vollkommen den Kopf verliert und sie, Elli, sich selber in seiner Raserei ins Verderben reißt. Ist das plausibel? »Damals schien es uns plausibel genug. Herr des Himmels, ein neunzehnjähriges Kind, unerfahren bis zur Mitleidswürdigkeit, oft verstricken sich gerade solche, gerade durch ihre tiefe Unschuld, möglicherweise schmeichelt ihr die von ihr entfachte Leidenschaft, sie wärmt sich an dem Feuer, das sie entzündet hat, wer kennt die Weiber . . .« Herr von Andergast schüttelt unwillig den Kopf. Es ist ein zu laxer Standpunkt, will ihn dünken. Sie hätte die Stadt verlassen müssen; den Vorwurf kann man ihr nicht ersparen, daß sie blieb, der verbrecherischen Begierde täglich frische Nahrung bot, lieber hätte sie bei Nacht und Nebel davonlaufen sollen, lieber ins Ungewisse, lieber in die Armut, als noch länger die tödliche Zwietracht der Eheleute schüren, unfreiwillig, nehmen wir an. Aber wie, wenn sie doppeltes Spiel gespielt hat? Wenn die beiden Männer bloß Schachfiguren für sie waren? Oder wenn . . . gehen wir in den Unterstellungen bis zur letzten ausdenkbaren Möglichkeit, wenn sie mit Waremme im Einverständnis gewesen ist, die Entwicklung planmäßig zur Katastrophe getrieben hat? Ist eine solche Hypothese zulässig? Nein. Sie ist nicht zulässig. Sie ist auf keine Weise zulässig. Es ist eine abgeschmackte, eine romanhafte Hypothese. Mit derartigem Anwurf trauten sich damals die frechsten Verleumder nicht heraus, davor scheuten sogar die geschäftigsten Reinwascher des unseligen Maurizius zurück. Immerhin, lassen wir uns mal an diesem Zwirnsfaden in den Abgrund hinunter, setzen wir den Fall, es wäre so gewesen, da hätten doch die beiden sicher sein müssen, daß die achtzigtausend Mark, die Elli im Vermögen hatte, denn um die konnte es sich dann nur handeln, daß die der Anna Jahn zufielen. Wie war das mit dem Testament? Herr von Andergast beschließt, sich über das Vorhandensein und den Wortlaut des Testaments zu orientieren. Allerdings, gab es ein Testament nicht, und war der Ehemann als Mörder der Erblasserin wegen Erb-Unwürdigkeit von der Erbschaft ausgeschaltet, so war die Schwester, da die Ehe kinderlos geblieben, die rechtmäßige Erbin. Doch so weit können wir uns nicht versteigen. So tief in den Abgrund hinunter: nein. Da hätten sie in einer Berechnung, die der menschlichen Voraussicht spottet, mit absoluter Gewißheit erwarten müssen, er werde den Hals so in die Schlinge stecken, daß der Strick nur noch zugezogen werden mußte, da hätte alles, Delikte, Indizien, Zeugen, alles hätte am Ende klappen müssen wie das Schlagwerk eines Chronometers. »Unsinn. Verdammter Unsinn. So was gibt es nicht. Davon hätten wir was merken müssen. So fein gewebt wird grob und fängt den Weber . . .«

Herr von Andergast blieb stehen. Über sein Gesicht breitete sich, entweder von der Anstrengung des Gehens unter dem Anprall des Sturms oder von der Wucht der ihn überfallenden Gedanken, eine ungesunde Röte aus, an der Stirn schwollen die Adern wie dunkelblaue Schnüre, und in den finster verengten Augen zeigte sich ein ihnen bis jetzt unbekannt gebliebener Schrecken.

