Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Maurizius ging zweimal mit seinen schleichenden Schritten längsseits durch die Zelle, bevor er sich wieder hinsetzte und fortfuhr: »Wenn ich mich heute frage, nach mehr als zwanzig Jahren, wo ich doch Zeit hatte, hinlänglich Zeit, alles nach allen Seiten zu überlegen, alle Schächte und Verästelungen zu durchforschen, wenn ich mich nach dem eigentlichen, dem tiefsten Beweggrund frage, der Waremme bei seinen Eröffnungen geleitet, so weiß ich keine befriedigende Antwort darauf. Möglich, daß er mich vorbereiten, einer Andeutung oder einem Gerücht von irgendwoher zuvorkommen wollte. Aber hatte er denn das zu fürchten? Von Anna hatte er nichts zu fürchten, und von dem mysteriösen Angelo, nun, ich glaube, es ist überflüssig zu sagen, daß der ein Popanz war. Sonstige Eingeweihte gab es nicht. Kein Mensch auf der Welt hatte eine Ahnung, hatte auch nur einen Verdacht in der Richtung. Und wozu mich vorbereiten? Was hatte er von mir zu fürchten? Ich war schon durch die Rücksicht auf Ruf und Person meiner Schwägerin wehrlos gemacht. Ich hätte ihn vielleicht im Zorn töten können, aber davor schützte ihn wieder die schlaue Berechnung nicht. Er mußte sich ja ziemlich sicher fühlen, sonst hätte er kein so verwegenes Spiel mit mir gewagt. Das alles war es nicht, eher wollte er mich vielleicht abschrecken. Er hatte längst bemerkt, daß mein Verhältnis zu Anna immer herzlicher und vertraulicher wurde, da wollte er einen Riegel vorschieben und mir zu verstehen geben: an die rühr nicht hin, die kannst du nicht erbeuten, da sind Hindernisse, deren nicht einmal ich Herr werde, um wieviel weniger du, und du siehst selbst, daß ich mich auf hilfreiche Freundschaft beschränke, für anderes ist da kein Raum, anderes zu hoffen verbietet sich für jeden, der nicht ein gewissenloser Schuft ist. Es hätte zu seinem Charakter gestimmt, in einem Nebenbuhler, den er im Grund nicht einmal ernst nahm, auf Umwegen den Elan zu brechen. Ich sage das aus meiner nachherigen Erkenntnis, damals war ich ja verblendet, obwohl mir Argwohn über Argwohn aufstieg. Ich mußte beständig an seine unheimliche Suada denken, mir war, als habe er sich mir nur in einer großartigen Pose zeigen wollen, und sooft ich mir seine Erschütterung, seinen Schmerzensausbruch ins Gedächtnis rief, spürte ich darin dieselbe Meisterschaft wie beim Vortrag der Shakespeare-Szene. Beides stammte wohl aus der gleichen Quelle, es war müßig, eine Absicht, einen Plan, einen Zweck dahinter zu suchen. Es war vielleicht der unbändige Trieb nach Selbststeigerung und Selbstgenuß, ein gewisses Lebenspathos war ihm zweite Natur, unter Umständen stürzte er sich auch in Gefahr dafür. Vielleicht war sogar das Ganze ein Phantasieerzeugnis, eine Mystifikation, eine Waremmesche Dichtung, auch das war möglich. Mit dieser Vermutung hatte ich freilich unrecht. Bis dahin hatte ich geglaubt, daß er mich liebte, jedenfalls mich vielen andern vorzog, ich hatte genügend Ursache, es zu glauben, jetzt auf einmal schien es mir, daß er mich haßte, und zwar mit einem unergründlichen, heimlichen Haß, der ihn zu allem fähig machte, weil er zu allem fähig war, im Bösen wie im Guten, die Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen: auch im Guten, ja, auch im Guten, aber warum, der Haß? warum? Ich weiß es bis heute nicht, denn aus der Eifersucht allein kann ich ihn mir nicht erklären, dazu war er ein zu despotischer Mensch, viel zu sehr von seiner Größe und Überlegenheit durchdrungen. Ich fand also nirgends Anhalt, nirgends Boden, ich trieb mich tagelang sinnlos herum, am liebsten hätte ich mich versteckt, ich hatte Angst vor dem Wiedersehen mit Anna, als müßt ich verhindern, daß sie ein gewisses Bild in meinen Augen erblickte, das mich verrückt machte. Ich benahm mich wie einer, dem ein Lionardo oder ein Rubens, das Kostbarste, was er besitzt, von Bubenhänden besudelt worden ist, als wär ich Eigentümer von ihr gewesen, als hätt ich das verbriefte Recht auf ihre Unberührtheit gehabt, als hätt ihr das nicht zustoßen dürfen, weil ich auf der Welt war. Ich war zerrissen, einfach entzweigerissen; vor der Arbeit graute mir, ich fand an keinem Ort Ruhe, ich konnte mit keinem Menschen fünf zusammenhängende Sätze reden, und das Leben an Ellis Seite wurde zur Qual, so verständig und gütig sie sich auch anfangs benahm. Ein paar Wochen später wurde das anders. Nun, so konnt es mit mir nicht weitergehn, ich mußte mir Luft verschaffen, ich mußte mit Anna sprechen und wenn das größte Unheil daraus entsprang. Ich war nie imstande gewesen, etwas zu verbergen. Jeder konnte von meinem Gesicht ablesen, was in mir vorging. Es fiel mir schwer, ein Geheimnis bei mir zu behalten, oft setzte ich mich dadurch ernsten Verlegenheiten aus, es war mir aber nicht bequem, es störte und bedrückte mich, aus purem Egoismus wurde ich indiskret und täuschte ein Vertrauen, das man mir geschenkt hatte, deswegen galt ich auch für unzuverlässig, und mit Grund. Hier hatte ich schon über meine Kraft geschwiegen, ich sagte mir: Es ist Blendwerk, das dich zum Schweigen verhält, die lähmende Fessel abzustreifen ist Pflicht gegen Anna wie gegen dich selbst. So bat ich sie eines Tages um eine Unterredung, und sie ließ mich zu sich kommen. Sie ahnte schon lang, was mit mir los war. Ich hatte oft zu spüren gemeint, daß es in ihr kämpfte und gärte, als wolle sie was bekennen. Doch Menschen von ihrer Art bekennen nicht, schon gar nicht aus freien Stücken, eher lassen