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Denselben Abend und am folgenden Sonntag den Nachmittag und Abend verbrachte Etzel mit der Lektüre der verjährten Zeitungsartikel. Er sagte sich: ich prüfe, und blieb kühl wie ein mäßig neugieriger Zuschauer. Da es sich um Zeitungsschreiberei handelte, war er doppelt auf der Hut. Es hatte alles den Geschmack von Roman. Er liebte im allgemeinen Romane nicht. Gelehriger Schüler Melchior Ghisels, unterschied er scharf zwischen Gedicht und Vision und der von einem Zweckwillen vergewaltigten Wirklichkeit. In dieser Beziehung war er nüchtern bis zur Gefühllosigkeit. Daher war ihm das novellistisch aufgeschmückte Tagesereignis ein Greuel. Gespensterhaft, achtzehn Jahre später angesehen, eine geschminkte Leiche, die tanzt. Viele einzelne Züge blieben davon unberührt, sie entsprachen der Wahrheit der Natur, der keine Zurichtung etwas anhaben kann.
In den nächsten Tagen – es lag noch eine ganze Ferienwoche vor ihm – entfaltete er eine heimliche Geschäftigkeit, die in dem Bestreben wurzelte, sich neue Nachrichten und Anhaltspunkte zu verschaffen, Stützen für die Erzählungen des alten Maurizius, deren subjektive Beschaffenheit unverkennbar war, Bestätigung jener Zeitungsberichte, insofern er sie, nach der einen oder der andern Seite, im Verdacht der Übertreibung und Verzerrung hatte. Aber wo solche Stützen, solche Bestätigungen suchen? Und wenn er sie fand, was berechtigte ihn, sie für verläßlicher zu halten, als was er bisher erfahren hatte? Er traute dem Gedächtnis der Menschen nicht. Er wußte aus Instinkt, daß jede Wahrheit vergessen wird, um einer angenehmen Illusion Platz zu machen. Das war es ja, was ihm die tiefe Abneigung gegen die Geschichte einflößte. Er mußte immer lächeln, wenn alte Leute aus ihrer Vergangenheit etwas zum besten gaben. Es war so ergötzlich, so leicht zu sehen, wie sie »dichteten« und wieviel mehr Vergnügen ihnen das halb Gelogene bereitete als das ganz Wahre, von dem sie vermutlich gar nichts mehr wissen wollten. Der einzige Mensch, der ihm bei seinen Nachforschungen hätte behilflich sein, ihn über die Anfangszweifel hätte erheben können, war sein Vater. Aber der bloße Gedanke war absurd, ihn, ihn darum zu bitten. Niemals würde Trismegistos die Berechtigung auch nur einer Frage anerkennen, die veilchenblauen Augen würden verwundert gefrieren unter dem Eindruck ungehöriger Dreistigkeit. So blieb nichts übrig, als in der Stille zu sammeln und das Gesammelte zu sieben und zu vergleichen. Die Rie hatte einen Bekannten, der ein- oder zweimal wöchentlich zu ihr kam, einen Kanzleirat Distelmayer, der lange Jahre bei Gericht gewesen und seit dem Krieg pensioniert war, ein Mann, dem es schlecht ging, weil er wie alle auf Ruhegehälter gesetzten Beamten kaum das tägliche Brot hatte. Die Rie hob immer das Mittagessen für ihn auf, wenn er sich angesagt hatte; dann begann jedesmal das nämliche Spiel: er lehnte die Einladung mit den entschiedensten Ausdrücken ab, behauptete, soeben erst eine ausgiebige Mahlzeit zu sich genommen zu haben, gab dann, scheinbar ermüdet durch das Zureden, nach und verzehrte schließlich, was ihm aufgetragen wurde, Suppe, Fleisch, Gemüse, Torte, mit Stumpf und Stiel und jammervoll ersichtlicher Genugtuung. Bisweilen trat Herr von Andergast in den Flur, wenn jener gerade kam oder ging. Da verbeugte sich der Kanzleirat mit einer Devotion, die dem zuschauenden Etzel widrig war, indes Herr von Andergast sich leutselig bezeigte, dem Kanzleirat mit zwei Fingern auf die Schulter klopfte und fragte, wie man unter Kollegen fragt: »Nun, wie geht's, wie steht's, mein guter Distelmayer?« Obwohl Etzel wenig Hoffnung hegte, von dem etwas geschwätzigen Männlein Dienliches zu erfahren, machte er den Versuch; er spann ihn in seine Treuherzigkeiten ein, deren Wirkung auf die Erwachsenen er erprobt hatte, er ließ sich herab zu ihm, und das war eine andere Herablassung als die des Herrn von Andergast, schon daraufhin angesehen, daß ein sehr junger Mensch von geistigem Stolz sich herablassen muß, wenn er es mit so verbrauchten und gedrückten Personen von der Art des Kanzleirats zu tun hat; er stellte das Gespräch zuerst auf Scherz ein, erlaubte dem Alten, um ihn zutraulich zu machen, kleine Neckereien, kleine, platte Anzüglichkeiten, wie sie bejahrte Leute gegen Knaben gern äußern, gab der Unterhaltung dann ohne Mühe die Richtung ins Ernsthafte, ließ von ungefähr den Namen Maurizius fallen, sah, daß der Kanzleirat aufmerksam wurde, erzählte, daß ihm jemand viel von der Sache erzählt habe, daß er sich dafür interessiere, daß es zwischen ihm und einem Freund darüber zu Diskussionen gekommen sei. Der betreffende Freund sei nämlich ein entfernter Verwandter der Familie Jank, oder nein, wie habe sie nur geheißen, der Name sei ihm entfallen, vielleicht erinnere sich der Herr Kanzleirat, Familie der Frau, der Schwester von Maurizius' Frau . . . Der Name war ihm keineswegs entfallen, er wollte nur dem Kanzleirat auf den Zahn fühlen, und richtig nannte dieser gleich den Namen, es zeigte sich, daß er über Erwarten gut Bescheid wußte, da er sich seinerzeit angelegentlich mit dem Prozeß befaßt hatte. Etzel wollte nur von Anna Jahn hören, und zwar von ihrem Leben nach dem Abschluß des kriminellen Dramas; er hatte dabei etwas ganz Bestimmtes im Auge. In der Tat war Distelmayer imstande, seine Wißbegier zu befriedigen, es war eine Liebhaberei von ihm, sich mit dem Privatleben der Leute zu beschäftigen, die einmal im Zentrum des öffentlichen Interesses gestanden und einen »Fall« gebildet hatten; viele gerichtliche Funktionäre haben diese Neigung, die sich aus dem Hang zur Schnüffelei und dem Reiz zusammensetzt, den ungelöste Rätsel ausüben. Distelmayer hatte den Prozeß Maurizius sogar schriftstellerisch verwertet, halb war er befremdet, halb schmeichelte ihm die lebhafte Anteilnahme des jungen Barons (er sprach ihn stets mit Nachdruck als »Herr Baron« an, was Etzel abgeschmackt erschien, ohne daß er es wagte, den würdigen Mann durch Abwehr zu verstimmen). Nicht weniger geschmeichelt war die Rie, sie saß die ganze Zeit dabei und hatte nicht genug Augen und Ohren für die Aufgewecktheit, Weltkenntnis und Konversationsgabe ihres Etzel; in solchen Momenten reklamierte sie ihn mit besonderem Stolz als den Ihren, ihr Eigentum, Frucht ihrer Umsicht, und sie tauschte mit dem Kanzleirat verstohlene Blicke, um ihn zur Bewunderung aufzufordern. Etzel beobachtete es und fühlte die Lächerlichkeit der Situation; aber was kümmerte ihn das, da doch seine Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Er sah nur wieder einmal, daß auf geradem Weg von keinem Menschen was zu erreichen war, auch vom harmlosesten nicht, man mußte jeden überlisten und über das, was man von ihm haben wollte, hinters Licht führen, es war immer eine Fallenstellerei.