Waremmes Bild, nicht länger abzuweisen, lebt in seiner Erinnerung auf. Er sieht ihn deutlich vor sich. Die kühne Stirn, der schräg in den Raum fixierte Blick, der ausladende Raubfischkiefer, alles von Brutalität förmlich durchschmolzen, der großdimensionierte Kopf mit den kurzen Borstenhaaren, die etwas feiste Gestalt. Dem Widerpart zu halten war ein Kerl von anderm Kaliber nötig als der dünn-nervige Hampelmann Maurizius. Trotzdem sprechen seine Vertrauten von schweren Neurosen, Depressionen und Weinkrämpfen, denen er nicht selten ausgesetzt sei. Man kann es glauben. Dieser Körper, der trotz seiner normalen Maße mächtig wirkt, mag eine Behausung zerstörerischer Funktionen sein wie bei Menschen, die ein ganz anderes Alter gegen die Zeiten hin haben als in der einen Zeit, in der sie leben. Er nennt sein Alter: neunundzwanzig, aber es ist, als wäre das eben bloß Zufall des Geburtsscheins. Wenn er zu reden beginnt, auch bei der gleichgültigsten Phrase, horcht alles auf. Das Zwingende liegt weder in der Stimme noch in der Wahl der Worte, sondern in der Genauigkeit des Ausdrucks, der Überlegenheit der Haltung. Das Auditorium hat das Gefühl: der versteht's, wie wenn es bisher nur Stümper an der Arbeit gesehen und nun einen Meister vor sich hätte. Zwischen ihm und allen übrigen Zeugen ist ein Unterschied wie zwischen armseligen Fragmenten und einem plastischen Ganzen. Sein Auftreten ist derart, daß sich der Vorsitzende sofort sichtlich zusammennimmt und der Verteidiger, der hilflose Dr. Volland, den Anblick einer geplatzten Null bietet. Aussichtslos die Versuche, wie sie da gegen die Belastungs-, dort gegen die Entlastungszeugen gebräuchlich sind, mit spöttischen Bemerkungen, leutseligen Fangfragen, triumphierender Entdeckung von Widersprüchen, die damit entschuldigt werden müssen, daß man »schlecht gehört« und sich »geirrt« habe oder daß der Untersuchungsrichter sich »verhört« oder »geirrt« habe; da bedarf es keiner Ermahnungen, keiner Gedächtnisnachhilfe, keines jener klippenreichen Kreuzverhöre, die schließlich Nähterinnen, Kutscher, Briefträger, auch Leute aus dem höheren Bürgerstand zum Zittern und Straucheln bringen können, hier aber gänzlich fehl am Orte wären, denn Waremme ist so sachlich, so kühl, so nüchtern wie Wasser. Während seiner Vernehmung kann Herr von Andergast nicht umhin, sich zu sagen: Gott sei Dank, daß er nicht auf der Anklagebank sitzt, dem wären wir nicht gewachsen. Der Verhandlungsleiter wird von Frage zu Frage höflicher, respektvoller, im Saal wird es so still, daß das Summen des Ventilators überm Fenster unerträglich störend ist. Jedes Wort ist ja nun entscheidend. Auf die Frage des Vorsitzenden, was seine Meinung über das Verhalten des Angeklagten vor der Verhaftung sei, erwidert Waremme, er glaube der Billigung des Gerichtshofes sicher zu sein, wenn er antworte, eine Meinung zu äußern stehe ihm nicht zu, er habe ausschließlich die Pflicht, Wahrnehmungen mitzuteilen und Tatsachen zu bezeugen. Man nimmt es hin, sonderbarerweise fügt man sich geradezu, obwohl es wie eine Zurechtweisung klingt. Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworene, alle sind ihm gleichsam subordiniert, er selbst wird durch die bloße Gegenwart richterliche Instanz, und so gewinnt seine Aussage das Gewicht eines Urteils. Die Erschütterung in seinen Zügen überträgt sich auf die ganze Versammlung, man begreift, er sträubt sich, den Unglücklichen, der sein Freund war, dem Henker zu überliefern, doch Wissen und Augenschein sind stärker, der Eid ist gebieterischer, so hab ich's gesehen, so und so hat sich's zugetragen, hier steh ich, ich kann nicht anders. Und hinter ihm Leonhart Maurizius, das Gesicht in transparenter Blässe leuchtend, betrachtet ihn mit Augen, die von tödlichem Entsetzen weit werden, springt auf, streckt beschwörend die Hände aus, Waremme wendet sich ihm zu, plötzlich wankt er, Justizsoldaten fangen ihn auf, er verliert das Bewußtsein. Er, nicht Maurizius! Diese Szene macht ungeheuren Eindruck und wirkt wie eine geisterhafte Bekräftigung der Aussage . . .