sie sich foltern. Wenn mir ihre Gestalt und ihr Wesen so recht inbrünstig zur Vision wurde, zweifelte ich nie daran, daß etwas Schauriges ihren Weg gekreuzt und sie für immer gezeichnet hatte. Und wenn ich so nah war, daß ich dachte, ich müsse bloß hingreifen, um sie zu nehmen und aufzuschließen, verlosch sie wie ein Licht und wurde ganz kalt, ganz konventionell. Viele Wochen später gestand sie mir, daß sie das Verbrechen, das an ihr verübt worden, ich nenne es Verbrechen, sie umschrieb es scheu oder benannte es überhaupt nicht, daß sie es nicht einmal in der Beichte bekannt habe. An dem Tag nun, als wir allein in ihrem Zimmer waren und ich mich versichert hatte, daß wir nicht gestört und belauscht werden konnten, nahm ich allen Mut zusammen und begann ohne Umschweife, Feiglinge gehen immer direkt aufs Ziel los, begann direkt zu fragen, ob das und das wirklich passiert sei. Ich bediente mich natürlich auch des unbestimmten Hinweises, dem es ja an der nötigen Bestimmtheit nicht fehlte. Sie zuckte ein wenig zusammen und schaute ins Leere. Das Gesicht bekam einen Ausdruck finsterer Verstocktkeit. Einmal sah sie nach der Tür, als erwäge sie, ob es nicht vorzuziehen sei, das Zimmer zu verlassen. Ich haschte nach ihrer Hand, sie verschränkte die Arme über der Brust und preßte die Lippen aufeinander. Ich sagte: Hör mich an, zwischen uns, Anna, kann das nichts ändern. Sie schwieg. Ich sagte: Du mußt verstehen, daß ich nichts dazu getan habe, es zu erfahren, aber da ich's nun einmal weiß, kann ich dir vielleicht helfen, es zu verwinden. Sie schwieg. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich alles noch vorbrachte, ich glaube, ich sprach sogar davon, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Sie schwieg und schwieg. Ich hatte das Gefühl, einer Tauben gegenüber zu sitzen. Ich sagte: Anna, wenn dir so viel an mir liegt wie an dem Nadelkissen da auf dem Tisch, so sag mir, was ich für dich tun soll, oder wenigstens, wie ich mich dazu stellen soll, oder ob du mir erlaubst, mit dir davon zu reden, irgend etwas, irgend etwas, nur sitz nicht da wie der Sphinx und laß mich Ödipus spielen. Sie schwieg. Da griff ich nach meinem Hut und wollte fortstürzen. Da machte sie eine kleine Bewegung mit dem Arm, aber so unscheinbar sie war, so viel Bitte und Beschwörung war darin enthalten. Da sagt ich mit gefalteten Händen: Anna, ist es wahr, sag nichts als ja oder nein. Da sagte sie tonlos: Ja. Da sagt ich: Gut, nun ist alles gut, nun hast du mir doch gezeigt, daß ich dir einer Antwort wert bin, jetzt sag nur noch: Ist es dir eine Last, eine Kränkung, meine ich, eine Lebensverdunkelung? Sie nickte. Das ergriff mich namenlos, das Nicken. Ich fragte weiter: Du hast also das Gefühl, daß du nicht darüber wegkommen kannst? Wieder das Nicken. Ich kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hand, die sie mir diesmal ohne Sträuben überließ. Und ist er es, fuhr ich zu fragen fort, ist seine Person die Ursache dieser Verdunkelung? Sie bejahte. Und kann ich etwas tun, um dich davon zu befreien, von ihm oder von der Drohung oder nur von dem Druck, der von ihm ausgeht? Sie flüsterte nachdenklich, mit zuckendem Mund: Vielleicht. So sage mir, wer es ist! frag ich, nenn mir seinen Namen. Da stand sie auf und trat einen Schritt zurück. Ach, murmelte sie gedehnt und lachte seltsam hochmütig oder verächtlich, das weißt du nicht? Du weißt nicht . . .ja, was willst du denn von mir? Auch ihr Blick war hart und böse geworden. Jetzt war die Reihe an mir, zu verstummen. Was hatte das zu bedeuten? Stellen Sie sich vor, wie vernagelt ich war, wie behext, daß ich trotz meines Argwohns, der freilich nur dann erwachte, wenn ich Waremme ein paar Tage nicht gesehen hatte, daß ich in meinem Innern noch immer nicht den Mut fand, ihn zu bezichtigen. So aufregend und verstörend es einerseits für Anna war, daß Waremme mich zum Vertrauten gemacht und sie damit skrupellos verraten hatte, so sehr fühlte sie sich andererseits mir gegenüber erleichtert, das erkannte ich nunmehr deutlich. Aber davon hatte sie sich natürlich nichts träumen lassen, daß er über seine anscheinend so ekstatischen Enthüllungen ein süßliches Lügengebräu gegossen hatte, denn die Umwegigkeit und Winkelzügigkeit eines andern Menschen, wenn wir ihn auch noch so genau kennen, tritt nie völlig ins Bewußtsein, sie bleibt eben nur Kenntnis. In dem Augenblick, wo sie sich so verletzend schroff von mir abkehrte und nur immer halblaut hervorstieß: Geh schon, so geh schon, es ist ja schrecklich, daß du noch da bist, in dem Augenblick kam mir die Erleuchtung, und ich schrie es fast hinaus: Also doch er! Sie sagte nichts. Sie trat ans Fenster und ließ abermals das ganz leise Lachen hören, das zugleich hochmütig und verzweifelt klang. Nun gut, sagte ich und hatte das Gefühl, bleich zu werden bis in den Schlund hinunter, da ist nichts zu überlegen, ich sehe klar, jetzt kann ich handeln, du wirst nichts mehr von ihm zu fürchten haben. Damit ging ich. Von einem Kaffeehaus in der Nähe rief ich Waremmes Wohnung an, erkundigte mich, ob er zu Hause sei. Es hieß, er sei nach Bingen gefahren, käme erst anderntags zurück. Oh, meine Wut und Ungeduld. Am gleichen Abend schickte mir Anna einen Zettel, darauf stand: Unternimm nichts, es ist alles vergebens, du hackst dir nur ins eigene Fleisch. Nein, meine Liebe, dacht ich, jetzt gibt's kein Ducken mehr, diesmal soll er mich nicht um den Verstand schwatzen, diesmal kommt's zum Austrag, so oder so. Wie