Also Anna Jahn. So hieß sie längst nicht mehr. Im Jahre dreizehn hatte sie den Direktor einer großen Ziegelei geheiratet, einen wohlsituierten Mann. Vorher war sie im Ausland gewesen, lange Zeit. Man hatte nichts von ihr gehört, sie hatte keinem ihrer früheren Freunde Nachricht gegeben, niemand kannte ihren Aufenthalt, und nach und nach wurde sie vollständig vergessen. Der Tod ihrer Schwester Elli machte sie zur alleinigen Erbin von deren gesamtem Vermögen; aber der Himmel weiß, wie sie damit wirtschaftete; als sie vom Ausland zurückkehrte, besaß sie nichts mehr. Der Kanzleirat wußte es von einem Assessor, dessen Tante war früher mit Anna Jahn intim befreundet gewesen. (Über die ganze bewohnte Erde ist ein Netz solcher Beziehungen geworfen, so daß keiner wirklich außerhalb stehen kann und nur die unüberblickbare Wirrnis der Fäden, die von allen zu allen laufen, das Gesetz der Bindung zum Zufall stempelt.) Zu dieser Frau war Anna Jahn gekommen an einem Winterabend vor mehr als zwölf Jahren, zerrüttet an Leib und Seele, unausdrückbar müde, mit einem Köfferchen wie eine stellenlose Magd, einsam, schweigsam, arm. Woher sie kam, sagte sie nicht, was sie erlebt hatte, verriet sie nicht, Menschen aus ihrem früheren Leben zu treffen, davor hatte sie panische Angst; man erkannte bald, daß es gefährlich um sie stand, bei einer Unvorsichtigkeit, die einmal passierte – ein Gast ihrer Freundin sprach, ohne zu überlegen und ohne dabei an sie zu denken, von Leonhart Maurizius und seinem, wie er fand, noch immer ungeklärten »Fall« –, wurde sie leichenblaß, fing an zu zittern und fiel in Krämpfen zu Boden, die stundenlang dauerten. Nachher trat ein Zustand krankhafter Depression ein, sie wurde in Sanatoriumspflege gegeben, erholte sich dann auch langsam, erlangte sogar etwas von ihrer Schönheit und bezaubernden Anmut zurück und lernte in der Anstalt einen Herrn Duvernon kennen, einen Lothringer, dem sie tiefen Eindruck machte, dessen Heiratsantrag anzunehmen sie sich aber erst drei Jahre später entschließen konnte. Es schien, daß sie dann den Entschluß nicht zu bereuen hatte; man hörte zwar wenig von ihr, wußten doch nur noch sehr wenige Menschen von ihrer Existenz, allein was darüber verlautete, war weder nachteilig noch deutete es auf Geschicksungunst. Sie wohnte mit ihrem Mann in einem Ort in der Nähe von Trier, sie hatten, wie es hieß, zwei Kinder, die Zurückgezogenheit war ihr größtes Glück, sie verließ kaum je ihr Haus, hatte keinerlei gesellschaftlichen Verkehr, überhaupt keinen Umgang mit Menschen, die nicht zum engsten Familienkreis gehörten. Immer seltener kehrten die Anfälle jener bedenklichen Krankheit zurück, und nach und nach gewann es den Anschein, als habe sie ihre dunkle und unheilvoll bewegte Vergangenheit gänzlich vergessen.
Etzel hörte dem Bericht lautlos aufmerksam zu. Mit der gewohnten Klarheit zog er aus der Erzählung des alten Kanzleirats, die sich später im wesentlichen bestätigte, den Schluß: dorthin gibt es keinen Weg, die Tür ist verrammelt, soviel man sieht.
Jeder Mensch, ausgenommen der Jurist, wird der Figur des öffentlichen Anklägers von vornherein wenig Sympathie entgegenbringen, auch dort, wo er das verdammenswerteste Verbrechen der Sühne zuführt. Es liegt wohl daran, daß er den Menschen nicht kennt, den Menschen nicht ansieht, nicht kennen darf, nicht ansehen darf. Für ihn gibt es bloß die Tat und was die Tat wiegt und daß sie vergolten wird. Er hört ja selber auf, Mensch zu sein, die Stimme, die den Schuldigen zur Verantwortung zieht, ist nicht die Stimme des Menschen mehr, will nicht als Menschenstimme vernommen werden; über die Parteien in den Raum der Mitleidlosigkeit erhöht, Unperson, ist er Diener und Beauftragter der Gemeinschaft. So ist er wohl gedacht, so denkt er sich selbst; aber nur der Charakter von großem Zuschnitt wächst mit solcher Beamtung empor und erfüllt seinen Sinn; der kleinere, indem er sich spannt und überspannt und in ein verzweifeltes Mißverhältnis zur Aufgabe gerät, entblößt nur seine Unzulänglichkeit, und das Antlitz des unerbittlichen Sühneforderers erstarrt zur Polizeigrimasse.
Niemals hatte sich Etzel die Gestalt des Vaters so abgelöst von Väterlichkeit gezeigt als beim Lesen der achtzehneinhalb Jahre zurückliegenden Gerichtssaalberichte. Dadurch, daß er sich beständig bewußt machen mußte: ich war zu jener Zeit gar nicht am Leben, war gleichsam noch nicht im Spiel, nichts hing von mir ab, bewegte sich auf mich zu, alles geschah in kaum zu begreifender schauriger Weise ohne den jetzt so unleugbar seienden, handelnden, denkenden, durch die Welt schreitenden und von der Welt wissenden Etzel; dadurch bekam die Zeit etwas Betrügerisches, der Vater und seine Beteiligung an dem Ereignis, das ihm, Etzel, mit jedem Tag mehr zu schaffen machte, ja alle seine Gedanken zu beherrschen anfing, eine furchterweckende Maßlosigkeit der geistigen Form und persönlichen Wirkung, so daß er manchmal in seiner Vorstellung eine Art Graf von Saint-Germain wurde, der etwa schon beim Prozeß gegen Jean Calas dem Schein-Schuldigen, dem Unschuldigen zum Verderben geworden war. Es war das erste Mal, daß ihm die amtliche Tätigkeit des Vaters durch ein ganzes gerichtliches Verfahren hindurch, Verhandlung, Plädoyers und Urteil, in dramatischer Schilderung verlebendigt wurde. (Seit seiner letzten Beförderung, durch die ihm die diktierende Gewalt zufiel, erschien er ja im Gerichtssaal nur noch bei außerordentlichen Anlässen.) Es war für Etzel ein Bild, in welchem er sich nicht zurechtfinden und auch nicht finden konnte; der Name Andergast, da hätte er sich in verwehten Spuren finden müssen, aber es war so unverwandt wie Stein dem beseelten Auge, es hatte eine finstere Hostilität, der kein Schmerz etwas anzuhaben vermochte, kein Ruf und Aufschrei, kein Beweis, kein Argument, keine Not, kein Antlitz, nichts, nichts, der Gerichtete trat an, der Gerichtete trat ab, die Frage, die an ihn ging, metallen, unerweichlich, hieß nicht: Bist du schuldig oder nicht?, sie lautete: gibst du dich oder nicht? bekennst du dich oder nicht? unterwirfst du dich oder nicht? Dem tat die darüber hingegangene Zeit, achtzehneinhalb Jahre, keinen Abbruch, da war immer noch dieselbe Fanggier, dasselbe angemaßte, unrüttelbare Wissen von der Tat: es schnellte in die gegenwärtige Stunde hinein wie eine Stimme von nebenan, und Etzel, als ob die Stimme ihn selbst träfe und riefe, sprang auf, verriegelte die Tür, lief in der Stube auf und ab und preßte die Hände an die Ohren. Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, um dann bei Tisch, bei den »abendlichen Gesprächen«, unbefangen zu bleiben, fügsam Rede zu stehn, artig zuzuhören, die Miene des dankbar Belehrten zu zeigen, statt aufzustehn und vor ihn hinzutreten mit der Dringlichkeit, die wie elektrische Hochspannung in ihm war, zu fragen: Warst du von seiner Schuld überzeugt? hast du wahr und wahrhaftig an seine Tat geglaubt, damals? Seine fragenden Augen waren förmlich angeklammert an das große, strenge, verschlossene Gesicht, an die panzergleiche Stirn. Umsonst, natürlicherweise. Es gibt menschliche Beziehungen, die sofort zerbrächen, wenn im entscheidenden Augenblick das entscheidende Verständnis erfolgte. Sie bestehen nur dadurch, daß es nicht erfolgt.