Herr von Andergast blieb abermals stehen, zog das Taschentuch aus der inneren Rocktasche und wischte sich das Gesicht ab. Das Tuch war im Augenblick zum Auswinden naß. Sein Bart war wie ein Schwamm im Wasser. Die Lider waren geschwollen, er konnte sie nur schwer öffnen. Von alledem nahm er keine Notiz.

Den Charakter des Gregor Waremme gründlich zu erforschen, hätte sicher zu interessanten Resultaten geführt, setzt Herr von Andergast seine grüblerischen Überlegungen fort und kämpft sich wieder in den Sturm hinein. Von seinen Hintergründen haben wir nichts kennengelernt, von der Oberfläche nur, was ihm beliebte zu zeigen. Es war eine Atmosphäre von Dunkelheit um ihn und eine theatralische Plötzlichkeit in seinem Auftauchen und Verschwinden. Man hat nichts mehr von ihm gehört. Seltsam. Ein so bedeutender Kopf, ein solcher Wille, solche Wirkung, von solchen Erwartungen getragen, und nach einer kurzen Gastrolle spurloser Abgang. Äußerst merkwürdig, ein Phänomen der Zeit. Ob es ernst zu nehmen ist, was der alte Maurizius in seinem Gesuch vorbringt: daß er seinen gegenwärtigen Aufenthalt ausfindig gemacht habe? Bei diesem Gedanken verweilt Herr von Andergast, er führt ihn zu einem Entschluß, den er laut vor sich hinspricht: »Muß mir den Alten bei nächster Gelegenheit kommen lassen. Nicht zu begreifen, daß ich es bis jetzt versäumt habe. Ist scharf zu verwarnen. Toll, was sich der Bursche an tückischen Verdächtigungen der Anna Jahn leistet . . .«