ich mir das So-oder-So vorstellte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls machte ich wieder die Rechnung ohne den Wirt. Hören Sie denn, wie es ging, wie schändlich, wie erbärmlich die Rechnung mit dem Wirt ausfiel. Vor allem verzögerte sich Waremmes Rückkehr um zwei Tage. Ich war damals kein Mensch, der durch Warten stärker wird. Inzwischen schrieb Pauline Caspot, Hildegard liege krank am Scharlach. Ich, in erstickender Angst, bestürmte Anna, nach Hertford zu fahren. Sie sagt, sie kann nicht, sie hat die Kraft nicht. Es schweben zudem Verhandlungen mit einem Frankfurter Pianisten, bei dem sie eine Art Prüfung ablegen soll. Elli besteht mit feindseliger Hartnäckigkeit darauf, daß sie in einen regelmäßigen Beruf kommt, bald soll sie malen, bald Klavierlehrerin werden, bald Sprachen studieren, bald sich als Modistin etablieren, es ist höllisch, eine ewige Schikane. Dienstag war das Gespräch mit Anna, am Freitag kam Waremme zurück. Als ich gegen elf Uhr am Kasino vorüberging, stand er am Tor und unterhielt sich mit mehreren Herren. Er eilt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, als hätt er mich jahrelang nicht gesehen und sich nach mir gesehnt wie nach einem Bruder. Ich, schwindlig vor Aufregung, sage: Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Waremme. Er blickt mich scharf an, die Brust wird straff, das Kreuz hohl, und er sagt: Ich begreife, Sie haben mein Vertrauen mißbraucht, Ihre Zunge nicht im Zaum halten können, gut, gehen wir zu mir. Er ruft eine Droschke, wir fahren in seine Wohnung. Was steht dem Herrn zu Diensten? fragt er kalt und spöttisch, als wir das Zimmer betreten haben. Ich sollte Sie einfach niederknallen, Waremme, sag ich, aber vielleicht ist's schade um die Kugel, ich möchte den Skandal vermeiden und überlasse es Ihrer Findigkeit, mir eine andere Lösung vorzuschlagen, eine Genugtuung für Annas Ehre. Sie sehen schon aus diesen Floskeln, daß meine Entschlossenheit bereits gebrochen war. Er antwortet mit einem Achselzucken und sagt würdevoll: Ich verstehe keine Silbe, reden Sie wie ein vernünftiger Mensch. Außer mir ruf ich ihm zu: Wie weit wollen Sie die Komödie noch treiben, oder soll ich noch immer glauben, daß Angelo und Waremme zwei verschiedene Persönlichkeiten sind wie Ahriman und Ormuzd? Bekennen Sie wenigstens Farbe und lassen Sie uns die Sache erledigen, wie es sich unter Männern ziemt, oder ziehen Sie die Hundspeitsche vor? Er erblaßt, fährt sich mit der Hand an den Hinterkopf, sieht mich mit einem mitleidigen Erstaunen an, das mich gänzlich irritiert. Unter Männern? Nein, sagt er, benehmen Sie sich erst wie ein Mann und nicht wie ein dummer Junge, bitte, bitte, wehrt er mit beiden Händen ab, als ich auf ihn losstürzen will, das sind Wirtshausallüren, wenn Sie aber nach dem Komment verfahren wollen, ist ja dieser Dialog überflüssig. Hören Sie mich in Ruhe an, nachher können Sie mir meinetwegen Ihre Zeugen schicken, ich stehe zur Verfügung. Und nun kam das Unfaßliche, Unbeschreibliche, eine oratorische Leistung, wie ich sie nie wieder erlebt habe, dagegen war sogar Ihr Plädoyer vor den Geschworenen ein hilfloses Stammeln. Daß ich mich erkühne, ihn zu beschuldigen; worauf ich die Beschuldigung stütze? Auf Annas Anklage? Nein; auf ihre Andeutung bloß? Andeutung in Worten? Nein? auf stummes Zugeständnis? Darauf allein? Das hielte ich für ausreichend, ihn, ihn, Gregor Waremme wie ein Hausknecht anzupöbeln? Es sei ihm fern, Anna herabzusetzen, ihr Wille zur Wahrheit sei so wenig zu bezweifeln wie ihre Lauterkeit, aber hätte ich denn keine Augen im Kopf, daß ich nicht sehen könne, wie es um sie stünde? Dann möge ich mich gefälligst informieren, jeder psychiatrische Dilettant könne mir Aufschluß über die einschlägigen Erscheinungen geben. Oder haben Sie, Herr Privatdozent, fragt er mit zurückgeworfenem Kopf, niemals von psychomotorischen Hemmungen gehört, Zuständen, die sich bis zu katatonischem Stupor steigern können und von denen wir wissen, daß eine heftige Gemütserschütterung einen monatelangen Widerstand jäh zu durchbrechen vermag, verhängnisvoll oft für die Umgebung –? Niemals von Erinnerungsfälschungen und Störungen der Phantasie, wo die völlige Gleichheit der Situation in aller Unschuld mit einer Person aus einem fremden Handlungskreis verquickt wird? Erkundigen Sie sich, nehmen Sie einen Kursus an unserer Klinik. Leider seien ihm, fährt er mit der schmerzlichsten Bewegung fort, diese Phänomene an Anna nichts Neues. Seit Jahren habe er seine Kräfte ihrer Bekämpfung gewidmet, mittels einer sorgsam erprobten seelischen Therapie sei es ihm gelungen, sie zu mildern, ja zuzeiten ganz auszuschalten, auf rohe Überrumpelung eines Dritten sei er nicht vorbereitet gewesen. Er habe mir doch so ernst, so heilig die zarteste Schonung nahegelegt, hätte er doch geschwiegen, hätte er sich doch lieber bis zur Sinnlosigkeit betrunken an jenem verfluchten Abend, wie hätte er sich auch denken können, daß ich, der Freund, der differenzierte Geist, der ahnende Mensch, mit Bauernfingern die zitternde Blüte zerdrücken würde. Das sublime Geschöpf, rief er unter Tränen, so adlig, so verletzlich, außen und innen von gleicher Schönheit, nur an der einen Stelle wund und leidend, kann man das nicht spüren, ist ein Maurizius nicht Künstler, nicht Dichter genug, um zu hören, was hinter den Worten, und zu sehen, was hinter dem Augenschein liegt? Um Gottes willen, Waremme, sag ich, verzeihen Sie, vergessen Sie, raten Sie mir. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was darauf erfolgte, ob er sich an diesem Tag schon mit mir aussöhnte oder erst am nächsten. Das jedenfalls war das Ergebnis. An dem Tag hatte er doch wenigstens noch alles aufgeboten, mich von seiner Schuldlosigkeit zu überzeugen, oder soll ich sagen, mich durch einen beispiellosen Temperaments- und Wortsturm zu der Überzeugung zu vergewaltigen, denn das war er seinem ganzen Wesen nach, Vergewaltiger. Sechs Wochen später, bei der zweiten großen Auseinandersetzung, wo er es gar nicht mehr für nötig erachtete, mir das schaurig erlogene oder, was schlimmer ist, halberlogene Bild einer Gemütskrankheit vorzuhalten, war ich vollends zu Wachs in seiner Hand geworden, wie ein Vampir hatte er Willen und Entschluß aus mir herausgesaugt, und ich nahm als Schicksal hin, was er mir zubereitet hatte. Aber so weit bin ich noch nicht. Das war also am Freitag, am zehnten Februar, glaub ich. Alle diese Daten sind in mein Hirn gerammt wie Meilensteine. Am Sonntag war Anna bei uns zu Tisch. Nach dem Essen hatte Elli einen Streit mit ihr, die Ursache weiß ich nicht mehr, nur daß Elli im Unrecht war, weiß ich, und daß Anna sich mit ungewöhnlich ruhigen und treffenden Argumenten verteidigte. Sie war so still wie ein See im Gebirg vor dem Gefrieren. Ihre Stimme quälte mich, ihr ganzes Wesen quälte mich, dieses, wie soll ich's nennen, man muß da immer dieselben Ausdrücke gebrauchen, dieses geheimnisvoll Durchsichtige, das dennoch nichts sehen ließ. Ich ging erst in den Garten hinunter und lief wegauf, wegab, als ich sie dann am Balkonfenster gewahrte, winkte ich ihr, sie besann sich eine Weile, lächelte mir zu und kam dann. An der Eingangstreppe glitt sie aus, ich sprang hinzu und fing sie noch rechtzeitig in meinen Armen auf. Ich erwähne das nur, weil es das eine von den drei Malen ist, wo ich sie in meinen Armen hielt. Sonst werde ich über den Punkt nicht sprechen. Wir promenierten eine Weile, ich abgehackt von allem möglichen plaudernd, sie nach ihrer Art schweigsam, doch hatte ich gleich das Gefühl, daß sie etwas Bestimmtes von mir zu hören erwartete. Es war schließlich ebenso, als hätte sie mich laut gefragt. Da sagte ich zu ihr in meinem geradezu verbohrten Hang, ehrlich und offen gegen sie zu sein, ich konnte gar nicht anders, so wenig Beschwer mir sonst das Lügen machte, sie zu belügen bracht ich nicht fertig, da sagt ich also: Ich habe mit Waremme gesprochen, der Verdacht, den du in mir erregt hast, ist unbegründet, ich bin auf die falsche Fährte geraten, ich gab den Rest meines Lebens drum, wenn du mir sagtest, wer es gewesen ist, denn er kann es doch nicht gewesen sein, nicht wahr, das ist doch unmöglich, Anna. Da wurde ihr Gesicht so weiß wie Porzellan, die anmutige Ruhe, die eben noch darauf geweilt, wich einer haßerfüllten Verzerrung, sie blieb stehen und flüsterte vor sich hin: Wie widerwärtig ihr mir seid, o Gott, wie unsäglich widerwärtig, du und er und deine Frau und alle. Ich erschrak bis ins Herz, in meiner Dummheit begriff ich nicht, in welchem Licht ich mich ihr gezeigt hatte, und sehen Sie, von dem Tag an begann das Gräßliche, wogegen alles Vorhergehende Kinderspiel war und was man nie mehr verwinden und vergessen kann, wenn man es einmal durchgemacht hat.«
Er erhob sich, ging zu dem eisernen Ofen und legte die flachen Hände auf den Rost, als sei ihm kalt und der Ofen sei geheizt. Herr von Andergast nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche, öffnete es und sah, daß es leer war. Er ließ den Wärter kommen und befahl ihm, Zigaretten zu besorgen. Es dauerte eine Viertelstunde, ehe der Mann zurückkehrte. Während dieser Zeit stand Herr von Andergast am Fenster und schaute in den Hof, wo gerade die sechste Spaziergängergruppe ihren tristen Rundgang beendete. Ich werde das Auto für zwei Uhr bestellen, überlegte er, ich muß Herrn Pauli unten ersuchen, daß er ans Büro telephoniert, damit man weiß, wo ich bin, sollte sich Sophia inzwischen gemeldet haben, so werde ich die Unterredung für eine frühe Abendstunde anberaumen, vielleicht hat sie in den letzten Tagen Nachricht von dem Jungen, es ist, obwohl unwahrscheinlich, nicht ganz ausgeschlossen, in dem Fall würde die Zusammenkunft ihre giftigste Spitze verlieren, brauchte möglicherweise überhaupt nicht stattzufinden. Aber diese häuslichen und amtlichen Gedanken waren nichts als eine halbfreiwillige Verhängung eines andern Denkkreises und glichen dem schweißigen Hauch, den sein Atem auf der Fensterscheibe erzeugte. Als der Wärter die Zigaretten gebracht und sich nach strammem Hackenschlagen entfernt hatte, bot Herr von Andergast dem Sträfling eine an, doch Maurizius, der jetzt erst die Hände von dem kalten Rost nahm, verbeugte sich steif und sagte: »Später, wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen.« Herr von Andergast selbst hatte keine Lust zu rauchen. »Die Zeit, die Sie mit Ihren letzten Worten im Auge hatten, erstreckt sich also von Mitte Februar bis zum . . . zum Oktober«, suchte er mit einer resümierenden Trockenheit, die ihn eine Sekunde lang selbst peinlich berührte, die Mitteilungen des Sträflings wieder in Gang zu bringen. In dem Streben nach unbefangener Haltung, obgleich Unbefangenheit etwas war, womit zu operieren sich jetzt nicht mehr verlohnte, durchpflügte er vom Adamsapfel aufwärts den grauen Kinnbart, indes der veilchenblaue Blick unstet durch die Zelle wanderte und an allem flüchtig haftenblieb, nur nicht an der Gestalt ihres Bewohners.