Es bot sich jedoch Gelegenheit, den Anteil seines Vaters am Prozeß Maurizius in einer andern Beleuchtung zu sehen, und er konnte daraus die Meinung erkennen, die sich in einigen Köpfen der oberen Geistesschicht gebildet hatte. Der ihm die Belehrung angedeihen ließ, war Professor Förster-Löring, Soziolog und Nationalökonom, ein Mann, den Etzel achtete und von dessen Verdiensten Camill Raff oft mit Verehrung gesprochen hatte. Übrigens ein ungewöhnlich häßlicher Mann, verwachsen und mit einer gebrochenen, schiefgedrehten Nase. Seine beiden Söhne, Zwillinge, waren Etzels Klassenkameraden, er war oft bei ihnen im Hause gewesen, Herr von Andergast empfahl den Verkehr, jetzt luden sie ihn wieder ein, Ellmers und Schlehlein waren ebenfalls dort. Als der Tee gereicht wurde, gesellte sich der Professor zu den Knaben. Seine Gegenwart brachte immer eine fesselnde Unterhaltung in Gang, von dem und jenem kam man auf die moderne Rechtsprechung, ein Thema, das eben anfing, »brennend« zu werden; die jungen Leute spürten, daß es da ans Lebensmark des Volkes ging. Etzel, nur von der einen, einzigen Sache erfüllt und einer locker hängenden Glocke ähnlich, die schon auf den Anstoß eines Windhauchs mit gedämpftem Erzklang antwortet, warf wie von ungefähr den Namen Maurizius hin, zaghaft, als wolle er sondieren, ob der Professor den Fall kenne und wenn, ob er geneigt sei, sich darüber zu äußern. Der Professor schaute überrascht empor. »Sonderbar, daß Sie diese Causa erwähnen, Andergast«, sagte er, »ich habe neulich erst in einer Schrift daraufhingedeutet.« (Aha, der auch, dachte Etzel.) »Sie ist mir von jeher als symptomatisch erschienen. Ja, eine außergewöhnliche Causa, in mehr als einem Sinn. Haben Sie sich denn damit befaßt oder Spezielles darüber gehört?« Etzel blinzelte, ruckte verlegen auf seinem Stuhl und sagte etwas Nichtiges, während ihn die Kameraden neugierig ansahen. »Nun, zu wundern braucht ich mich über die Zitierung nicht«, fuhr der Professor freundlich fort, »es gibt ja einen recht natürlichen Zusammenhang, da es doch Ihr Herr Vater war, der diese Sache damals führte. Man kann sagen, er war der eigentliche Spiritus rector. Es gehörte eben seine Kraft, sein Mut, seine Superiorität dazu, um die Schwierigkeiten zu besiegen, die sich ihm entgegenstellten. Ich habe ihn sehr bewundert in diesem Kampf. Denn es war wohl ein deutsches Hic Rhodus, hic salta, Deutschland stand sozusagen vor einem sittlichen Entweder-Oder, es war einer von den geschichtlichen Momenten, wo es wählen konnte zwischen Hinauf und Hinab. Auf der einen Seite Frivolität, Genußsucht, Leichtfertigkeit, Unverantwortlichkeit, auf der andern Gewissen, Zucht und Pflicht. Noch einmal bekam das Bessere die Oberhand. Ich entsinne mich noch der abschließenden Rede Ihres Vaters. Es war eine erstaunliche Leistung, man hätte sie an allen Mauern und Litfaßsäulen anschlagen sollen. Ich weiß, es waren starke unterirdische Strömungen zugunsten des Angeklagten, noch heute ist die Bewegung nicht völlig erstickt, wie es ja auch noch Schwärmer gibt, die den armen Caspar Hauser für einen Märtyrer halten; aber was will das besagen, wir Alten, die wir diese Zeit miterlebt und unsre Augen offengehalten haben, hegen keinen Zweifel an der Schuld des unglücklichen Menschen. Das freilich war er, weniger ein Verbrecher als ein Schwächling, haltlos und angefault bis in den Grund der Seele.«
Etzel hielt den Kopf gesenkt. Ein leises Lächeln, störrisch und überlegen, umzuckte seine Lippen. Das mit dem Caspar Hauser hätte er sich sparen können, dachte er, damit nützt er seiner Sache nicht, da wissen wir besser Bescheid (er hatte sich mit der Geschichte des Findlings beschäftigt und viel darüber gelesen), nur was er über den Vater gesagt hat, das ist fein, das ist famos. Er hob langsam die Lider und schaute mit seinen kurzsichtigen Augen der Reihe nach in die Gesichter. Es waren schöne und häßliche Gesichter, das häßlichste, wie immer, das des Professors, wenn auch das ausdrucksvollste. So lästig Etzel seine Kurzsichtigkeit im Tagesablauf oft empfand, beim Sport, beim Unterricht zum Beispiel, so angenehm war sie ihm bisweilen im Umgang mit Menschen, weil er ihre Züge, sogar ihr allgemeines Verhalten in einen verschönernden Dämmerschimmer getaucht sah.
Die Frage, die an den alten Maurizius zu stellen war, lautete: Wo ist Waremme? Sie trafen sich vor einem kleinen Kaffeehaus beim Guiolettplatz, es regnete seit Stunden, sie gingen die paar Straßen bis zur Christuskirche und suchten Zuflucht unter dem Portal. Es war das zweite Mal, daß sie sich auf diese Art in der Stadt sahen, verabredetermaßen natürlich; aber beim erstenmal war Etzel nicht dazu gekommen, die Frage zu stellen, der alte Mann hatte ihn durch eine Erzählung in Atem gehalten, und nachher hatte Etzel alles andere vergessen, war von dem Alten weggeschlichen und so geistesabwesend vorwärts gestolpert, daß er in ein falsches Haus am Kettenhofweg gegangen und, als er es bemerkt, beim Umkehren die Steinstufen am Tor hinuntergefallen war, ohne sich jedoch Schaden zu tun. Die Erzählung bestand in dem Bericht, wie Peter Paul Maurizius mit fünf seiner Bekannten, lauter alten Männern, die Stunden vor der Verkündigung des Todesurteils verbracht hatte. Gott mag wissen, was ihn veranlaßt hatte, die Episode aus der Vergangenheit heraufzubeschwören. Ganz von selbst fing er davon an, als wär's ein Erlebnis aus der vorigen Woche, von dem zu reden ihm bis jetzt die Zeit gefehlt. In sich gekehrt, die Pfeife im Mundwinkel, mit krächzender Stimme und unter häufigem Spucken brachte er die Geschichte vor.
Es war so: Der Staatsanwalt hatte sein Plädoyer geschlossen, das zweite, das noch zermalmender als das erste war und auf das der Verteidiger, trockener, armseliger Mann und kläglich anzuhören nach der Schwertrede des »blutigen Andergast«, nur kurz erwiderte. Der Vorsitzende erteilte die Rechtsbelehrung, die Geschworenen zogen sich zurück, der Gerichtssaal – Publikum Kopf an Kopf, aus allen Ständen und Klassen gemischt – sott in Fieberspannung. Peter Paul, von zwei Freunden, die aus seinem Wohnort schon mit ihm gekommen waren, rechts und links geführt, verließ die gärende Menschenmasse, aus der das Gift der Sensation schwitzte. Es war sicher, daß die Geschworenenberatung und -abstimmung stundenlang dauern würde. Die beiden Begleiter hatten darauf bestanden, daß Peter Paul in seinen Gasthof ginge und die Entscheidung dort abwartete. Der eine war ein Rentamtmann aus Lorch, der andere ein Müller aus St. Goarshausen. Sie beauftragten einen jungen Unteroffizier, den Neffen des Rentamtmanns, ihnen ohne Säumen, so geschwind wie möglich, den Urteilsspruch zu überbringen; der Gasthof lag kaum fünf Minuten entfernt. Es galt, den alten Maurizius zu schonen, ihm über die Zeit hinwegzuhelfen. Der Unteroffizier versprach, auf dem Posten zu bleiben, und wenn es soweit war, es an Eile nicht fehlen zu lassen. Peter Paul tat alles, was man wollte. Er widersprach nicht, noch äußerte er einen Wunsch. Vor dem Tor des Gerichtsgebäudes – es war schon Abend, ein kalter Augustabend – traten noch zwei Alte zu den dreien, Bekannte aus ihrer Gegend, und schlossen sich ihnen in stummem Mitgefühl an, ein Optiker, ebenfalls aus St. Goarshausen, und ein Versicherungsinspektor aus Langenschwalbach. Alle vier folgten Peter Paul in sein Gasthauszimmer, das ziemlich geräumig war und in dessen Mitte ein großer, runder Tisch stand. Um diesen Tisch setzten sie sich, fünf Männer: Peter Paul Maurizius war weitaus der Jüngste unter ihnen, der Rentamtmann, als der Nächstälteste, war sechzig, der Optiker, der Älteste, war achtundsiebzig. Sie bestellten Bier, vor den Platz eines jeden wurde ein Glas hingestellt, keiner rührte es an. So saßen die fünf in ununterbrochenem Schweigen fünf volle Stunden und warteten auf das Urteil. Als die vierte Stunde vorüber war, erhob sich der Müller schwerfällig und öffnete weit die Tür zum Gang. Alle verstanden ihn. Es geschah, damit der Bote schneller das Zimmer finden sollte und damit man ihn gleich sollte hören können, wenn er von unten kam. Die letzte Stunde. »So eine Stunde hat es noch nicht gegeben, seit die Welt steht, junger Herr.« Es war ein geringer Gasthof, die Stiege war aus Holz, hatte keinen Teppichbelag und befand sich gleich neben dem Eingang. Endlich, zwölf Minuten vor zwölf, läutete es unten, nach einer Weile knirschte das Tor, wieder nach einer Weile rumpelten schwere Stiefel auf der Stiege, und alle fünf Männer, die Langsamkeit der Schritte richtig einschätzend, wußten Bescheid. Es war, als käme der Sensenmann selber die Treppe herauf. Dann erschien der junge Soldat auf der Schwelle, weiß wie ein Laken, die fünf Alten standen auf, ein einziger, tiefer Atemzug von allen fünf gleichzeitig: Verurteilung zum Tode.
