Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Richtig, mit dem Namen«, rief Etzel, als hätte er die ganze Zeit über nicht mehr daran gedacht. Er setzte sich seitlings zu Warschauer hin, um besser zu hören und, da es ziemlich finster war, besser zu sehen. »Der Name ist natürlich das wenigste«, fuhr Warschauer fort, »ein Schlüssel, freilich einer zu besonderen Türen. Haben Sie mit Juden verkehrt, Mohl?« – »Und ob. Bei uns gibt's Juden die Menge.« – »Hatten Sie jüdische Kameraden?« – »Auch.« – »Standen gut mit ihnen?« – »Ganz gut.« – »Also keine prinzipielle Gegnerschaft?« – Etzel schüttelte den Kopf. Er kannte das, die prinzipielle Gegnerschaft, aber er hatte sie sich nicht zu eigen gemacht. – »Keine elterlichen Anweisungen, Verbote und dergleichen?« – »N– nein . . .« – »Das klingt zögernd. Also doch?« – »Manchmal. Hab mich aber nicht drum gekümmert. Wenn sich's um nette Kerle gehandelt hat, hab ich mich nicht drum gekümmert.« – »Schön. Das wollt ich wissen.« Er schwieg ein paar Sekunden und stocherte mit seinem Stock im Sand herum. »Können Sie sich vorstellen, daß ein Mensch sich selber über seine Geburt belügt? Komplizierte Sache. Der nicht sein wollen, der man ist, die Wurzel verleugnen, aus der man gewachsen ist, das heißt die eigene Haut wie einen geborgten Mantel tragen. Ich war das Kind jüdischer Eltern, die in der zweiten Generation bürgerlicher Freiheit lebten. Meinem Vater war noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß der Zustand scheinbarer Gleichberechtigung im Grunde nur Duldung war. Leute wie mein Vater, ein ausgezeichneter Mann sonst, hingen religiös und sozial in der Luft. Den alten Glauben hatten sie nicht mehr, einen neuen, will heißen den christlichen, anzunehmen weigerten sie sich, teils mit guten, teils mit schlechten Gründen. Der Jude will Jude sein. Was ist das: Jude? Vollkommen befriedigend kann es kein Mensch erklären. Mein Vater war stolz auf die Emanzipation, eine listige Erfindung das, sie nimmt dem Unterdrückten den Vorwand, sich zu beklagen. Die Gesellschaft schließt ihn aus, der Staat schließt ihn aus, das körperliche Getto ist zu einem seelischen und geistigen geworden, man wirft sich in die Brust und nennt es Emanzipation. Haben Sie mal darüber nachgedacht, junger Mohl, oder sind Sie zufällig einem Menschen begegnet, der Anlaß hatte, selbst über gewisse . . . na, sagen wir Disharmonien nachzudenken? Nicht? Sie hatten Wichtigeres zu tun, ich verstehe, aber vielleicht ist Ihnen trotzdem zu Ohren gekommen, was sich gegenwärtig hierzulande abspielt? Ich spreche nicht davon, daß sie das Bettelalmosen eines jämmerlichen Bürgerrechtes am liebsten wieder zurücknehmen möchten. Täten sie's doch, es wäre wenigstens ein ehrliches Verfahren, es wäre lobenswerter als . . . na, lassen Sie mich nur ein Beispiel anführen, als Grabsteine in jüdischen Friedhöfen zu demolieren, meinen Sie nicht? Was sagen Sie dazu, geschätzter Mohl? Grabsteine demolieren . . . he? Friedhöfe schänden . . . Das ist neu in der Kulturgeschichte, he? Dernier cri. Ich finde, daß dagegen alle Brunnenvergiftungs- und Ritualmordexzesse zwar blutrünstige und hirnlose, aber, wenn man großzügig denkt, durch Wahn und Leidenschaft entschuldbare Veranstaltungen waren, was finden Sie? Sie schweigen, kleiner Mohl? Ich ehre Ihr Schweigen. Sehen Sie, das mit den Grabsteinen ist ein Symbol, infernalisch, einzigartig. Haben Sie mal beobachtet, wie sich auf einem verbrannten Blatt Papier die letzten Funken verlaufen, eh es ganz schwarz wird? So ist das. Die letzten Funken von Würde, Selbstachtung, Anstand, Humanität oder wie die Schwindelworte