Maurizius hob die innere Rostplatte empor, starrte in das schwarze Loch hinein und deckte es wieder zu. »Ja, es war eine perfekte Zermalmungsprozedur«, begann er, »wo jeder zugleich Rad und Geräderter war. Zwei oder drei wirkten immer zusammen, um den dritten oder vierten zu zermalmen. Eine nette Maschinerie. Anna zwischen mir und Waremme, Elli zwischen mir und Anna, Anna zwischen Elli und mir, ich zwischen Anna und Waremme, und Elli zwischen allen dreien. Das ging Tag für Tag, Woche um Woche bis ans entsetzliche Ende. Wenn Sie mir jetzt doch eine Zigarette geben wollten, wäre ich Ihnen dankbar.« Er rauchte eine Zeitlang schweigend. Bisweilen flackerte sein Blick unsicher empor. Er schien nachzudenken, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, das, was er zu berichten sich anschickte, verständlich zu machen. Es stellte sich ihm wahrscheinlich noch jetzt als etwas hoffnungslos Verworrenes dar. »Ich kannte mich zunächst nicht mehr aus mit Anna«, fuhr er fort, »bis in den März hinein ließ sie sich nur zwei- oder dreimal bei uns sehen und wählte immer die Stunden, wo ich nicht daheim war. Von Elli hörte ich, daß sie sich in der allerbesten Stimmung befand, sich verschiedene neue Toiletten hatte machen lassen und Tees und Bälle besuchte, angeblich mit Freundinnen, in Wirklichkeit traf sie an all den Orten mit Waremme zusammen. Und je mehr sie mich und unser Haus mied, je eifriger warb Waremme um mich, als lege er auf meine Gesellschaft den allergrößten Wert. Ende März publizierte ich meine Arbeit über den Einfluß der Religion auf die bildende Kunst von den Nazarenern bis Uhde, er schrieb darüber eine Besprechung in der Frankfurter Zeitung und verglich mich mit Justi, sogar, ziemlich übertrieben, mit Rohde und Burckhardt. Das ehrte mich natürlich und schmeichelte mir, obschon ich mir bewußt war und es auch zugestand, daß sein Anteil an den Ideen, die ich entwickelt hatte, nicht gering war. Aber auf einmal wurde von einem Plagiat gemunkelt, das ich begangen haben sollte. Als ich dem Gerücht nachging, hieß es: Waremme selber erzählt es überall. Ich stellte ihn zur Rede, er lachte mich aus und sagte: Kindskopf, kümmern Sie sich doch nicht um solchen Unsinn, Plagiat, das gibt es doch unter Geistern von Rang nicht. Am selben Abend, als wir im Kasino vom Spieltisch aufstanden, zog er mich beiseite und sagte mit amüsiertem Gesicht: Wissen Sie auch, wer die närrische Plagiatgeschichte aufs Tapet gebracht hat? Sie werden's nicht erraten, Ihre Schwägerin Anna; sie hat in einer meiner frühesten Schriften ein paar Sätze gefunden, die genau mit Ihrem übrigens sublimen Urteil über Feuerbach übereinstimmen, ich habe schon damals die eklektische Zweitklassigkeit dieses Malers konstatiert. Mir war das recht sonderbar, am Tag darauf fragt ich Anna, ob es wahr sei. Sie wußte kein Sterbenswort davon. Sie interessierte sich gar nicht für die Geschichte, sondern teilte mir nur in ihrer gefrornen Manier mit, Waremme habe sich vor einer Woche mit der Lilli Quästor verlobt, und in der vergangenen Nacht habe sich das Mädchen vergiftet. Ich hatte drei Tage vorher von der Verlobung gehört, obwohl sie noch nicht öffentlich war, da mir aber Waremme nichts davon gesagt, hatte ich es nicht zu glauben gewagt. Du siehst ja aus, Anna, als hättest du die Schuld an ihrem Tod, sagte ich entsetzt. Sie schaut mich mit einem bohrenden Blick an und erwidert: So ist es auch, du hast das Richtige getroffen. Und ich darauf: Anna, bedenk, was du redest. Nun kam heraus, daß sie einen Brief an das Mädchen geschrieben hatte, worin sie ihre älteren unumstößlichen Anrechte kundgab. Ich sagte: Das hast du geträumt, Anna, und leugnete leidenschaftlich, daß sie zu etwas Derartigem fähig sei, da kam ferner heraus, daß Waremme sie zu dem Brief gezwungen hatte. Er hatte sich mit der Verlobung übereilt, das Mädchen hatte ihn gelangweilt, die Vorteile, die er sich erhofft, hatten sich bei näherem Zusehen als illusorisch herausgestellt, ob er sie verführt hatte oder nicht, blieb ewig dunkel, kurz, er wollte sich aus der Affäre ziehen, dazu war ihm Anna gerade gut genug. Vielleicht war es auch ein Mittel, um auf sie zu wirken. Er kannte die Figuren, die er in seinem Schachspiel benutzte, aber diese Lilli Quästor war eine, die nicht mit sich spaßen ließ. Berechnung, Zwang, das sind bei einem solchen Menschen Begriffe wie leere Schalen. Dann war auch Berechnung, was später geschah, bis zum Mord, und war's doch wieder nicht, weil ein brennender Sturmwind drin war, ein vernichtendes Element, das kann der Mensch nicht berechnen, sogar der Teufel irrt sich da mit seiner Arithmetik, weil er ja auch seinen Anteil in die große Kassa wirft. Den brennenden Sturmwind, den begann ich nunmehr zu spüren, zuerst wehte er die Anna zu mir her, dichter als je zuvor, jeder Blick, jede Silbe war ein »Erlöse-mich-von-dem-Übel«, sie hatte Momente der Bangigkeit, daß ihr zumut war, als müsse sie in meine Brusttasche schlüpfen, um sich in Schutz zu bringen, wie sie einmal sagte, aber sie ertrug mich bloß, wenn ich sanft und gelassen war, jede zudringende Gebärde erschreckte sie maßlos. Wenn ich von Flucht redete, hielt sie mir in einer sonderbaren Weise die geöffnete rechte Hand mit der Spitze nach oben senkrecht entgegen, als sei Ellis Bild daraufgemalt, Ehebruch, das war ihr die Sünde der Sünden, ja, ich blickte ziemlich tief in ihr Inneres in dieser Zeit von Ende März bis zum achtzehnten Mai, denn mit dem Tag wurde wieder alles anders. Ich vergaß zu erwähnen, wahrscheinlich weil es einen triftigen Grund gibt, es nicht aus der Vergessenheit hervorzuzerren, denn es war der Tiefpunkt meiner Schwäche, meiner ehrlosen Unterwerfung, vergaß zu sagen, daß mir Waremme inzwischen klipp und klar zu verstehen gegeben hatte, daß die ganze Geschichte mit dem obskuren Angelo in Köln eine Erfindung gewesen, zu der er in der Not gegriffen habe, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden. Das Geständnis machte er