»Wo ist Waremme?«
Maurizius überlegte. Er zog die schäbige Mütze fester in die Stirn. Es schien, als könne er sich nicht entschließen zu antworten. Man habe nichts von ihm gehört, knurrte er. Man könne sich ja denken, daß ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden sei. Habe es eilig gehabt zu verduften. Es habe auch kein Mensch mehr von ihm gesprochen, man habe nichts mehr von ihm erfahren, bis zum heutigen Tag. Sei außer Landes gegangen. Ebenso wie die Anna Jahn, die sei auch außer Landes gegangen. Wohin? Na ja, um das Jahr acht habe es mal geheißen, daß man sie alle beide, ihn und sie, in Deauville gesehen habe. Deauville, das sei doch der Name, wie? Seebad, wie? In Frankreich, wie? Der Alte nahm seine Pfeife aus dem Mund, hielt sie im steifen Arm vor sich und fixierte Etzel mit widerwärtig schielendem Blick. Der Knabe machte große Augen. Was war das? Das war neu. Ein Gerücht? Nur ein Gerücht? Ihn und sie gesehen? Wer hat sie gesehen? Wer hat es bezeugt? Maurizius zuckte die Achseln. »Er soll damals einen Bart getragen haben«, fügte er sarkastisch hinzu; »jawohl, der eine läßt sich rasieren, der andere sorgt für Haarwuchs, das ist der Lauf der Welt, junger Herr Andergast.« Er kicherte heiser und spuckte auf die Steinfliesen. Ein älterer Herr mit einem Schlapphut stellte sich vor das ungleiche Paar, bastelte an seinem Regenschirm und schimpfte leise über das Wetter. Als er wieder gegangen war, fragte Etzel, was für eine Sorte Mensch Waremme gewesen sei. »Gewesen?« fuhr Maurizius auf, »gewesen? Das hoff ich zu unserm Herrgott im Himmel, daß nichts an ihm gewesen ist, kein Atemzug an ihm gewesen ist. Gewesen! Da säßen wir saftig im Dreck. Gewesen!« Zornig wetterte es in seinen blutunterlaufenen Augen. »Ich meine, weil es so lang her ist«, entschuldigte sich Etzel höflich. »Schwer, von dem was zu sagen«, maulte der Alte und rieb die Kinnlade hin und her wie ein Pferd, dessen Lefzen von der Trense gescheuert werden. »Weiß der Teufel, wie man ihn beschreiben soll. Nicht zu glauben, wenn man denkt, was er damals war und was er heut ist . . .« Er hielt inne. Er hatte offenbar mehr gesagt, als er sagen wollte, und suchte, bestürzt blinzelnd, in seiner Tasche nach Zündhölzern. Etzel blickte neugierig empor. Da war er einer Entdeckung auf der Spur. Seine Miene drängte: weiter, weiter!, und unwillkürlich packte er den Alten beim Rockärmel. Maurizius hatte die Zündhölzer endlich gefunden, schob sie aber unbenutzt in die Tasche zurück. Etwas hilflos begann er den Waremme von »damals« zu schildern. Etzel spürte sogleich die Unvollkommenheit des Bildes. Die Person ging ohne Zweifel über den Horizont des Alten. Er wußte eine Menge Tatsachen, hatte jedoch keine Ahnung von ihrer Bedeutung. Wo sich, selbst in diesem vulgären Bericht, interessante geistige Zustände spiegelten, fehlte jeder Zusammenhang, und die Vorgänge wurden unwahrscheinlich. Zwei Jahre vor dem Unglück (das »Unglück« war die Nabe der Ereignisse) sei Waremme dort aufgetaucht und habe gleich die ganze Universität in den Sack gesteckt. Was er war? Ei nun, Philosoph oder dergleichen. Schriftsteller, Privatgelehrter. Amt nahm er keines an, vielleicht bot man ihm auch keines, er tat sich auf seine Unabhängigkeit was zugute. Manchmal hielt er freie Vorlesungen. Von weit her kamen die Leute, um ihn zu hören. Die Professoren waren außer sich, sprachen von ihm wie von einem Wundertier. Wenn er in eine Gesellschaft kam, drängten sich Männer und Weiber um ihn herum, waren komplett verhext von seinen Reden. Waremme hat das gesagt, Waremme hat jenes gesagt, danach gab's keinen Widerspruch mehr. Besonders ein paar Geheimräte und einige von den rheinischen Industrieobersten waren ganz toll mit ihm. Erklärlich dadurch, daß er sich neben seiner Wissenschaft (in welchem Fach der Wissenschaft er arbeitete, wußte Maurizius nicht) hauptsächlich mit Politik beschäftigte. »Wenn mir recht ist, waren es zwei Dinge, für die er sich mächtig ins Zeug legte: der Krieg mit Frankreich und die katholische Kirche. Da steckten natürlich die Jesuiten dahinter.« Wo er herstamme? Das habe man eigentlich nie erfahren. Er behauptete, er sei aus Schlesien, Sohn eines Rittergutsbesitzers, seine Mutter sei eine Adlige gewesen. Aber das Rittergut lag wahrscheinlich auf dem Mond, »als ich später mal nachforschte, wußte kein Mensch was von Waremmeschen Gütern«. Vermögen hatte er keins, das gab er selber zu, prunkte sogar mit seiner Armut; doch war er fast täglich im Kasino und beim Spieltisch zu sehen. Obwohl sie dort keinen aufnehmen, der nicht mindestens ein »Herr von« ist, nahmen sie ihn auf. Manchmal verlor er beträchtliche Summen, ohne daß jemand fragte, woher er das Geld hatte. Wenn er heute fünfhundert Mark in der Tasche hatte, veranstaltete er morgen ein Fest, das ihn tausend kostete und zu dem er die halbe Stadt einlud. Sie kamen alle. Sie kamen, obgleich mit der Zeit merkwürdige Geschichten über ihn umgingen. Da war eine brenzlige Sache mit einer Darlehensvermittlung. Dann der Selbstmord der Lilli Quästor, mit der er sich verlobt hatte, Tochter des Kohlenquästors; eines schönen Tages brachte sich das Mädchen um, niemand erfuhr, warum. Es wurde einfach vertuscht; »im Vertuschen sind wir ja groß«. Solange die Geheimräte und die Kohlenbarone ihre Hand über ihn hielten, war er gesichert. Schließlich hatte es aber ein Ende, die Sorte hat eine gute Witterung, schon vor dem großen Kladderadatsch hatten sie sich in der Stille zurückgezogen; und wenn auch zuletzt nichts gegen ihn vorgelegen hätte, als daß er der Freund von dem Mörder Maurizius gewesen, das genügte, damit war er erledigt, das genügte . . .