sonst noch lauten, verlaufen sich, und alles wird schwarz. Aber ich schweife ab. Ich habe allerdings den Satz geprägt: Abschweifen heißt ein Thema ausschöpfen. Ich will auch bei meinen Familienerinnerungen nicht länger verweilen. Nur Geduld, ich komme schon vorwärts, nämlich zu mir. Vorher noch ein Axiom, teurer Mohl, und eines von allgemeiner Gültigkeit: In jedem Leben gibt es einen Augenblick, wo sich der Mensch nach den polaren Gegensätzen seiner Natur entscheiden kann. Wo demnach Shakespeare ebensogut ein genialer Räuber à la Robin Hood hätte werden können wie Dramenschreiber, Lenin ebensogut Chef der zaristischen Geheimpolizei wie der Vernichter des Systems. Möglicherweise wäre ich unter einem bestimmten Anstoß, der aus unerforschlichen Ursachen nicht erfolgte, ein jüdischer Führer, ein Luther des Judentums geworden. Statt dessen . . . na ja, davon rede ich eben. Unser äußeres Tun hängt von einem tiefen Dualismus ab, der uns eingepflanzt ist wie der Instinkt von rechts und links. Lassen Sie sich niemals erzählen, Mohl, daß ein Mensch unter gewissen Umständen nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt hat. Es ist nicht wahr. Die Frage ist nur, wie weit man zurückgeht, um den Punkt zu finden, wo seine Freiwilligkeit noch intakt war. Ich kann immerhin mit einer Sorte von Erlebnissen aufwarten . . . langweile ich Sie auch nicht? Wirklich nicht? Schön. Worunter ich als Knabe schon wie ein Hund litt, das war die moralische Feigheit meiner Stammesgenossen. Daß sie sich zufrieden gaben mit ihrer Helotenexistenz und sich mit einem mythologisch verkünstelten Gefühl von Auserwähltheit trösteten, ja, das. Oder in dem ihnen gnädig eingeräumten Pferch die Herren spielten, vielmehr das Herrentum ihrer Herren nachäfften. Ich haßte sie, sämtlich. Ich haßte ihr Idiom, ihren Witz, ihre Denkungsart, ihren Geschäftsgeist, ihre spezifische Melancholie, ihre Anmaßung, ihre Selbstpersiflage. Ich zerbiß nachts mein Kopfkissen vor Wut, wenn ich an eine Schmähung, eine Zurücksetzung dachte, ob sie nun mir oder meinem Vater oder irgendeinem Juden überhaupt widerfahren war. Ich zitterte in der Schule vor Scham und Empörung, wenn nur das Wort Jude fiel, schon bei einfacher Feststellung, begreifen Sie das? Es war alles darin enthalten, in der Art, wie es ausgesprochen wurde, das Vorurteil, die Geschichtsfälschung, der eingefleischte Haß, dem die Jahrhunderte nichts von seiner Roheit und Giftigkeit geraubt hatten. Denn ich wußte Bescheid. (Er stieß mit dem Stock auf den Boden.) Mit neun Jahren wußt ich schon Bescheid, mit fünfzehn hatte ich ein gründliches Studium in dieser Hinsicht hinter mir und war jeder Disputation gewachsen. Aber mit Disputationen erschüttert man keine Tatsachen, auch die verworfensten nicht, in unserer Welt nicht mehr, und von allen Tatsachen gab es eine, die mir vollkommen unerträglich war, nämlich, daß ich von irgendeinem Gebiet des Lebens und Wirkens sollte ausgeschlossen sein. Was, ich? Ich mit .meinen Gaben, mit meinem Verstand, mit der Glut in meinem Innern, ich sollte nicht, unter keinen Umständen, sagen wir beispielsweise: auf einem Ministerstuhl sitzen? Nein, unter gar keinen Umständen, Präsident einer wissenschaftlichen Akademie sein? Und das hieß, sich hoch versteigen, mein Lieber (er lachte in die Luft hinaus), das waren schon Phantasieprätensionen, mein Ehrgeiz durfte sich nicht einmal an eine Professur wagen. Unter keinen Umständen konnte ich zu der Geltung gelangen, die der mittelmäßigste Kopf, sofern er nur nicht das Femezeichen trug, als selbstverständlich zu beanspruchen hatte. Der Gedanke machte mich toll. Ich