mir auf einem Ausflug nach Bieberich, als wir uns in der Nacht im Wald verirrten und um den Mondaufgang zu erwarten uns auf einen gefällten Baumstamm setzten. Ich habe von meiner Schwäche und Feigheit ihm gegenüber gesprochen, aber in jener Nacht war er so aufrichtig und wahr, wie es seine dämonisch-hintergründige Natur überhaupt nur zuließ, er war ja ungemein eindrucksfähig, die Umgebung vermochte viel über ihn, eine Landschaft, die Finsternis in einem Wald, ich habe ihn einmal bei einem schweren Gewitter in einem Zustand gesehen, daß ich wirklich Erbarmen mit ihm hatte. Diese Gewitterfurcht, oder was es war, er erklärte sie mir dann sehr tief, hatte er übrigens auf Anna übertragen. Sie war wie ein flatternder Vogel, wenn ein Gewitter tobte. Während wir also auf dem Baumstamm kauerten und keiner des andern Gesicht sehen konnte, rückte er unvermittelt damit heraus, daß er keine andere Wahl gehabt, als mich mit der blümeranten Geschichte von dem sogenannten Angelo einzulullen, denn mich zum Feind und Hasser zu haben, hätte er nicht überwinden können. Jetzt, da ich durch so mannigfache Erfahrungen tiefer in sein Wesen gedrungen sei, habe er solchen Abfall nicht mehr zu gewärtigen, es sei mir so gut wie ihm bewußt, daß wir nicht bloß durch die wundersame Kreatur, die uns beiden das Höchste auf Erden sei, aneinandergekettet wären, sondern auch durch das machtvollste geistige Interesse, das zwei Männer in einem ernsten Augenblick der Geschichte zur Gemeinsamkeit aufriefe. Sachte, sachte, nicht so bombastisch, war mein Gedanke, dennoch lauschte ich atemlos, denn wer konnte dem Orpheuszauber seiner Rede widerstehen. Ehrlich gesagt, ich war auch schon grenzenlos müde von all dem Hin und Her und Auf und Ab, nichts überraschte mich mehr. So kam er auf seine Liebe zu Anna zu sprechen. Das riß mich doch aus der Apathie, er sagte Dinge, die mich schaudern machten. Ich kann die Worte nicht wiederholen, ich weiß sie nicht mehr, weiß nur, daß sie in mich hineinfielen wie ein Regen von glühenden Nägeln, weiß nicht mehr, was für Bilder und Gleichnisse er gebrauchte, weiß nur, daß ich mich währenddessen ein paarmal beklommen fragte: Kommst du denn daneben noch in Betracht? Er gab zu, daß er sie dort in der Theatergarderobe mit Gewalt genommen, aber hätt ich's nicht getan, sagte er, so hätte ich mich eine Stunde später erhängt. Ich glaubte es ihm. Obschon sie sich wie ein erzürnter Engel gegen mich wehrte, fügte er hinzu, die innerste Seele war schon mein, wie sie noch am heutigen Tag mein ist, und das wußte sie, das weiß sie. Er sei kein Räuber und karamasowscher Wollüstling, Blasphemie, von Verbrechen zu faseln, wo zwei Existenzen negiert würden, wenn ihre Zusammengehörigkeit negiert würde. Wir gingen dann, als der Mond endlich über den Wipfeln auftauchte, den ganzen Weg zur Bahnstation schweigend, nur einmal, nah am Ziel, blieb er stehen, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: Sie tun mir leid, Maurizius, Sie sind gezeichnet, wenn Sie nicht von ihr lassen, ist es Ihr Untergang. Ich spüre noch, wie mir das Herz in die Kehle stieg, als ich ihm erwiderte: Das ist eitel Windmacherei, Waremme, ich weiß, daß ich auf einem abschüssigen Weg bin, aber wenn mir Gott den Gefallen täte, Ihnen das Handwerk zu legen, wär mir leichter. Er zuckte die Achseln und erwiderte: Gott tut keinem den Gefallen, das Fatum zu korrigieren, das er für ihn bestimmt hat, ich bin auch nur ein Instrument. Sie werden zugeben, das war eine nicht alltägliche Unterhaltung, so wenig, daß sie sogar etwas von einem Kataklysma an sich hatte, es war aber auch die letzte, die ich mit ihm führte, von der mir Wort und Antwort genau im Gedächtnis verblieben ist, die andern sind im Nebel verschwommen, was wohl damit zusammenhängt, daß sich ringsherum das ganze Gefüge lockerte und es auf die Reden der einzelnen nicht mehr viel ankam.«
Er unterbrach sich, ging wieder, mit eigentümlich schiefer Hüfte, längsseits der Zelle zum Mauerwinkel, und als er weiterredete, geschah es wie inwendig, als habe er die Anwesenheit des Oberstaatsanwalts vollständig vergessen. Manchmal stieß er Sätze nur dumpf aus sich heraus, andere blieben Fragmente. Bisweilen unterbrach er sich, um stumm zu gestikulieren, blieb zum Beispiel mit der Hand an der Stirn stehen und schüttelte eine Viertelminute lang den Kopf. Alles dies hatte etwas Unheimliches und in seiner Art Ergreifendes. Er schien Mühe zu haben, die Ereignisse auseinanderzuhalten. Besonders über den Zeitpunkt, in welchem Elli den Verlauf verhängnisvoll entscheidend beeinflußte, herrschte in seiner Erinnerung keine solche Klarheit wie über die andern Vorgänge. Des bereits von ihm erwähnten achtzehnten Mai gedenkt er abermals, es scheint ein wichtiges Datum in seiner Beziehung zu Anna zu sein. (Herr von Andergast entsinnt sich, daß die vielbedeutende Inschrift auf der Photographie, die Elli im Schreibtisch der Schwester fand, von diesem Tag datiert war.) Es liegt eine fast angstvolle Scheu darin, wie er alles vermeidet, was auf Anna ein ungünstiges Licht werfen könnte, wenn er von den Begegnungen und Unterredungen spricht, die zwischen ihnen stattgefunden haben. Herr von Andergast kann nicht umhin, sich über eine Diskussion zu wundern, die ihn wie ein abergläubisch bewahrter Petrefakt anmutet. Er hat den Eindruck, daß ihm Anna an diesem achtzehnten Mai zum ersten und einzigen Male den unmißverständlichen Beweis einer Neigung gegeben hat, für die er ihr sonst nur spärliche und höchst fragwürdige Bestätigungen entreißen konnte. Vielleicht war es eine flüchtige Liebkosung, vielleicht ein in einer verlorenen Sekunde abgebettelter Kuß, in der krankhaften Überspannung seiner Gefühle überschätzt er das Almosen und zieht Folgerungen daraus, an denen sein Wahn vollends zerschellt. Aus seinen verworrenen Andeutungen ist aber zu schließen, daß Anna bei dieser Gelegenheit etwas mehr aus sich herausgegangen ist als vordem, zumal was ihre Beziehung zu Waremme