»Wo ist er also jetzt?« forschte Etzel mit sachlicher Beharrlichkeit. Maurizius tat, als habe er nicht verstanden. Es schien, als zögere er an diesem Punkt, sich in die Karten blicken zu lassen. Scheu musterte er den Knaben von oben bis unten. Dann flüsterte er: »Das ist mein Geheimnis, und wenn ich's Ihnen jetzt verrate, bleibt's unser Geheimnis: Hand darauf . . .« Gott mag wissen, was er sich von dem »Geheimnis« versprach; aber Etzel reichte ihm bekräftigend die Hand. Er fuhr fort, immer noch zögernd, vor eindreiviertel Jahren habe er in Erfahrung gebracht, Waremme halte sich in Berlin auf. Unter verändertem Namen. Mit großen Schwierigkeiten sei es seinem Vertrauensmann, einem gewiegten Praktikus, der ihn massenhaft Geld koste, gelungen, ihn zu agnoszieren. Es sei nur dadurch möglich gewesen, daß man insgeheim und in größter Vorsicht seinen Weg zurückverfolgt habe bis nach Chikago, wo er elf Jahre lang gewohnt habe, von 1910 bis 1921. Man habe nach langem Suchen, durch Vermittlung eines dortigen Detektivinstituts, einige Personen stellig machen können, die von der Namensänderung wußten und ihn unter seinem früheren Namen auch in Neuyork, Pittsburg und Kansas City gekannt. Mit alledem sei aber leider Gottes nichts Rechtes anzufangen. Natürlich müsse man ihn im Auge behalten, man könne nicht wissen, was passiere; falls irgendwas passiere, sei es gut, daß man ihn gleich hoppnehmen könne; aber was solle denn passieren, wie die Dinge stünden; sei verdammt wenig Aussicht zum Hoppnehmen, dem Menschen sei nichts anzuhaben, von allen Seiten sei er gedeckt, habe nichts zu fürchten, wenigstens von ihm nichts, von P. P. Maurizius nichts, von Leonhart schon gar nichts, nein, da sei nichts zu hoffen, wenn er nicht sonst was auf dem Kerbholz habe, und ein so gerissener Hund verstünde wohl, sich davor zu hüten, sei eben nicht an ihn heranzukommen. Aufpassen, ja, das sei nötig, damit man jeden Moment zugreifen könne, dafür eben habe er seinen Mann, und der wieder habe seine Leute auf dem Posten, im übrigen heiße es abwarten. Der Alte starrte düster in den Regen. Täuschte sich Etzel oder vernahm er wirklich ein hölzernes, ersticktes Schluchzen, keinem Laut, den er irgendwann gehört, ähnlich? »Und Sie waren bei ihm?« fragte er in einer erstaunlichen Eingebung. Die Frage hatte sich ihm nur deshalb aufgedrängt, weil der Alte seit Beginn des Gesprächs bestrebt gewesen war, sie zu verhindern. Er fuhr auch erschrocken zusammen, sein Gesicht wurde tonig, verstockt blieb er die Antwort schuldig. »Und was geschah da?« forschte Etzel anscheinend harmlos und sah Maurizius freundlich an. Der verweigerte noch immer die Antwort, bis ihm Etzel leise die Hand vor die Brust legte. »War 'ne blamable Eselei«, brachte der Alte endlich hart hervor; »was sollt ich denn? was wollt ich denn? Hatte keine Ruhe, bevor ich ihn Aug in Aug sah. Na, da ging ich denn hin. Privatlehrer nennt er sich. Steht auch so im Wohnungsanzeiger. Privatlehrer Georg Warschauer. Usedomstraße Ecke Jasmunder Straße. Im ersten Stock ist ein Speisehaus. Frau Bobikes Mittagstisch, steht angeschrieben. Da nimmt er seine Mahlzeiten. Braucht nichts dafür zu zahlen, weil er den zwei Söhnen der Frau Bobike Stunden gibt. Im dritten Stock wohnt er. Da kommen seine Schüler zu ihm. Auch andere Leute. Unterrichtet Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, verfaßt Nekrologe, Eingesandtes an Zeitungen, Geschäftsreklamen und so. Da ging ich denn hin. Und da sah ich ihn denn. Da stand ich auf meinen zwei Beinen und dachte: Ach, Herr Jesus. Und als er mich anschaute, sagte ich: Mir scheint, ich bin fehlgegangen. Drehte mich um und ging und fuhr gleich auf die Bahn und wieder heim, vierzehn Stunden hintereinander. Da war nichts zu reden. Überhaupt. Was soll man da reden? Wie soll man die Sache deichseln? Womit anfangen? Und wenn er einen die Treppe hinunterwirft, was dann? Einschüchtern kann man den nicht. Und sag ich ein unvorsichtiges Wort, so verderb ich alles mit einem Schlag, und er verduftet mir wieder. Nicht mal meinen Namen hab ich genannt. Da war auch nicht die Möglichkeit, ihn zu bedeuten: Mann, Mensch, oder so, was einem halt auf der Seele gebrannt hat, all die Jahre. Das sah ich zu spät ein. Heiliger Jesus, nein . . .« Er fing wieder an, mit fahrigen Bewegungen die Zündhölzer zu suchen, und Etzel schaute wie zerstreut vor sich hin, als stelle er Beobachtungen über das Wetter an.
»Ich muß laufen, gute Nacht«, sagte er plötzlich, ließ den verdutzten Alten stehen und rannte in den Regen. Als er um die nächste Straßenecke war, verlangsamte er seinen Schritt, bohrte die Hände in die Hosentaschen und fing an, gemächlich zu schlendern. Es dämmerte, die Lichter in den Auslagen flammten auf, er blieb bei jedem dritten beleuchteten Fenster stehen, besah sich die Gegenstände und trällerte dabei gassenjungenhaft vor sich hin. Was mochte die Ursache seiner guten Laune sein? Es sah aus wie unbändige Unternehmungslust und war von zeitweiligen kleinen Heiterkeitsausbrüchen begleitet. Als er am Kettenhofweg den Hausflur betrat, stieß er auf die beiden Töchter des Dr. Malapert, des Augenarztes, der im ersten Stock wohnte. Es waren junge Mädchen von vierzehn und siebzehn Jahren, er kannte sie gut, begrüßte sie vertraulich, zog sie, während sie gemeinsam die Stiege hinaufgingen, in lebhafte Unterhaltung, fragte, ob sie schon bei Stadel gewesen seien, um sich die neuaufgestellte griechische Antike anzusehen, ob sie zum Autorennen gingen, ob sie den Vortrag von Professor Coué anhören würden, erregte zugleich ihr Gelächter, als er sich auf ein Bein stellte wie ein Storch, weil er sein Schuhband, das sich entknotet hatte, festbinden mußte. Oben machte ihm die Rie die Tür auf, er stürzte ihr beinahe an die Brust, sagte, er habe gräßlichen Hunger, tanzte schwatzend um sie herum, dabei glänzten seine Augen, als ob er sich eines gelungenen Streiches freue. Die Rie gab ihm durch mächtiges Augenklappern zu verstehen, daß der Vater schon zu Hause sei und arbeite, sie wies dabei auf die von einer Stoffportiere verhängte Tür und legte ihm die Hand auf den Mund. »Ich bin schon still, Rie«, flüsterte er, »geh ein bißchen auf und ab mit mir, damit die Zeit vergeht.« Er nahm ihren Arm und zog sie in den hinteren Teil des Flurs. »Wozu soll denn die Zeit vergehn?« fragte die Rie erstaunt. Etzel erwiderte: »Weil's nicht auszuhalten ist, wie lang es dauert, bis man um einen Monat älter ist.« – »Narr«, sagte die Rie. – »Bei euch fängt wohl die Zeit schon an, zurückzulaufen«, spottete Etzel, »meine und eure werden sich mal wo begegnen, denk ich, und einander Grobheiten sagen. Keiner wird ausweichen wollen wie zwei störrische Muli auf einem Saumweg.« Während des Gesprächs gingen sie in komischem Gleichschritt auf und ab. »Hör mal, Junge«, sagte die Rie unvermittelt und sah sich vorsichtig um, »weil du so nett bist heute, will ich dir was verraten«, sie hauchte die Worte nur noch, »ich glaub, deine Mutter ist jetzt nicht mehr dort, wo sie war, es ist ein Brief von ihr aus Paris gekommen, es scheint ihr mit der Gesundheit besser zu gehn, ich hab so das Gefühl, als kam sie demnächst mal in unsere Gegend. Aber was sie seit einiger Zeit einander zu schreiben haben (sie deutete über die Schulter zurück mit dem Daumen etwas furchtsam nach Herrn von Andergasts Arbeitszimmer), das weiß ich nicht. Verrat mich aber um Gottes willen nicht.« Etzel blieb stehen, machte sich von Frau Ries Arm los, blickte sie ernst an und stieß einen langen, schrillen Pfiff aus. »Ei«, sagte er. Sonst nichts, und versank. Das kann alles nichts daran ändern, dachte er, beide Fäuste gegen die Brust gedrückt. Unentschieden, ob es der Pfiff war, ob der Redelärm ihn gestört hatte oder ob er mit der Arbeit fertig war: Herr von Andergast erschien auf der Schwelle seines Zimmers und schaute mit frostiger Verwunderung in den veilchenblauen Augen den Korridor entlang auf das einander gegenüberstehende Paar. Die Rie wandte sich eilig ab nach der Küche. Sie bereute ihre Mitteilsamkeit. Sie hatte nur sehen wollen, was der Junge sagen würde. Seine Miene, sein Schweigen beunruhigten sie. Sie war voller Eifersucht auf die unbekannte, »pflichtvergessene« Frau, die sich Mutter nennen durfte, ohne es anders als dem Namen nach zu sein. Sie hatte ihre Eifersucht nähren wollen und war unzufrieden, weil es geglückt war. »Guten Abend, Papa«, sagte Etzel schüchtern. Herr von Andergast ließ ein paar beobachtende Sekunden verstreichen, bevor er mit seiner klangtiefen Stimme langsam antwortete: »Guten Abend. Du scheinst ja prächtig aufgeräumt, mein Sohn.«
Es war schon nicht mehr wahr.