konnte forschen, konnte auf meine Weise lehren, konnte Werke schaffen, niemand würde mich mehr als üblich daran hindern, zuletzt würden sie mir ihre Anerkennung nicht vorenthalten und, wenn ich Wunderbares leistete, am Ende sogar ihre Bewunderung nicht, aber . . . im Tiefsten würden sie mir nicht glauben, im Tiefsten würden sie mich und meine Leistung leugnen, nur unter der stärksten Pression würden sie mir die Ehre erweisen, mit der sie sich untereinander verschwenderisch beschenken. (Er nahm den Schlapphut vom Kopf und setzte ihn sogleich wieder auf.) Aber das alles waren ja Überlegungen. Unmöglich, das Wesentliche wiederzugeben, das Gefühl: es ist mir versagt . . . ja was: versagt? einfach versagt, zu sein! mitzusein! dazusein! Denn ich konnte nur sein, damals wenigstens, ich konnte nur sein, wenn ich die Welt hatte, die vollständige Fülle der Welt, ohne Abzug und Abstrich, die ganze strahlende Breite geistiger Existenz. Darum fällt der Einwand, den Sie wahrscheinlich im stillen bereits gemacht haben, daß von allen diesen Gründen jeder einzelne genügt hätte, mich mit denen meines Stammes solidarisch zu erklären, aus den Widerständen doppelte Kraft zu ziehen, dieser Einwand fällt in sich zusammen. Wie gesagt, ich liebte sie nicht. Da ich sie nicht liebte, entband ich mich der Zugehörigkeit. Sie konnten mir für das, was ich entbehrte, keinen Ersatz bieten. Ich war kein Renegat, wenn ich sie verließ, ich gehorchte meiner Notwendigkeit. Ich liebte sie nicht, das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß meine Liebe drüben war, bei den andern. Kein seltener Fall: Der Zurückgestoßene verliert seine Seele an die, die ihn zurückstoßen. Ein sehr jüdischer Fall. Was ihm verwehrt ist, das ist die Verheißung des Juden, was er nicht hat, sein teuerster Besitz. Immer wieder das verlorene Paradies. Auch ein jüdischer Fall. Sündenfall. Dort haßte ich, hier liebte ich. Ich liebte ihre Sprache . . . ihre Sprache? meine! so gut, wie meine Augen mein sind . . . liebte ihre Geschichte, ihre Heroen, ihre Lieder, ihre Landschaften, ihre Städte. Ich liebte das alles tiefer, als sie selber es lieben, und verstand es besser als sie. Das ist keine Prahlerei, mein Sohn, es ist Schicksal. Im übrigen . . . ich habe den Beweis erbracht. Nun, gehen wir zurück. Angefangen hat es mit Legendenbildung. Als meine Mutter starb, eine einfache Frau, die noch an alten jüdischen Bräuchen gehangen hatte, machte ich sie zu einer Christin, Tochter eines abgedankten Militärs. Ich redete es mir so fest ein, daß es mir zum Faktum wurde, mit den überzeugendsten Einzelheiten versehen wie in einer russischen Erzählung. Dabei kam aber doch nur ein Mischblut zustande, ich wollte aber Vollblut sein, und indem ich einen heimlichen Ehebruch mit einem schlesischen Rittergutsbesitzer dazudichtete, schaltete ich den jüdischen Vater, der inzwischen auch das Zeitliche gesegnet hatte, bei meiner Erzeugung eigenmächtig aus. Es war kein Wagnis weiter. Die Natur hatte mich begünstigt, ich war blond, unverfälscht germanenblond (er lachte wieder unangenehm), mein Gesichtsschnitt, Sie können es nicht leugnen, ist unorientalisch, erinnerte schon in meiner Jugend an den bäurischen Typus bei uns. Abgesehen davon, der Wille formt das Antlitz. In der Prima des Gymnasiums führte ich bereits den Namen Waremme. Durch Adoption. Mein Adoptivvater war katholischer Schriftsteller, Traktätchenverfasser, Agent in dunklen Geschäften und Hetzapostel, er war völlig närrisch mit mir, er hielt mich für ein Genie. Vielleicht hatte er so unrecht nicht. Damals war ich's vielleicht. Jedenfalls verstand ich es, die