Anna Jahn . . . Die Gestalt erscheint, er macht eine Geste in die Luft, als wolle er sie bitten, noch ein wenig zu warten, er werde sich bald mit ihr beschäftigen. Einen Augenblick Geduld, scheint er zu sagen. Waremme hat ihn ja beinah restlos überzeugt, genau wie damals, das Gesamtbild läßt nichts zu wünschen und zu fragen übrig; vertieft man sich aber in die Einzelheiten, so verwirren sich auf einmal die Linien dennoch, und alles gerät ins Gleiten. Ad eins: Wo ist der Revolver hingekommen? Hat Leonhart Maurizius einen Browning vor der Tat besessen? Man hat es nicht nachweisen können. Waremme hat gesehen, wie er ihn aus der Manteltasche holte. Er hat ihn zielen sehen. Er hat gesehen, wie er die Waffe fortgeschleudert hat. Man hat sie aber niemals gefunden, im Garten nicht, hundert Meter im Umkreis nicht. Theoretisch ließe sich unter solchen Umständen denken, daß jemand von außen her geschossen hat, eine Möglichkeit, die uns der Herr Verteidiger sattsam vorgerückt hat. Aber wer soll geschossen haben? Wer in aller Welt? Ad zwei: Was ist geschehen, als Maurizius in den Garten kam? Elli konnte ihn nach dem zweiten Telegramm, worin er das erste widerrief, nicht mehr erwarten. Von wem hat sie erfahren, daß er kam? Selbstverständlich von Anna. Die Depesche an Anna, in der er sie bat, ihn vom Bahnhof abzuholen, hat er nicht widerrufen, entweder weil er den Kopf verloren und es schon vergessen hatte oder weil er insgeheim hoffte, sie würde vielleicht doch kommen. Also Anna, die vermutlich sofort begriff, daß das zweite Telegramm an Elli eine Falschmeldung war, durch die er Zeit gewinnen wollte, hat die Schwester von seiner bevorstehenden Ankunft unterrichtet. Schön. Das Telegramm, das er ihr sendet, läßt sie unerwidert, beachtet es auch nicht weiter, sichert sich vielmehr vor der Rückkehr des Gefürchteten den Beistand ihres Freundes. Ganz einleuchtend. Ganz logisch. Warum aber geht sie nicht fort? Es wäre das Einfachste. Sie braucht ja nur das Haus zu verlassen, sich zu irgendwelchen Bekannten in die Stadt zu begeben. Warum bleibt sie? Bleibt, bleibt, wieder und wieder? Ist es ihre Absicht, daß er nur Elli vorfindet, daß Elli ihn empfängt, voll Sehnsucht und Unruhe, wie sie ist, da er sich vor der Abreise nicht einmal von ihr verabschiedet hat, na, dann konnte sie nichts Klügeres tun, als sich aus dem Staub zu machen, und es bestand nicht die geringste Notwendigkeit, Waremme herbeizurufen. Darauf wird erwidert: sie muß die Schwester behüten, sie kann Elli in ihrer an Wahnsinn grenzenden Erregung nicht allein lassen. Wenn das nur stimmte! Versöhnung zwischen den Schwestern hat allerdings stattgefunden, aber sie scheint nur von kurzer Dauer gewesen zu sein, oder Elli konnte den Anblick der Rivalin doch nicht ertragen, denn nachdem sie den ganzen Nachmittag dagelegen und hemmungslos geweint und geschluchzt hat, läutet sie dem Mädchen Frieda, fleht sie an, ihr Gesellschaft zu leisten, es sei ihr so gräßlich bang. Während derselben Zeit spielt Anna unten Klavier. Herr von Andergast entsinnt sich, daß ihn diese Tatsache schon damals befremdet hat. Sie erklärt es ja einigermaßen plausibel mit ihrer Verstörtheit; oben die beinahe unzurechnungsfähige Schwester, sie unten, allein, schaudernd vor der Ankunft des verzweifelten Menschen, dessen Versuche, Geld aufzutreiben, wie zu vermuten, kläglich gescheitert sind. So spielt sie den Karneval von Schumann und hat dabei Schreckvisionen von verdächtigen Gestalten, die ums Haus lungern. In ein paar Minuten wird Leonhart dasein, sie hält es nicht mehr aus, stürzt ans Telephon und beschwört Waremme, zu kommen. Ganz gut, ganz gut, nur könnte es aussehen, als habe Waremme auf den Ruf gewartet. Da klappt alles zu gut. Man könnte auch den Verdacht schöpfen, daß Elli in der allerletzten Sekunde alarmiert worden ist, und die Frage des Verteidigers an die Jahn war nicht aus der Luft gegriffen, wie sie es erkläre, daß Elli trotz ihres leidenden Zustandes, trotz der Herzkrämpfe, an denen sie seit dem Morgen litt, Zimmer und Haus verließ, um ihrem Gatten entgegenzugehen, nicht nur entgegenzugehen, entgegenzufliegen. Es war ein kritischer Moment, die Geschworenen hoben die Köpfe, die Bemerkung des Vorsitzenden, Fräulein Jahn sei wohl kaum imstande, darüber Auskunft zu geben, da sie doch nicht als Krankenpflegerin bei der Schwester gedient habe, erregte Unwillen im Publikum. Aber da war dann der alte Gottlieb Wilhelm Jahn, ein Onkel der Schwestern, zur Zeugenaussage über seine Nichten berufen, der auf die Stimmung der Geschworenen großen Einfluß übte, als er, gegen die Anklagebank gekehrt, mit erhobener Hand ausrief: Der Elende hat nicht bloß die eine leiblich gemordet, sein Weib, seinen einzigen Freund im Leben, sondern auch die andere geistig und in der Seele; der Fluch der ganzen Menschheit trifft ihn. Als er das sagte, der alte Herr mit dem riesigen weißen Bart, faltete Anna die Hände und schloß die Augen. Es war, wie die Ohnmacht Waremmes, einer der großen Momente des Prozesses.

Herr von Andergast ging schneller, mit weitausholenden Schritten. Er erinnert sich an die Schönheit des jungen Mädchens, die auch ihn damals faszinierte. Es ist, als wär's gestern gewesen, wie sie dastand im engen, schwarzen Kleid mit der weißen Halskrause und den weißen Spitzenärmeln über den schlanken, blassen Händen. Er hatte kurz vorher eine Reproduktion der Maria Stuart von Clouet gesehen und entsinnt sich noch genau, wie verblüfft er über die Ähnlichkeit war, die Anna Jahn mit dem Bildnis hatte. Der schmerzliche Mund, die Augen, »deren Blick kein Ende hatte«, wie ein Journalist damals aufgeregt schrieb, der Adel der Bewegung, die Zartheit der Figur, man konnte es nicht vergessen. Frevel, zu glauben, solch ein Wesen könne von Lüge auch nur wissen; die lebte in einer Welt für sich, hineingefroren in ein unnahbares Element. Gerichtshof und Geschworene sahen eine Märtyrerin in ihr. »Sie hob sich von dem Prozeß ab wie eine weiße Blume von einem schwarzen Vorhang«, schrieb derselbe aufgeregte Journalist. Außerdem, juristisch betrachtet, war sie sozusagen die Achse des Beweisverfahrens; hätte Herr von Andergast die verschieben lassen, so schwand ihm der Boden unter den Füßen. Es kam ja auf Gottes weiter Welt nur ein einziger möglicher Täter in Frage. Absolut niemand außer ihm. Kein Mitschuldiger, kein Vertrauter. Wo wären die zu suchen gewesen? »Daraus folgt unweigerlich, daß uns, daß mir der Weg vorgezeichnet war wie mit einem diamantenen Griffel . . .«