In seinem Zimmer riß Etzel ein Blatt aus einem Notizheft, schrieb darauf: Bobike, Usedom-Jasmunder Straße, und verbarg es unter dem Deckel seiner Taschenuhr.
Etzel war über die praktische Ausführbarkeit seines Vorhabens schon im reinen, als er sich über dessen moralische Berechtigung, sozusagen über die theoretische Seite, mit Dr. Raff zu verständigen suchte. Camill Raff wartete auf die Annäherung Etzels. Als dieser eines Vormittags telephonisch fragte, ob er gegen elf Uhr kommen dürfe, hielt er es jedoch für passend, das Zusammensein auf eine spätere Stunde zu verlegen, um etwas weniger bereitwillig zu erscheinen. Auch bestellte er ihn nicht zu sich, was ohnehin nicht recht anging, weil seine junge Frau bettlägerig war, sondern in die Miquelstraße, an einen bestimmten Platz beim Palmengarten. Als er den Knaben auf sich zueilen sah, es war Punkt halb vier, wie sie verabredet, spürte er erst, wie gern er ihn hatte. Welche Gewalt des Fragens in den funkelnden Augen! Fragt einer so, dann bin ich ein Idiot, wenn ich mir einbilde, ich könne ihm antworten, dachte er, und er ein liebenswürdiger Heuchler, wenn er so tut, als brächt ihm die Antwort Gewinn. Camill Raff wußte vieles von den jungen Menschen, deren Führung ihm anvertraut war. Leider war es keine Führerschaft, die ihn zu befriedigen vermochte, was Halbes nur, weil so viel Winkelzügigkeit und Vorschrift von oben her lähmte, so viel Verklauselung und Mißtrauen von den zu Führenden kam, daß die Zeit vielleicht nicht fern war, wo sich auch bei ihm der Rost ins Getriebe fraß. Bis jetzt war er noch nicht im pädagogischen Dogma eingefroren, war noch kein pfäffischer Unfehlbarkeitsmann. Er hatte Phantasie; wer Phantasie hat, empfängt stets, wenn er gibt, und wirbt, wo er lehrt. Da brauchte er dann nicht wie manche älteren Kollegen, die »mit der Zeit« gehen wollten, während sie in heimlicher Wut hinter ihr herkeuchten, den Verdacht der Augendienerei zu fürchten; ihm glaubte man die Zugehörigkeit, weil er auch den Mut hatte, sich von allem Zweideutigen und Verlogenen klipp und klar zu scheiden. Es fehlte ihm nur eines: der widerstandsfähige Körper. Er hatte zarte Nerven, war keiner Anstrengung gewachsen, und in den sonnenlosen Wintermonaten schlich er wie ein Schatten herum, verstimmt und arbeitsunlustig.
Schon lange gehörte Etzel Andergast zu den wenigen Bevorzugten, mit denen er persönlichen Umgang pflog. Manche Naturen haben einen Glanz wie frischpolierter Stahl, der eben aus Gottes Schmiede hervorgegangen ist. Sie gefallen durch ihre Neuheit und außerdem durch eine Art sublimer Zweckmäßigkeit, als ob mit ihnen etwas ganz Bestimmtes erreicht werden sollte. Das »Neue« an Etzel war ihm erst vor kurzem bewußt geworden. Es war etwa einen Monat her, daß er mit ihm eine Erörterung über ein peinliches Vorkommnis gehabt hatte. Karl Zehnter, der Sohn eines bankrotten Kaufmanns, hatte während der Turnstunde aus Etzels Jacke, die unter zahlreichen andern Kleidungsstücken hing, einen Fünfmarkschein entwendet. Es kam rasch heraus, der dicke Klaus Mohl hatte nämlich den Dieb beobachtet, und man fand alsbald das Geld in seiner Tasche. Anzeige war die Folge, und Zehntner wurde von der Schule relegiert. Etzel ging tagelang mit nagenden Skrupeln herum. Er hatte Zehntner ganz gut leiden können, er hielt ihn nicht für schlecht (»nicht für schlechter als die Mehrzahl von uns«, wie er zu Robert Thielemann etwas schneidend äußerte), auch waren seine Eltern, wie man später erfuhr, in einer verzweifelten Lage. Er fand, daß er nicht gleich hätte Lärm schlagen müssen, daß man es unter sich hätte ausmachen, dem leichtsinnigen Jungen im Rat der Kameraden eine empfindliche Buße hätte zudiktieren können, ohne seine Zukunft zu vernichten. Er fragte Camill Raff geradezu, ob er sich richtig benommen habe. Raff erwiderte, er könne nicht sehen, wie er sich anders hätte benehmen sollen, das angedeutete Schülergericht hätte schließlich nur zu Unzuträglichkeiten geführt. Dabei ließ er die Bemerkung fallen: »Sie müssen sich in acht nehmen, Andergast. Gewisse Lebensvorgänge werden durch einen zu ausgiebigen Gefühlsanteil verflacht. Gefühl ist eine Walzmaschine, es macht alles breit und weich.« Etzel stutzte. Das Wort erinnerte an die Leitsätze von Trismegistos und wirkte, von dieser Seite gehört, überraschend. Er sah sich entschieden verkannt. Das war nicht seine Gefahr. Er bildete sich ein, eher sei das Gegenteil seine Gefahr. Er schüttelte den Kopf und sprach nicht mehr von der Sache. Dem klugen Camill Raff war nicht geheuer zumut, wenn er an das Gespräch zurückdachte; er fürchtete, daß er bei diesem Jungen, der so nachträgerisch sein konnte, wie es nur die niedrigen und bisweilen die ganz hohen Charaktere sind, an Boden verloren hatte; er kam aber nicht gleich dahinter, worin er fehlgegriffen, bemühte sich auch wohl nicht übermäßig, es war zu schwer, den vielen Stimmen zu lauschen und vielen Forderungen gerecht zu werden, überdies noch mit der eigenen Existenz zu Rande zu kommen, gehemmtem Ehrgeiz, wirtschaftlicher Enge. Manchmal schwebte ihm das Gesicht des Jünglings vor, immer im Profil, emporgerichtet, kühn ihm Schnitt, trotzig in der Linie, ohne triviale Weichheit, und es dämmerte ihm, daß er sich mit seinem Ausspruch geirrt haben könnte. Heute wurde es ihm zur Gewißheit, in den ersten fünf Minuten schon. Der Knabe war auffallend verändert, in einem andern Sinn, als er neulich in seiner Mahnung an Thielemann festgestellt hatte; vielleicht war sogar etwas unverschämt Überlegenes in ihm, das sich mokierte über die Herren Lehrer, die ihm stirnfaltend eine schlechte Zensur erteilten.