betrifft. Vieles an dessen Haltung wird ihm erst durch Annas Versicherung erklärlich, daß es seit dem schändlichen Überfall in Köln zu keinerlei körperlicher Annäherung mehr zwischen ihnen gekommen ist, nicht zur geringsten Zärtlichkeit, auch zur leisesten Verständigung nicht, die ihm Hoffnung auf ihre Hingabe erwecken konnte. Das allerdings muß den Eitelsten, Eifersüchtigsten, Sinnlichsten, Besessensten und Entêtiertesten der Menschen außer Rand und Band gebracht haben. Daß sie sich nicht lösen kann, leugnet sie trotzdem nicht, daß sie mit gefesselten Gliedern und willenlosem Geist gegen ihn, immer gegen ihn gewendet ist, gibt sie verzweifelt zu. Sie zeigt ihm die Briefe, die er ihr im Lauf von anderthalb Jahren geschrieben hat, mehr als vierhundert Briefe, jeder zwölf, zwanzig, fünfundzwanzig Seiten lang, Ergüsse, Beschwörungen, Träume, Poesien, die sie erstarren und erbleichen machen, wenn sie bloß von ihnen spricht. Das war also der berühmte achtzehnte Mai. Ein paar Tage darauf berichtet ihm Anna in vollkommener Ratlosigkeit, daß Waremme ihr den Vorschlag einer Heirat gemacht hat. So unglaublich es klingt, der geschiedene Mann, Vater zweier Kinder, die irgendwo in der Fremde herumgestoßen werden, ohne nachweisbare Existenzmittel, der Verhöhner bürgerlicher Legitimität, der Spieler, der politische Abenteurer und Phantast, denn als solcher erweist er sich immer mehr, er will dies schon halb von ihm zerstörte Geschöpf an sein ruhlos-unsicheres, aufgewühltes, bodenloses Dasein schmieden, um sie völlig zu vernichten. Alles bäumt sich in Maurizius, aber er darf sich nicht rühren. Eine frommkatholische, alte Dame, vernimmt er, eine Freiin von Löwen, will ihr ein Heiratsgut von beträchtlicher Höhe aussetzen, doch soll sie sich vorher sechs Monate in ein Ursulinerinnenkloster zurückziehen. Immer unverständlicher, immer toller. Nein, er, Maurizius, darf nicht aufmucken, klebrige Nachrede spritzt ohnehin ihr Gift durch alle Gassen, er darf den Arm nicht zu ihrer Rettung ausstrecken, weiß er doch nicht einmal, ob sie von ihm gerettet werden will, nicht einmal, ob sie ihn liebt oder nur erträgt oder gar haßt, sowenig er weiß, ob sie Waremme liebt, fürchtet, verabscheut oder haßt. Man weiß nichts von ihr, man kennt sie nicht, man müßte ihr die Brust aufschlitzen und ihr Herz untersuchen. Diese Art Frauen, so bedünkt ihn heut, wo in der Kälte jahrzehntelanger, unerbittlicher Kritik das fließende Leben zu durchsichtigem Eis geworden ist, diese Frauen haben keinen Wesenskern, sie sind in einer unheilvollen Weise, unheilvoll einsiedlerisch und selbstisch, auf sich und ihr Schicksal beschränkt (er geht umher, gestikulierend): »Gefäß, dem wir erst den Inhalt geben, vielleicht auch die Seele, jedenfalls die Bestimmung und die Bewegung. Möglich, daß sie nur deswegen als unsere Opfer hinsinken, weil sie so narzißhaft in sich beruhen, und was ist denn das Narzißhafte? Etwas Körperloses im Grunde, und dafür, daß wir das Bild umarmen wollen, weil kein Menschenkörper da ist, dafür lassen sie uns büßen und machen uns verantwortlich bis zum Jüngsten Tag. So bringt man sich selber zum Opfer und wird der Narr der Frau Holle im Schnee.«
Es klang wie ein furchtbares letztes Gericht. »Und ähnlich war es ja mit Elli«, fuhr Maurizius fort, indem er die Augen geschlossen hielt, als rede er aus dem Schlaf, »ich entdeckte plötzlich, was Schwesternschaft ist, daß die Natur damit tiefe Geheimnisse aus ihrem Schoß kundgibt. Gerade weil solche Verschiedenheit zwischen beiden herrschte, als ob sie weltweit voneinander gezeugt wären, trat so viel Ähnliches, so viel Gleiches zutage. Gleiches . . . für mich war es nur in dem Sinn ein Gleiches, wie Kohle und Diamant ein Gleiches sind. Man muß bedenken, daß Elli . . . auch auf sie stimmte das mit der ichlosen Selbstischkeit, oder wie man es nennen soll. Ich will mich nicht reinwaschen, an mir ist nichts mehr zu retten, meine Person, die schalte ich aus, aber ich hatte da auf einmal keinen Menschen mehr vor mir. Eine Wölfin, eine blutgierige reißende Wölfin brach aus ihr heraus, als sie sich gegen die Schwester kehrte. Und eine unbarmherzige Wucherin, die auf Rückerstattung ihrer Darlehen mit Zins und Zinseszins besteht, als sie sich gegen mich kehrte. Das Gerüst barst auseinander. Wunderbar, was man Haltung heißt an einem Menschen . . . das Gerüst . . . da war keine Haltung mehr, kein Halten. Aufgelegte Raserei. Eine Frau mit den verfeinertsten Nerven, dem entwickeltsten Geist, gut, vornehm, hochsinnig. Und das . . . Man hat mir zum Vorwurf gemacht . . . eine bestimmte Sache wurde gegen mich ausgenützt . . . nämlich, daß wir noch bis weit in die schauerlichen Konflikte hinein ehelich lebten . . . nun ja . . . ein Mann erniedrigt sich immer so tief, wie eine Frau ihn fallen läßt. Ich wiederhole, das soll keine Rechtfertigung sein . . . mein ganzes Unglück ist auf den einen Punkt konzentriert, man kann mit der Wollust sozusagen ein unsauberes Seelengeschäft machen, vollführt einen schlampigen Austausch gegen den Traum und das Ideal mit ihr. Sooft ich darüber nachdachte, hab ich gefunden, daß bis auf einen unter tausend die Männer nichts anderes tun, so verludert eine ganze Welt. Ich war jedenfalls der eine nicht, ich nicht; und Elli spielte va banque, als sie mir meinen Traum von den Augen wegstahl. Sie wußte nicht, daß die gestohlenen Träume zu einer Pest für den Dieb werden. Aber was sag ich da, das ging schließlich nur an Fleisch und Blut, daß wir uns im Elend unserer Herzen vermischten, aber das Aufwachen dann, die Rache, die Wut: du bist immer noch du, und bei ihr: daß sie betrogen war . . . die Jahre, um die sie mir voraus war, wurden ihre Erinnyen, sie und ich, wir stürzten miteinander umklammert in unsern untersten Keller von Schlechtigkeit und Bosheit. Wenn sie sich zur Spionin machte und die Leute aushorchte und mit mir um das schäbige bißchen Geld feilschte und ihren Jammer zum Fenster hinausschrie, daß es jeden Tag war, als