Menschen daran glauben zu machen. Nicht weil ich's erlistet hätte, denken Sie das nicht, ich hatte die Welt in der Faust und modelte sie mir wie ein Stück Wachs. Nie habe ich um Menschen geworben. Aber bis zu einem gewissen Einschnitt in meinem Leben hatte ich unbedingte Gewalt über alle, die in meinen Kreis traten, ich lernte Menschen beherrschen, eine Wollust ohnegleichen, eine Kunst, die geübt sein will. Der erwähnte Namenswechsel geschah unter dem Protektorat eines Domherrn und mit Hilfe eines gewiegten Advokaten. Daß Taufe und Übertritt zur Kirche damit verbunden waren, versteht sich. Ich hatte dann freien Weg vor mir. Sagten Sie etwas, Mohl? Ich dachte, Sie sagten etwas. Freien Weg, so ist es. Unsichtbare Hände ebneten ihn. Die Universitätsjahre, Breslau, Jena, Freiburg, immer von Osten nach Westen, lauter Triumphstationen. Ja, von Osten nach Westen, immer weiter, von der Tiefe in die Höhe, dann wieder in die Tiefe, die allertiefste Tiefe: von Osten nach Westen wie die Sonne. Aber ich schweife wieder ab. Ich lebte sorgenlos, mein Vater hatte mir zwar so gut wie nichts hinterlassen, aber Mittel flossen mir reichlich zu, glänzende Empfehlungen öffneten mir alle Türen, ich wurde Mitglied exklusiver Verbindungen, ich sprach mit gefürchteten Würdenträgern wie mit meinen Vettern, und ich legte mich dabei nicht auf die Bärenhaut, Mohl, in keiner Weise. Rabiater Fleiß ist ja das Erbteil meiner Rasse, ich wußte nicht wohin mit all den Kräften in mir, Kräften aus unterirdischen Strömen, aus dem unverbrauchten Vorrat von Geschlechtern, ich fühlte mich zu merkwürdigen Dingen berufen, ich war meinen Tagen nicht feind, ah, in keiner Weise, der Philosoph Waremme beflügelte den Dichter Waremme, dieser den geistigen Schätzeheber, der Mittler zwischen den Menschen den Führer, dieser wieder den Politiker, und da zeigte sich das Ziel, schöpferische Politik, dazu fühlt ich mich berufen, die Idee eines verwandelten Europa, einer kontinentalen Einheit unter deutscher, deutsch-römischer Hegemonie enthusiasmierte mich, ah, was für Träume! rasende Träume! Ich wollte mich natürlich an kein Amt binden, ich schlug die lockendsten Angebote aus, es war mir alles zu gering, ich hatte Angst, mein Stern würde verlöschen, wenn ich ihn als Lampe benützte, aber dann, mitten im Fluge, kam der Sturz. Im übermächtigsten Flug der gräßlichste Sturz. Aber die Katastrophe hatte eine sonderbare Logik in sich, eine unheimliche Logik, ich hatte sie nicht sehen wollen, ich glaubte, ihr trotzen zu können, ich . . . aber zum Teufel, Mohl, Sie lassen mich da schwatzen, schauen mich an wie der Hungrige die Butterstulle . . . ich glaube, es ist verdammt spät geworden . . . auf, auf! . . .«
Es war nicht sehr spät, zehn Uhr. Sie legten den Weg schweigend zurück. An der Usedomstraße wollte Warschauer den Knaben verabschieden. Etzel bat, noch mit hinaufkommen zu dürfen. Er sei nicht müde, so wenig müde, daß er sich vor dem Bett fürchte. Warschauer lachte, mehr im Magen als im Gesicht. »Verspekuliert, lieber Mohl«, knurrte er, »heut gibt's keine Geschichten mehr. Warschauer und Companie schließen das Büro.