Er setzte sich gegen einen Windstoß zur Wehr, als sei es der letzte Ansturm seiner Zweifel, und sagte stehenbleibend: »Daher ist auch das Urteil nicht anfechtbar. In keinem Punkt.« Und nach ein paar Schritten, wieder stehenbleibend: »Ich übernehme jede Verantwortung.« Und abermals nach ein paar Schritten, fast schreiend: »Nein, das Urteil ist nicht anfechtbar.«

Aber das Diktum, so abschließend es klang, erstickte nicht den schüchternsten der Zweifel. Der Schrecken in seinem Auge weitete sich wie ein Tintenfleck auf einem Löschblatt. Er wich innerlich dem Schrecken aus, er ging mit seinen Gedanken scheu um ihn herum. Es war Unaufrichtigkeit gegen sich selbst, und er empfand sie quälend wie eine Störung des Lebensgleichgewichts. Als Kind hatte er, mit wachsender Abneigung, eine Wanduhr gesehen, wochenlang jeden Tag, deren Pendel einen unregelmäßigen und fehlerhaften Ausschwung hatte. Daran mußte er fortwährend denken. Auf der Rödelheimer Straße rief er ein leeres Auto an und fuhr in die Stadt zurück. In halbschlafähnlichem Zustand, bis auf die Haut naß, lehnte er in der Wagenecke. Wo mag der Junge sein? schoß es ihm plötzlich durch den Sinn. Die Gedanken gehorchten nicht mehr. Es war eine Sekunde, wo er den Wunsch mancher Kinder begriff, krank zu werden, damit sie nicht in die Schule müssen. Wozu hätte es ihm aber dienen sollen, krank zu sein? Was gab es für ihn anderes als die »Schule«? Ja, er konnte sich in sein widerliches Schlafzimmer zurückziehen wie in eine entlegene Höhle, von Zeit zu Zeit würde die widerliche Rie an sein Bett trippeln, und nicht einmal die kleine Violet würde er zu sich rufen können . . .

3

Violet Winston war eine junge Kalifornierin, die er vor drei Jahren, nach einem Herrendiner, im Russischen Hof kennengelernt hatte. Sie saß in der Hotelhalle und mühte sich umsonst, einem Kellner irgend etwas begreiflich zu machen. Herr von Andergast leistete Übersetzungshilfe. Sie war erst vor ein paar Tagen von drüben gekommen, wollte auf dem Sternschen Konservatorium studieren, kannte keine Seele in der Stadt, stand ganz allein in der Welt und hatte noch für ein halbes Jahr Geld zum Leben. Sie wurde seine Freundin, und er mietete ihr, sehr weit von seinem Hause, eine bescheidene Wohnung am Pestalozziplatz, wo sie ihn, zwei- bis dreimal im Monat, empfing. Das Verhältnis war von tiefster Heimlichkeit umgeben; dank der rigorosen Vorsicht des Herrn von Andergast war bis jetzt alles Gerede vermieden worden.