Aber was ist mit ihm vorgegangen? Ihn auszuholen ist eine Aufgabe. Er ist schlau und reserviert. Camill Raff will ihn nicht einschüchtern und tastet sich über Glatteis. Als endlich mit seinem sokratischen Beistand der Knabe sich zu einigen Kundgebungen entschließt, hütet er sich zunächst vor Mißbilligung wie vor Einschränkung. Erforderlich sei, sich mit den Dingen geistig auseinanderzusetzen; Stellungnahme, Auswägung, Gewichtsbestimmung. Im Falle des Handelns dann: intellektuelles Erfassen, methodische Allmählichkeit. »Ja, schon«, sagt Camill Raff und zügelt eine Regung der Ironie, »gewiß, gewiß.« Er laviert noch ziemlich hoffnungslos. Unmöglich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wenn man nicht imstande ist, die Leidenschaft auszuschalten, läßt sich Etzel mit der Miene eines in allen Stürmen des Denkens gestählten Analytikers vernehmen (er ist wieder einmal ganz »erleuchteter Zwerg«). »Freilich«, gibt Dr. Raff ein wenig geängstigt zu und legt die Hand auf Etzels Schulter, als wolle er ihn von einem waghalsigen Sprung zurückhalten, »freilich. Damit erspart man sich Ungelegenheiten, vor allem erspart man sich das Unvorhergesehene. Ein ausgezeichnetes Mittel, den Phantomen aus dem Weg zu gehen. Es dringt immer mehr in euch ein, das Dialogische, das Dialektische, und infolgedessen kommt auch etwas – wie nenn ich's nur? –, etwas Uneinsames in euch. Ja, ich will es so nennen: das Uneinsame. Aber dieses, das Uneinsame, ist zugleich das Gewissenlose. Ich meine, von einem großen Standpunkt aus. Indem die Verantwortungen kumuliert werden. Indem die Urheber einer Tat in der Masse verschwinden. Doch das wäre ja nicht schlimm. Anonymität ist in vielem Betracht was Schönes. Aber sehen Sie, Andergast, das Gewissen hängt wieder mit dem Wissen zusammen, mit einer besonderen Art von Wissen, also auch mit Urteil und Gesetz; die Sprache ist ja so tief, so weise . . . und wer will es ergründen, was an Gewissen notwendig ist, um zu handeln! . . . es sind da unzugängliche Schächte . . .« Er schwieg, erschrocken über den funkelnd-begierigen Blick des Knaben. Der »waghalsige Sprung«, es war offenbar der Sprung ins Eiskalte. Nicht alle Organismen vertragen das Eiskalte, besonders den jähen Übergang nicht, dachte Camill Raff, durch Etzels Wesen in Spannung versetzt, sie leben ja nun alle mit dem Kopf, sie beschließen es wenigstens, es ist die offizielle Devise, wenn man will. Deshalb wohl hat ihn das neulich so verdrossen, der Vorwurf wegen Gefühlsüberschuß, das ist des Rätsels Lösung. Schön, schön, schön, besser, als ohne Kopf zu leben, besser, als mit dem Aufwand verbrauchter und verwässerter Gefühle, lauter Literatur, womit noch meine Generation glaubte, wunder wie fortgeschritten zu sein. Wir haben es nicht sehr weit gebracht mit der Politik des Herzens, das ist wahr; das sogenannte Herz ist zum zahlungsunfähigen Schuldner geworden. Diese Jugend mit ihrer Methodik, mit ihrer »geistigen Auseinandersetzung«, mit ihrer »Stellungnahme« – scheußliches Wort –, sie haben uns einstweilen gehandicapt, wie sie sagen, und wir müssen froh sein, wenn sie noch einen Bissen Brot von uns nehmen. Ich bin gar nicht sicher, daß sie sich dafür bedanken, wenn sie es tun.
Er seufzte. Und Etzel, als habe Dr. Raff seinen Gedankengang laut geäußert, lächelte. Vielleicht lächelte er nur, weil der andere geseufzt hatte, vielleicht aber hat er alles gespürt und begriffen, denn er hat einen entzückenden Verstand. Er spürt und umfängt diese ganze weite Welt, kennt alles, hat alles begriffen, darum lächelt er. Er blickt wieder vertrauensvoll zu seinem Lehrer auf und freut sich an dessen hübschem, jungem Gesicht. Eine Zeitlang gehen sie schweigend nebeneinander her. In seiner Vertrauenswallung macht Etzel auf einmal einige tastende Andeutungen, die etwas Licht auf seinen Zustand werfen und erkennen lassen, daß er sich in einer ernsthaften Krisis befindet. Er spricht von einem Zwiespalt, der ihn zum Entschluß drängt, und zwar zu einem Entschluß, der durchaus prinzipiellen Charakter tragen würde. Es handle sich, führt er mit seiner gestenreichen Beredsamkeit aus (ob er nicht von irgendwoher jüdisches Blut in den Adern hat? denkt Camill Raff zuweilen, wenn er die eifrigen Bewegungen, das heftig wechselnde Mienenspiel in dem brünetten Gesicht beobachtet), es handle sich nicht um Widersetzlichkeit, man könne sich nicht der Luft widersetzen, die man atmet, nur entziehen könne man sich ihr, und das sei eine kitzlige Sache, weil man doch nicht vorher wisse, ob man in der andern Luft, in die man dann gerate, besser werde atmen können. Also von Widersetzlichkeit sei nicht die Rede, von Widerspruch noch weniger. »Wo nicht gesprochen wird, ist auch kein Widerspruch, Sie verstehen, Herr Doktor, was ich sagen will. Ich bin in einer schauderhaften Zwickmühle. Ich muß mal sehen, wie ich aus der Zwickmühle herauskomme . . .« Er blieb stehen, drückte die Faust gegen die Brust und legte den Zeigefinger der andern Hand komisch ratlos an seine Nase.
»Nun, so sprechen Sie frei von der Leber weg«, ermunterte ihn Camill Raff, »bis jetzt haben Sie nur in dunklen Hieroglyphen geredet, mein Teurer . . .«
Etzel nahm einen Anlauf, kehrte sich Camill Raff zu und fragte: »Sagen Sie mal, Herr Doktor, gibt es eigentlich eine Kollision der Pflichten?«
Raff wiegte den Kopf. »Hm . . . das geht allerdings an uralte und vielumstrittene Probleme der Ethik«, antwortete er lächelnd.
»Sie weichen mir aus«, fuhr Etzel dringlich, fast flehend fort, »ich will das aber wissen. Gibt es eine Kollision der Pflichten, oder gibt es nur eine einzige Pflicht?«
»Sie müssen sich deutlicher erklären, Andergast«, sagte Camill Raff, in die Enge getrieben und erstaunt über den kategorischen Ton des Knaben.
»Gut«, nickte Etzel, »gut. Sie werden aber vielleicht die Erklärung nicht gelten lassen. Sie werden mir natürlich meine sechzehn Jahre vorhalten. Na ja. Jetzt bereits sechzehn Jahre vier Monate. Sie sind doppelt so alt, nicht wahr? Vierunddreißig? fünfunddreißig? So. Fürchterlich alt: fünfunddreißig. Mein Gott, schließlich sitz ich sechzehn Jahre auf demselben Fleck, in demselben Haus, in derselben Stube, ich bin kein Dummkopf, kenn mich mit den Menschen schon ein wenig aus, nur daß ich die Schererei mit meiner Kurzsichtigkeit habe. Werd mir halt eine Brille anschaffen, obwohl der Dr. Malapert nicht dafür ist . . . Ich denke: was verschlägt's, sechzehn oder neunzehn oder fünfundzwanzig, man kann nicht zuwarten und die Hände in den Schoß legen. Was ist mit dem Älterwerden denn gewonnen! Es gibt eben Fälle, wo es heißt: jetzt oder nie . . .« Er verhaspelte sich. Camill Raff, erstaunt und erstaunter, schaute ihn an. »Worauf wollen Sie also hinaus, Andergast?« forschte er mit halber Stimme und mit einer Empfindung, als müsse er den glühenden kleinen Menschen bei den Händen packen und ihm zurufen: Ruhe, Kind, eines nach dem andern, keine Überstürzung . . .