« Er steckte den Schlüssel in die Haustüre. Etzel hatte die Empfindung: Jetzt darfst du nicht lockerlassen, sonst ist alles hin, morgen ist das Aufgetaute wieder zugefroren. Mit Schrecken dachte er an sein schwindendes kleines Kapital, es wurde trotz sorgsamster Sparsamkeit jeden Tag weniger, was dann, wenn es zu Ende war? Er konnte sich nicht bei Warschauer einnisten, der hatte selber nichts, das hieße auch, sich ihm auf Gnade und Ungnade ausliefern. Die Zeit drängt, der alte Mann in Hanau zeigt sein verstörtes Gesicht wie einer, nach dem schon der Tod greift, für den andern im Zuchthaus verrinnt wieder eine Woche und wieder eine Woche, Trismegistos sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen, halbabgekehrt, und schiert sich nicht um Gerechtigkeit. Irgendwo im Unbekannten sucht die Mutter nach ihm, es ist nicht zu ertragen länger, nicht zu ertragen, er hat alle Mühe, sich zusammenzunehmen, und daß er sich nichts merken läßt, darauf kommt es an, daß er kaltblütig bleibt, den Kopf oben behält. Er erkennt nun auch, wohin ihn der Mensch zieht, dieser Warschauer-Waremme, in eine Aberwelt wird er hineingesaugt, in die unermeßlichen Finsternisse einer machtvollen Seele, er hat sich das alles anders gedacht, einfacher, schwierig wohl, jedoch mehr im Sinn einer Rechenaufgabe, eines mit List und Geduld aufzudröselnden Knotens, nicht in solcher Weise schwierig, daß ein Leben mit seiner ganzen Problemlast ihm auf die Brust sich wälzt, ein geheimnisvoller fremder, dunkler Charakter, an dem alles erst enträtselt werden muß, jeden Tag von vorne mit einem Minimum an Erfahrung und einem Maximum an Selbstverleugnung (denn nichts ist ihm geheuer an Waremme, nichts liebt er an ihm, nichts macht ihn weich, stimmt ihn versöhnlich, am liebsten möchte er ihn gebunden vor sich sehen und ihn mit einem glühenden Eisen in der Hand zwingen, zu gestehen: Ja oder nein; nichts weiter: Ja oder nein), ach, alles, Stück um Stück, herausklauben, Stück um Stück wieder zusammensetzen und nicht wissen, ob man was erreichen wird, das Ja oder Nein. Er friert, es ist ihm kalt, er fiebert, es ist ihm heiß, alle fünf Minuten wechselnd, er sagt sich, wenn du dir nachgibst, bist du ein Schuft oder ein Tropf, also halte fest.
Er ging mit hinauf. Eine halbe Stunde hatte Warschauer bewilligt. Er hatte nicht mit der Ausdauer, mit der Geriebenheit seines »Famulus« gerechnet, vor allem nicht mit dem eigenen, aufgerührten, sich selbst herausfordernden Mitteilungsbedürfnis, das ihn automatisch weitertrieb, genug, es war, wie ich gleich vorausschicken will, drei Uhr nachts, als Etzel das Haus verließ. Als er auf die Straße trat, in der Gegend des Exerzierplatzes fahlte der Himmel schon, war er zunächst nicht imstande, Fuß vor Fuß zu setzen, er legte sich der Länge lang auf die steinerne Staffel vor einem Schnapsladen, der eben geschlossen worden war, drückte die flachen Hände gegen die Schultern, preßte die Lider zu und atmete, so tief er konnte. Dabei zitterte er fortwährend. Dies, wie gesagt, vorausgeschickt.
Auf dem engen Gangflur oben war Lärm, als sie die Stiegen erklettert hatten. Widerlich streitende Stimmen drangen aus der Paalzowschen Wohnung. Paalzows Junge flegelte seine Mutter wegen Geld an, dazu quäkste ein Säugling erbärmlich. In Warschauers Stube war die Luft wie ranziges Fett, der Professor fand die Streichhölzer nicht gleich und fluchte leise, endlich brannte die Gasflamme, da sahen sie einen Heerbann großer schwarzer Küchenschaben, die unter der Alkoventür herauskrochen und ekel um das Gestell mit dem Proviant wimmelten. »Gediegen«, sagte Etzel, stand eine Weile tiefsinnig, dann tränkte er ein Handtuch mit Spiritus, warf es über das Geziefer, wo es am dichtesten krabbelte, und als einige hundert betäubt dalagen, griff er zum Besen und kehrte sie seelenruhig zur Tür hinaus. »Kaffee?« fragte er. Warschauer nickte, und der Kocher wurde zum soundsovielten Male heute in Funktion gesetzt. Warschauer ging mit seinem Tambourschritt auf und ab, das Kreuz hohl, die Hände unter den Rockschößen, die Stirn ungewöhnlich finster. Ein Grammophon im dritten Stock spielte heiser krächzend einen Gassenhauer, Etzel summte den Text mit: »Fräulein Len, schlafen gehn . . .