Reizvolle Aufgabe, sich nach dem Charakter eines Mannes, den man kennt, das Bild seiner Geliebten zu konstruieren. In vielen Fällen wird sich das Richtige annähernd treffen lassen, ohne daß man sich zu billig im Gegensätzlichen ergeht oder simple Anziehungen schematisiert. Doch wenn erwogen wird, daß, wie in diesem Fall, die Finsterkeit in einem Menschen nicht erotisch gelöst, nicht einmal seelisch vom andern Teil aufgenommen werden kann und daß eine fortgeschrittene Vereisung nur noch Vorwände des Lebens kennt, seine Wärme nicht mehr, seine Gestalt nur dem Scheine nach, so wird die Wahl, die Herr von Andergast mit der jungen Amerikanerin traf, nicht überraschen. Sie bot ihm nichts, sie war ihm nichts, denn sie hatte nichts zu geben, sie war selber – nichts. Und eben dieses Nichts brauchte er. Geist, Pikanterie, Laune, Bildung, was sollte ihm das bedeuten, da er doch weder Erregung noch Erhöhung suchte, kaum das, was man Zerstreuung nennt, sondern eine Art Ruhegelegenheit, die ihm, wenn das Bedürfnis sich meldete, auch nebenbei erlaubte, als männliches Wesen zu existieren, und die mit Ignoranz und Banalität eher vereinbar war als mit erlesenen Eigenschaften. Er lebte ja seit zehn Jahren ehelos, und er wußte, daß die Wünsche des Körpers sich auf die Dauer nicht ersticken lassen ohne Gefährdung des geistigen Gleichgewichts. Er war ein unverbrauchter Mann. Der ergraute Bart, der kahle Schädel: Merkmale der Jahre, keine inneren des Abstiegs und der Schwäche. Aus einem Geschlecht stammend, dessen Männer und Frauen in strahlender Rüstigkeit achtzig, neunzig Jahre alt geworden waren, besaß er noch die physische Frische derer, die sich niemals einer Ausschweifung schuldig gemacht haben und einen unerschöpften Vorrat von Kräften in sich wissen. Nach der Trennung von Sophia hatte er auf jedes Attachement, auf jede Erwartung in bezug auf Frauen verzichtet. Er schloß derlei Empfindungen einfach aus seinem Leben aus. Aber es war nicht das Prinzip allein, das ihn so handeln ließ. Er hatte eine Erfahrung gemacht, die seinen Stolz fast tödlich verwundet hatte. Die Wunde war noch nicht geheilt, sie konnte niemals heilen. Unmöglich, daran zu denken, ohne daß das Blut in seinem Herzen sich sammelte und aufkochte. Daß sich ein solches Erlebnis in irgendeiner Form wiederholen könnte, der Gedanke bereits genügte, um jegliche Lockung von ihm fernzuhalten. Für ihn gab es in dem Betracht keinen Glauben mehr (in dem Betracht nicht und in anderm nicht). Wer konnte besser als er wissen, was Menschen unter Liebe verstehen, was sie damit vorspiegeln und wie sie in Wahrheit aussieht, die Liebe? Er hätte ein stattliches Wörterbuch der Entartungen, der armseligen Kompromisse und aller kleinen und großen Erbärmlichkeiten verfertigen können, die den Inhalt der dreihundert Arbeitstage seines Jahres ausmachten und in unleidlicher Wiederholung den Inhalt aller andern Tage aller andern Jahre. Ein Buchstabe, ein Register, und das Individuum besteht nur noch aus Vorleben, Leumund, Straffälligkeit. Kommt der Daumenabdruck im Album noch nicht vor, auf ihrer Stirn und in ihren Augen gewahrt man ein nicht minder bezichtigendes Mal. Mögen sie den Faust lesen oder, manche, manchmal, das Vaterunser beten oder mit Sittensprüchen ihre Wände bekleben, wie die frommen Juden ihre heiligen Lehren an die Türpfosten nageln, das wird keinen einzigen von Betrug, Unterschlagung, Meineid, Diebstahl und Vergewaltigung abhalten, wenn sie nur die geringste Aussicht haben, sich der Verantwortung zu entziehen. Es gab, genau besehen, nicht Gute und Böse, Ehrliche und Schwindler, Lämmer und Wölfe, es gab nur Bescholtene und Unbescholtene, Bestrafte und Unbestrafte, das war der ganze Unterschied, und daß sie eins oder das andere waren, beruhte nicht auf einer Eignung oder einem Defekt, sondern auf einem von ihnen nicht beachteten Zufall. Er fragte nicht nach dem Manne und der Frau. Es gab für ihn keinen Herrn Soundso oder Frau Soundso. Er kannte die Stände, die Klassen, die Berufe, die Beschäftigungen, die Gruppen, die Antezedenzien, die sozialen Vernietungen und Brüche, die Bedingungen und Reibungen der Existenzen, die Kräfteverhältnisse, die Ausdrucksmöglichkeiten, alles bis zur spielenden Beherrschung, so daß er ebensogut mit einem Schlosser, einem Bauern, einer Prostituierten in deren Sprache reden konnte wie mit einer Gräfin und einem Minister; von der Person und ihrer Einunddieselbigkeit wußte er nichts und begehrte er nichts zu erfahren. Und so war es ihm gemäß und angenehm, daß Violet Winston ein Weibchen war wie der Weißfisch in einem See ein Exemplar der Gattung, eines unter hunderttausend gleichen, dessen Fang auf einem nicht sonderlich zu beachtenden Zufall beruhte.