»Antworten Sie mir auf folgende Frage, Herr Doktor«, begann Etzel wieder und haschte im Eifer des Sprechens, wie er vor kurzem bei dem alten Maurizius getan, nach Camill Raffs Ärmel, »antworten Sie mir nur auf das eine. Ein Mensch sitzt viele Jahre im Zuchthaus. Es ist möglich, daß er unschuldig verurteilt ist. Es ist möglich, daß man den Beweis dafür schaffen kann. Darf man sich durch irgendeinen Umstand davon zurückhalten lassen? Darf man zögern oder überlegen? Gibt es da überhaupt eine andere Pflicht? Sagen Sie mir das, Herr Doktor; ja oder nein?«
Ja oder nein: wieder das Unbedingte, das enthusiastisch Unbedingte, die moralische Diktatur, und wieder sollte besinnungslos geantwortet werden, so wie der arme Robert Thielemann hatte besinnungslos antworten sollen (»der Tisch fliegt, der Vogel fliegt«); wie konnte das sein, wie konnte das ein Mensch, wie konnte ein Camill Raff seine Lebens- und Welterfahrung in den Wind schlagen und einen unmündigen Knaben in Gott weiß welcher gefährlichen Tollheit bestärken? Dennoch war da etwas, das den Lebens- und Welterfahrenen bis in die Grundfesten erschütterte. Alles geriet ins Wackeln wie bei einem Erdbeben; Vorsicht, Rücksicht, Furcht vor den Folgen, Wissen um die Vergeblichkeit, alles fiel zusammen, und nur der kleine, glühende Mensch blieb stehen mit seinem Ja oder Nein. So sagte denn Camill Raff wider Willen fast, in einer Art von Überwältigung, in einer Wallung von Trotz gegen die eigene Vernunft: »Man . . . ob man darf, Andergast . . . ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, ob man darf oder soll . . . Sie vielleicht . . . Sie dürfen und sollen es vielleicht . . .« Er stockte. Etzel sah ihn mit einem strahlenden, strahlend-dankbaren Lächeln an. Schweigend gingen sie noch ein Stück Wegs zusammen, schweigend trennten sie sich, mit einem Händedruck.
Was wird da? dachte Camill Raff, und die Ernüchterung stellte sich ein, Bedenken über Bedenken. Was hat der Knabe vor? Müßte man nicht als gewissenhafter Lehrer den Vater warnen? Das hieße aber die Freundschaft des merkwürdigen Jungen für immer einbüßen und sich selbst in seinen Augen zum Lügner und Schönredner machen. Was hat er nur vor, dieses halbe Kind? Den Sprung ins Eiskalte? Camill Raff fürchtet, der Sprung ins Eiskalte wird dem zarten Gefäß unheilbaren Schaden zufügen. Unerfindlich, was den Knaben so augenscheinlich aus unbefangenem Weben in eine Zielrichtung getrieben hat. Ein sechzehnjähriger Geist muß frei rotieren, sagt er sich, muß sich in der Illusion von Grenzenlosigkeit bewegen; wird er aus der Freiheit von Traum und Spiel in die Zweckbahn gezwungen, so fängt er an zu leiden, unvermeidlich, weil er ahnt und bald zu spüren bekommt, daß er auf die beglückende Wirrnis, die beglückend-unermeßliche Fülle zu verzichten hat, für die ihn das Leben nie wieder entschädigen kann.
Die Generalin hatte einen Schreck wie seit langem nicht, als Etzel die dreihundert Mark von ihr erbat. Er kam an einem gewöhnlichen Werktag, überfiel sie sogar in ihrem Atelier, wo sie an einem Blumenstück pinselte, umhalste sie und brachte in einem einzigen atemlosen Satz, ohne Einleitung, ohne Vorbereitung sein Anliegen vor. Eine Weile wußte die alte Dame nicht, was sie sagen sollte. Sie legte die Palette weg und starrte den Enkel entsetzt an. »Bist du wahnsinnig, Kind?« fragte sie mit blassen Lippen, »woher soll ich denn mir nichts, dir nichts so viel Geld nehmen? Und wozu willst du es haben? Auch wenn ich dir's geben könnte, wenn ich's entbehren könnte, wie sollt ich so eine Unbesonnenheit vor mir selber verantworten? Ich käme mir ja wie in einem sträflichen Komplott vor.« Na ja, drückte Etzels brennend-ungeduldige Miene aus, das wußt ich natürlich, das muß gesagt werden; warten wir, bis das Sprüchlein zu Ende ist. Als es zu Ende war, ließ er sich auf die Knie nieder, nahm die schmalen, weißen, kleinen Hände der alten Frau in seine nicht weniger schmalen und kleinen, obschon brauneren, und die Ungeduld in seinen Zügen verwandelte sich in einen Ernst, den die Generalin noch nicht darin wahrgenommen hatte und der sie mit einemmal um die komfortable Überlegenheit brachte, die ihr die Natur durch den Vorsprung von siebenundfünfzig Jahren ohne weitere Bemühung eingeräumt hatte. Wenn er ihr keinen Grund für sein Verlangen angibt, so ungefähr beginnt Etzel, geschieht es, weil sie den Grund weder billigen dürfte noch begreifen könnte. Weil sie dann das verhindern müßte und verhindern würde, wozu er das Geld nötig hat. Gewiß könnte sie auch jetzt schon hingehn und ihn denunzieren, da er sich durch seine Bitte bereits in ihre Hand gegeben hat. Aber das wird sie nicht tun. Nein, das wird sie niemals tun. Es wird ihr keinen Augenblick einfallen, daß er es zu einer schlechten Handlung braucht, dieses Geld. Sie sehe ihn bloß an, hier kniet er vor ihr, glaubt sie was Schlechtes? Nein. Er hat keine Schulden, er will sich nichts dafür kaufen. Soll er's beschwören? Nein. Ehrenwort geben? Nein. Er besitzt keine andere Ehre vor ihr als die in seinem Vor-ihr-Knien drinsteckt. Also. »Hör zu, Großmama. Hör mir gut zu. Wir verlieren keine Silbe darüber. Du leihst mir das Geld. Wenn ich mündig bin, geb ich dir's zurück. Lach nicht. Es ist noch eine Ewigkeit bis dahin, selbstverständlich, aber ich bin dir sicher, trotz der Ewigkeit.« (Er hatte wohl die Vorstellung, daß er mit den dreihundert Mark fünf Jahre lang reichen werde, immerhin ein ergötzlicher Zusammenprall von Zeit- und Geldbegriff; doch die Generalin lachte gar nicht, sie schüttelte nur leise den Kopf.) Er schloß: »Du siehst, ich schmeichle nicht und bettle nicht, ich komm zu dir, weil . . . einfach, weil ich eben niemand sonst auf der Welt weiß.«
Die Generalin legte den kleinen Finger ihrer Linken quer über ihre Lippen und rührte sich minutenlang nicht. Dann stand sie auf, winkte Etzel, ihr zu folgen, und ging in ihr Schlafzimmer, das weißlackierte Möbel, einen bis zum Boden fallenden Baldachin über dem Bett hatte und überhaupt aussah wie das Schlafgemach eines siebzehnjährigen Fräuleins. Sie trippelte zu einem Wandsekretär, öffnete ihn, entnahm ihm eine mit Perlmutter inkrustierte Kassette, sperrte sie mit einem goldnen Schlüsselchen auf, das sie an einem Band um den Hals trug (alles das erinnerte Etzel an eine Märchenfigur und einen Märchenvorgang), zog fünf Hundertmarkscheine heraus, zählte sie ab und reichte dem Knaben drei. »Es ist das Geld für den ganzen Monat, die fünfhundert«, sagte sie mit niedergeschlagenen Augen, »mitsamt der Miete. Es kommt mich hart an, Junge. Ich bin recht beschränkt in den Mitteln, mußt du wissen; aber keinen solchen Unsinn mehr von Wiedergeben und dergleichen. Ich denke, daß du . . . ich will glauben . . . es ist ja seltsam, alles. Mir ist recht eigentümlich ums Herz, Etzelein . . .« Etzel näherte sich ihr fast demütig, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie mitten auf den Mund. Dann sah er ihr mit jenem unbeschreiblichen Ernst, der sie schon einmal konsterniert hatte, in die Augen und flüsterte ihr zu: »Leb wohl, alte Großmama.« Als sie aufschaute, war er schon zur Tür draußen.