« – »Ich bitte, hören Sie doch mit dieser unanständigen Scheußlichkeit auf, Mohl«, sagte Warschauer pastoral, blieb stehen und sandte ihm einen zornigen Blick zu. »Auch recht«, gab Etzel zurück, »werd ich's das nächste Mal fertig singen. Aber eine Liebe ist der andern wert, heißt es, so sagen Sie mir doch, Herr Professor . . . nein, ich bin nicht still . . . ist mir egal, wenn Sie auch noch so wütend dreinschaun, es muß jetzt . . . hätten Sie erst gar nicht angefangen. Wer A sagt, muß B sagen, tun Sie, was Sie wollen . . . jetzt haben Sie die Soße serviert, wie, und Braten soll's keinen geben? Hören Sie zu, ich hab was drangesetzt . . . es handelt sich um . . . Herrgott, glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, aber lassen Sie mich nicht so zappeln . . . das ist eklig, wissen Sie, eklig ist das von Ihnen . . .« Mit geballten Fäusten und blitzenden Augen hatte er sich vor Warschauer aufgepflanzt, als wolle er ihn niederboxen. »Tz, tz, tz,« machte Warschauer ironisch, »was diese Null, dieser Leonhart Maurizius, in Ihrem sonst so aufgeräumten Köpfchen für 'ne Unordnung angerichtet hat! Also, was wollen Sie wissen? Womit kann ich dienen? Nur nicht zuviel auf einmal, Junge. Wenn Sie mich löchern, ich bin imstande und gebe Ihnen was zum besten, daß Ihnen die Lust vergeht. I had a good time with you, my boy, you will have a bad time with me. Guter Junge, ahnungsloser Junge, plätschert mutwillig im lauen Wasser herum, kitzelt den Haifisch an der Flosse, kommen Sie her zu mir, Mohl, ich will Ihnen ein bißchen das Fell streicheln, kommen Sie augenblicklich her . . .« Der Golem. Die Golemstimme, schlaftrunken und lüstern. »Nein«, flüsterte Etzel und suchte hinter einem Bücherstoß Schutz. »Hasenfuß«, spottete Warschauer, »begreifen Sie nicht, daß Sie einen Mann von differenzierter Anlage vor sich haben? Ein Korn gröber und . . . ich warne Sie. Der Nachlaß des Feingehalts entzieht sich Ihrer Beurteilung. Gott sei Dank. Wäre das nicht der Fall, so wären Sie bereits eine verfaulte Frucht. Ich warne Sie vor denen mit dem edlen Augenaufschlag, vor den Griechenfrömmlern, vor den Priestern des neuen Rhythmus, den Esoterikern und Illuminaten, die bei ihren schwarzen Messen den hermaphroditischen Gott feiern. Diese Leute werden nicht unterlassen, Jagd auf Sie zu machen, der Kult hat Scharen von Anhängern gewonnen, aus einem einfachen Grund, sie wollen den Mars mit dem Eros verkuppeln, um ihn nach seiner grausamen Niederlage geheimbündlerisch zu stärken. Verschlagene Instinkte toben sich aus. Sie verstehn mich nicht? Um so besser. Von mir jedenfalls haben Sie nichts zu fürchten. Die Brücke zwischen uns beiden hat in dem Betracht nicht mehr Stoff als ein Regenbogen. Noch immer begriffsstutzig? Ah, es dämmert ihm was, Halleluja!« Er ging rasch auf Etzel zu, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, sah ihn durchbohrend an und küßte ihn auf die Stirn. Etzel rührte sich nicht. Es war das Menschenfresserische, gemildert durch eine Art intellektueller Hoheit. Dennoch lief es ihm kalt über den Rücken. »Also –?« murmelte er obstinat. Warschauer grinste. »Das nenn ich die Situation ausnützen«, mokierte er sich, »nichts hat er im Kopf als das eine . . .« – »Also?« beharrte Etzel kindisch und wild. – »Nun ja«, erwiderte Warschauer ruhig, »wir mußten aneinander zerschellen, er an mir, ich an ihm.«