Sie war hübsch, freundlich, gutmütig, gefällig und harmlos. Kein böser Atemzug war in ihr. Sie hatte eine weiße Haut, ein weißes, nichtssagendes Gesicht, korngelbe Haare, in deren Verwaschenheit ebenfalls etwas Nichtssagendes lag, kleine, runde, dicke Patschhändchen wie ein Baby und schöne, schlanke Beine. Ihre großen, blauen, dummen Augen erinnerten ihn, wenn ihr Blick auf ihm ruhte, an nichts. Wenn ihre karminrot geschminkten Lippen beim Lächeln die winzigen weißen Zähnchen hervortreten ließen, schienen auch diese an der süßen Nichtigkeit des Gesamtwesens teilnehmen zu wollen. Wenn man sie auseinandergenommen hätte, um nachzusehen, welche Gefühle sie gegen ihren großen düstern Freund in ihrem Innern hegte, so hätte man außer der gewissen animalischen, temperierten Zärtlichkeit einer schutzbedürftigen Kreatur wahrscheinlich nichts weiter gefunden als ein wenig kleine dumme Furcht. Und wegen dieser Furcht bewunderte sie ihn. Ja, sie bewunderte ihn, ungefähr so wie das Weißfischlein den riesigen, gefräßigen Hecht bewundern wird, der es nur deshalb nicht verschluckt, weil er es zu sehr verachtet. Wenn sie auf seinen Knien saß und ihn fassungslos anschmachtete, konnte sie nicht anders, als sich als »poor girl« und »poor little Violet« zu bezeichnen. Es war immer ein kleiner dummer Verwunderungsausbruch über die Ungleichheit der menschlichen Geschöpfe. Die Unterhaltung zwischen ihnen bewegte sich meist auf dem Gebiet der Utensilien. Sie hatte eine Photographie ihrer Vaterstadt Sacramento über dem Bett aufgehängt. Das Bild hing nach der Ansicht des Herrn von Andergast um reichlich drei Zoll zu tief. Das Gespräch darüber dauerte länger als eine Viertelstunde. Sie hatte Blumen gern, verstand sie jedoch nicht zu arrangieren, das gab Gelegenheit zu endlosen Beratungen, etwa darüber, ob man rosa Flieder und rote Nelken zusammen in eine Vase stecken könne. Obwohl adrett in der Kleidung, war sie in ihrem Geschmack ein wenig indianisch, auch hatte sie eine Vorliebe für zu starkes Parfüm. Herr von Andergast belehrte sie, wies sie zurecht, immer wieder, trocken, ernsthaft, geduldig. Ungeduld hätte er einem so lieben, dummen Nichts gegenüber geradezu als Energieverschwendung betrachtet. Sie rechnete ihm ihre Ausgaben vor, und wenn sich ein überflüssiger Posten darunter befand, tadelte er sie sanft, bis in die törichten blauen Augen törichte kleine Tränen schossen, wobei er dann nachsichtig lächelte. Sie hatte viele Fehler, sie war vergeßlich, kokett, naschhaft, ziemlich leichtsinnig, aber es war alles so wenig, sie mitsamt den Fehlern war so wenig und in seiner Wenigkeit so unärgerlich. Weißfischlein. Manchmal setzte sie sich ans Klavier und sang ihre Heimatlieder. Ihr törichtes kleines Stimmchen füllte den Raum wie Zikadengezirp, und mit den törichten, dicken Babyhändchen begleitete sie sich selbst auf dem Pianino. Es war das vollkommene Idyll.


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