hätte alles in der Zeitung gestanden, und Nächte und Nächte wie ein Irrwisch durch das Haus fegte und nicht begriff, oh, nicht begreifen wollte, daß ich auch nur eine arme Haut war wie sie, auch nur einer, dem Gott sein Schicksal zu saufen gab . . . Es kam der Tag, wo ich mir sagte: besser, Weib, du wärst nicht, besser, du verschwändest von diesem greulichen Schauplatz. Herr, ich sage Ihnen, da erschien es mir als eine Wohltat, sie auszutilgen, denn, so sagt ich mir, ein solches Leben ist Last und Qual für die, die es lebt, und Last und Qual für die, die es mitleben müssen. Da soll es keinen Ausweg geben, keine Erlaubnis, Frieden zu schaffen? Mit dem Verbrecherwunsch auf dem Gewissen bin ich natürlich nicht schuldlos. Nein. Überhaupt, denken Sie das nicht, . . . ich bin nicht schuldlos, noch weniger bin ich unschuldig, was noch was ganz anderes wäre. Es gibt eine Stelle, wo das Leben des Menschen in der Idee zu Ende ist, was dann folgt, ist wie die Nachgeburt bei der Entbindung . . . Aber man darf sich da nicht vermessen, ich weiß, ich weiß . . . In meiner ärgsten Bedrängnis sagt ich zu Anna: Kommt das Schlimmste zum Schlimmen, so erschieß ich dich, dann mich, dann ist Ruh. Das war an dem Tag, Ende September schon, wo die ekelhafte Affäre aufkam, die Waremme mit den Studenten hatte, das schlug dem Faß den Boden aus. Anna erstickte daran fast, um die Zeit war ich ihm auch schon das viele Geld schuldig, mein eigenes Weib half mir nicht, sie kniete vor ihrem zinsenschwitzenden Kapital, um es anzubeten, es war eine Verhexung, aber war sie da noch ein lebendiger Mensch mit der lebendigen Idee vom Menschen in der Brust oder der traurige Kadaver, der einem nur noch Leben vorzappelt, wie die galvanisierte Froschleiche? Das steht abseits von meiner Schuldrechnung, ich sage Ihnen ja, ich für meine Person, ich hatte einen Strich unter die gesamte Rechnung gemacht, nur um Anna war mir leid, aber die wollte nicht sterben. Ich hab mir oft den Kopf darüber zerbrochen, warum sie sich mit so verrücktem Entsetzen gegen den Tod wehrte, es war vielleicht das fromme Kind in ihr, der Sündenglaube; ich habe auch einmal gehört, daß ausgezeichnet schöne Menschen sich von der Todesfurcht weniger frei machen können als andere, wie wenn ihnen die Schönheit eine Pflicht auferlegte, von der unsereins nichts weiß, das wird ja auch ihre Angst vor meiner Rückkehr gewesen sein. Seit ich das mit dem Erschießen gesagt, zitterte sie vor mir, damit hat sie wahrscheinlich auch Elli aufgescheucht und aus dem Haus getrieben, in der Fieberangst hat sie ihr zugeschrien: Dein Mann kommt, er will mich umbringen; etwas Derartiges muß es gewesen sein; wie ein Reh vor den Treibern muß sie durchs Haus gerannt sein, Todesfurcht in allen Knochen . . . so muß es gewesen sein . . .«
Er preßte Daumen und Mittelfinger der Rechten an beide Schläfen. Herr von Andergast erhob sich mit seltsam bleierner Trägheit. »So . . .« murmelte, er, »also . . .« Dann, nach einer Pause, in der der Atem versickerte, aus seiner mechanisierten Kenntnis der prozessualen Vorgänge heraus, mit scheinbar sachlicher Dürre: »Und daß sie . . . daß sie vorher Klavier spielte, geschah nur, weil sie in der sinnlosen Angst nicht mehr wußte, was sie tat, meinen Sie das?« – »Schon möglich«, sagte Maurizius verschlossen. »Und dann?« forschte Herr von Andergast mit schier übermenschlicher Anstrengung, gleichmütig oder höchstens äußerlich interessiert zu erscheinen. Er zog sogar die Uhr aus der Weste, ließ aber den Deckel nicht springen, sondern schob sie langsam in die Tasche zurück. »Dann?« echote Maurizius, sandte von unten her einen hämisch-verstockten Blick zu dem Frager und zuckte die Achseln, »dann . . . da müssen Sie sich schon an Ihre Akten halten. Die können besser darüber Auskunft geben.« Aber nach einem finstern Schweigen, während die mädchenhaft kleinen Zähne nervös an der Unterlippe nagten, entpreßte sich's ihm: »Alles war ja gegen sie verschworen . . . da war kein Fluchtloch mehr . . . alle ihre Quäler dicht an ihr dran . . . das Maß war voll . . . bei keinem Einsicht und Mitleid . . . wozu hat sie auch noch den Waremme rufen müssen . . . na, der brauchte ja nur noch von fern den Hebelknopf zu drücken . . . ich, mein Gott, zu spät . . . zu spät . . .«
Er hielt inne, mit totenbleichem Schrecken, wankte, hielt sich an der Mauer fest. Herr von Andergast schritt, mit derselben bleiernen Trägheit, auf ihn zu und fing seinen Blick. Sie sahen einander volle zwanzig Sekunden starr in die Augen.
Maurizius hob die Hand. Scheu abwehrend. Herr von Andergast gewahrte, daß die Fingernägel zerbissen waren. Es war offenbar eine Wirkung der Einsamkeit und der einsamen Grübeleien. »Von wem hatte sie den Revolver?« flüsterte er heiser. Maurizius zuckte zusammen. »Ja, denken Sie denn, ich hätte was gesehen?« fuhr er wild auf: »ich hab nichts gesehen, nichts, absolut nichts . . . das ist es ja . . . nichts . . .« Herr von Andergast senkte resigniert den Kopf. – »Das ist es ja . . . nichts, nichts«, wiederholte Maurizius mit einer hoffnungslosen Gebärde. – »Und Sie? Sie selbst? hatten Sie einen Revolver oder hatten Sie keinen?« fuhr Herr von Andergast mit vertrockneter Stimme unerschütterlich fort. – Maurizius stieß ein kurzes Gelächter aus. »Es ist eine andere Zeit«, antwortete er änigmatisch, »ich bin nicht mehr sechsundzwanzig, ich bin fünfundvierzig.« Dabei zwinkerte er plötzlich mit den Lidern, genau wie damals im Gerichtssaal, vor neunzehn Jahren. – Abermaliges Blick-in-Blick-Bohren. »Gut, ich nehme es zur Kenntnis«, sagte Herr von Andergast mit dem sonderbaren Gefühl, daß etwas in seinem Rückgrat knirschte. Maurizius sieht teilnahmslos zu, wie er den Hut nimmt, an der Tür dem Wärter das Zeichen gibt und die Zelle verläßt. Ein zweiter Wärter erscheint mit einem Blechtopf. Es ist das Mittagessen für den Sträfling 357. Dicke Kohlsuppe, in welcher einige Fleischfetzen schwimmen, wie schwärzliche Holzwurzeln auf einem gelben Tümpel.