Er schritt überlegend auf und ab, die linke Hand im Nacken, den rechten Arm im Takt schwenkend wie ein Soldat. Das Wasserglas auf dem Tisch klirrte von der Erschütterung. Eigentlich sieht er furchtbar aus, fett und finster, dachte Etzel, während er mit aufgerissenen Sinnen lauschte. Es waren zunächst nur hingeworfene Bemerkungen. Manches klang wie Phrase, z. B. daß ihm in Maurizius die antipodische Natur begegnet sei. Jedoch als er es präzisierte, fielen grelle Schlaglichter auf die Beziehung. Es war tatsächlich ein Zusammenprall gewesen, aber die Stoßkraft lag mehr auf der Seite des eindringenden Körpers, der andere wurde nur aus seiner Passivität gerüttelt. Er hatte daher keine Wahl, als sich der Bewegung anzuschließen. »Es blieb mir nichts übrig, ich mußte ihn hinter mich, unter mich bringen, ich mußte ihn unschädlich machen.« – »Warum denn?« fiel Etzel erstaunt ein, »Sie haben doch eben gesagt, daß er eine Null war –?« Ohne sein Schreiten zu unterbrechen, streckte Warschauer den rechten Arm in die Luft. »Allerdings. Aber eine repräsentative Null. Eine Null an einer Stelle, wo sie eine gewaltige Ziffer bilden half. Das ganze öffentliche Leben setzt sich aus solchen Nullen zusammen. Jedenfalls war er eine Null mit beachtenswertem Anhang, außerdem eine begabte Null, eine glänzende Null, eine Null, von der man sicher sein konnte, daß sie mal in die Höhe stieg wie ein gefüllter Ballon. Aber das war nicht ausschlaggebend. Den Ausschlag gab . . . Passen Sie auf. Hier stand Waremme, Gregor Waremme: verwandelt. Ich hatte mir die Welt erobert, Position für Position. Ich hatte mich glücklich in ihr eingebaut, ich hatte mein Gefühl nach ihr gestimmt, ich hatte an den Menschen, die ich brauchte, eine Arbeit vollbracht, notabene, nur um sie von mir zu überzeugen, nur um sie an mich glauben zu machen, eine Arbeit, die ich noch zehn Jahre nachher in allen Nerven spürte. Man hat mir von Salvini erzählt, einem genialen Schauspieler. Sie haben vielleicht von ihm gehört, daß er nach jeder großen Rolle einen Kollaps erlitten hat. Einer meiner Freunde, ein Theaterregisseur, war mal Zeuge, wie er nach dem fünften Akt von Othello hinter den Kulissen bewußtlos zusammenbrach und ein Arzt sich anderthalb Stunden lang bemühte, ihn wieder ins Leben zu rufen. Es gibt, selbstredend, solche und solche Schauspieler. Manche sterben einen herzzerreißenden Tod auf der Bühne, und wenn der Vorhang fällt, reißen sie Zoten. Sie schaun mich wieder mal so naiv verwundert an, kleiner Mohl, das Gleichnis mit dem Schauspieler macht Sie offenbar stutzig. Aber ich war ein Schauspieler, ich mußte spielen, und wenn ich nicht mit vollendeter Kunst, mit der letzten Hingabe spielte, so konnt ich einpacken. Schauspieler: Stoßen Sie sich nicht an dem Wort. Nehmen Sie es nicht in einem plebejischen Sinn, vergessen Sie nicht, daß es ein Jahrhundert her ist, daß Goethe den Wilhelm Meister und das Gedicht auf Miedings Tod geschrieben hat, und mehr als hundertfünfzig Jahre seit Lichtenbergs Briefen über Garrick. Seitdem ist der Schauspieler zum Angestellten von Industriekonzernen herabgesunken und seine Figur eines der Pappendeckelideale des Kleinbürgertums geworden. Das nebenbei. Ich erinnere mich, daß ich einmal eine ganze Nacht lang mit Maurizius darüber debattierte. Er verstand mich nicht. Er war von einer Dummheit in dem Punkt, zum Tollwerden. Natürlich war ich ein Schauspieler, natürlich. Und er war keiner, o Gott, wie war er keiner! Daß ich es war, hat mich ruiniert, daß er es nicht war, hat ihn ruiniert . . .« – »Wieso?« fragte Etzel atemlos vor Neugier, »erklären Sie mir vor allem, wieso waren Sie ein Schauspieler?« Unwillkürlich machte er ein paar Schritte hinter dem stelzenden Warschauer her, was so lächerlich aussah wie die bekannten Karikaturen von Eisele und Beisele. »Jede ungewöhnliche Geistes- und Charakterleistung beruht auf einer sublimierten Verwandlungskunst«, dozierte Warschauer. »Halten Sie sich doch vor Augen, welche Wissensgebiete ich zu beherrschen hatte, die heterogensten Disziplinen, Philosophie, Theologie, Nationalökonomie, Geschichte, Sprachwissenschaften, Staatsrechtslehre, jede von innen her, von ihrer Idee aus; daß ich von vornherein entschlossen war, mich keiner von ihnen als Melkkuh und Amt- und Titelfabrik zu bedienen, aus wohlerwogenen Gründen, wie ich Ihnen bereits angedeutet, da ich ja höher hinauswollte; daß ich infolgedessen lavieren, nicht nur meine eigene Person stets an der richtigen Stelle zur stärksten Wirkung bringen, sondern auch die Bewunderer, die Anhänger, die Boten, die Proselytenmacher mit genauester Berechnung ihrer Kräfte und Talente unterrichten, verteilen, anfeuern mußte, daß ich dabei beständig in einem Netz verwickelter Interessen stand wie ein Ordensgeneral, denn nach meinen damaligen Begriffen ging es um was Ungeheures. Eine mächtige Partei zählte auf mich, der Kaiser war auf meine Person aufmerksam gemacht worden, der Vatikan schickte seine stillen Unterhändler zu mir, und bedenken Sie nun, last not least, daß ich bei alledem noch dafür zu sorgen hatte, meine frühen Spuren zu verwischen, meinen Ursprung zu verschleiern, daß ich sozusagen immer einen dunklen, metaphysischen Rest von schlechtem Gewissen in mir zu beseitigen hatte, der meine reine menschliche Unbefangenheit mir selbst zuletzt als das Produkt einer Anstrengung, wenn nicht einer Qual verdächtigte. Summieren Sie das alles und leugnen Sie dann, daß es nichts Geringeres war als ein Tanz auf einer Turmspitze . . . Jener hingegen . . . keine Ahnung! im warmen Nest. Keinen Begriff. Von alleine entstanden. Die Lilie auf dem Feld. Der Mühelose. Leonhart der Mühelose. Hatte er nötig, zu spielen? Gab es für ihn eine Rolle? Was wußte er von dem Stück, in dem er auftrat, da er doch gar nicht ›auftrat‹, sondern sich ›gehen ließ‹? Gehen ließ! Der Mühelose – ließ sich gehen. Hatte seinen Platz an der Table d'hôte, sein Billett lag immer an der Kassa. Die Wissenschaft? Ein Basar, aus dem man sich versorgt. Mit kostspieligen Sachen natürlich, denen man die Massenherstellung schwer ansieht. Kenner sind ja selten, und man muß schon Pech haben, wenn man sie nicht hinters Licht führen kann. Die Kunst? Edelbetrieb. Die Arbeit? Adelt bekanntlich. Nur vor das Vergnügen haben die Götter den Schweiß gesetzt. Und vor die Liebe den Einsatz eines Herzens, das . . . nichts einzusetzen hat. Die Null in der Null.« Er lachte gallig und seltsam dröhnend auf. – »Ich kann trotzdem nicht begreifen«, wagte Etzel, der in grüblerischer Haltung an der Schiebetür lehnte, einzuwenden, »grade weil Sie so über ihn urteilen, will mir's nicht in den Kopf, daß sich da ein Gegensatz bilden konnte, zwischen Ihnen und ihm. Wie war denn das möglich? Der Mühelose . . . ja. Aber warum denn gerade er? Hundert andere, so scheint mir's wenigstens, hätten es ebensogut sein können. Da muß doch . . . jetzt sag ich was, Professor, aber fahren Sie mich nicht an . . .« – »Nun?« – »Ich meine, da muß doch . . . darf ich's sagen?« – »Keine Angst, Mohlchen. Was muß da doch . . .?« – »Da muß doch die Fräulein Jahn schuld gewesen sein. Schuld . . . das klingt so dumm . . . Veranlassung mein ich . . .« Warschauer hatte sein undeutbares Grinsen. »Oh! is that so?« travestierte er die amerikanische Floskel. »I wonder. Clever boy. Never in my life I saw such a clever boy.«
Er nahm sein hahnenhaftes Marschieren wieder auf.