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Als Etzel aus dem Auto stieg, schwindelte ihm. Nimm dich zusammen, Mensch, sagte er zu sich selber. Das Licht der Bogenlampen troff wie flüssiges Wachs über sein Gesicht. Vier Treppen zu je dreiundzwanzig Stufen macht zweiundneunzig Stufen. Verdammte Höhe. Mülleimer, Bierflaschen, Töpfe mit Kalk zum Tünchen. Auf der obersten Stiege lila Dämmerung. Die Wohnungstür offen. Im Flur stand Melitta, um die Schultern ein absurdes grünes Tuch, das sie fest an sich zog, daß sie wie eine Stange aussah. »War jemand da?« fragte Etzel unruhig. Das Mädchen erwiderte grob: »Wer soll denn dagewesen sein? wer kommt denn schon zu Ihnen? war denn schon mal einer bei Ihnen?« Etzel versetzte: »Das stimmt. Es war noch keiner da, aber 's ist möglich, daß einer kommt.« – »Wird schon der Rechte sein«, gab das anmutvolle Wesen zurück, »Sie scheinen mir überhaupt noble Bekanntschaften zu haben.« In seinem Zimmer ließ sich Etzel auf den Stuhl fallen, schob die Hände in die Hosentaschen, drückte den Nacken gegen die Lehne. Er wünschte, daß die Gasflamme schon brennte, er war zu müde, sie anzuzünden. Der Wunsch wurde schneller erfüllt, als er zu hoffen gewagt. Es erschien Frau Schneevogt und äußerte Verwunderung, daß er im Dunkel saß. Er sagte kaltblütig, er liebe die Dunkelheit. Sie erklärte ihn für einen überspannten, jungen Herrn und machte Licht. Sie fragte, ob sie ihm was zu essen bringen solle. Da er das Mittagessen nicht angerührt, wolle sie es aufwärmen. (Dabei verwandelte sich ihr Gesicht in ein Plakat strengster Rechtlichkeit.) Etzel dankte. Er habe keinen Hunger. Frau Schneevogt konstatierte bedenklich, daß ihr sein Aussehen nicht gefalle. »Bißchen Grippe«, sagte er leger und kreuzte männlich die ausgestreckten Beine. Sie empfahl ihm, sich ins Bett zu legen, und versprach, heißes Zuckerwasser zu bringen, unfehlbares Mittel. Etzel dachte ingrimmig: wenn du nur draußen wärst, gräßliches Weib. Jene aber war gesprächsüchtig, zumindest anlehnungsbedürftig. Sie erkundigte sich, ob er den Streit mitangehört, den sie nachmittags mit der Tochter gehabt. Später habe es noch mal begonnen, und Schneevogt selbst habe sich entsetzlich aufgeregt. Etzel räumte ein, er habe einen gewissen Lärm gehört und auf familiäre Meinungsverschiedenheiten geschlossen. »Wenn's nur das wäre«, seufzte Frau Schneevogt. Da sie das dringende Verlangen äußerte, ihn in den Konflikt einzuweihen, verzichtete er auf Widerstand. Die hageren, irren Hände schienen dicht vor seinen Augen zu gestikulieren.
Die Sache war die. In dem Geschäft, in welchem Melitta bedienstet war (großes Damenmodenhaus), war ein kürzlich Angestellter durch einen Fehler in der Aufzugsmaschinerie zum Krüppel geworden. Er hatte nur Aushilfe geleistet, war eigentlich ein herabgekommener Operettensänger und bei der Arbeiterversicherung nicht eingeschrieben, was nicht beachtet worden war. Er beanspruchte Entschädigung, Ersatz der Heilungskosten, die Firma leugnet ihre Haftpflicht, behauptet, der Unfall sei selbstverschuldet, und führt eine Reihe anderer Angestellter als Zeugen auf. Die Leute sind bereit auszusagen, was man von ihnen begehrt, sie zittern ums Brot. Nur Melitta weigert sich. Und gerade sie sollte die Hauptzeugin sein, sie war zur Zeit des Unglücks im Verpackungsraum, dort ist es passiert. Sie weigert sich nicht bloß, für die Firma einzutreten, sie schlägt sich sogar mit Entschiedenheit auf die Gegenseite, will beschwören, daß der Aufzug schon zwei Tage vorher nicht glatt funktioniert hat, daß der Mann weder achtlos noch, wie einige bemerkt haben wollen, angeheitert war, daß er einfach hinaufgerissen worden ist und nach einer halben Sekunde mit zerfleischten Armen und Schultern im Schacht hing. Die Chefs sind außer sich über die Illoyalität des Mädchens, jammert Frau Schneevogt. Sie und Herr Schneevogt sind natürlich ebenfalls außer sich. Man hat Melitta angedeutet, daß die Abteilung, bei der sie arbeitet, demnächst aufgelöst werden soll, daß man aber erwogen habe, sie als Direktrice über eine neu zu errichtende zu setzen. Sie verstehen? sagt Frau Schneevogt. Gewiß, Etzel versteht, trotz seines betäubten Kopfes, er versteht: niederträchtige Verquickung von Drohung und Lockung. Die dumme Gans, jammert Frau Schneevogt händeringend, sieht ihren Vorteil nicht ein! Bei den Zeiten, wo einer monatelang auf der Gasse liegen kann, bis er eine halbwegs anständige Verdienstmöglichkeit findet. So weit war Mutter Schneevogt in ihrer bewegten Darstellung gelangt, als die Tür aufflog und Melitta hereinschoß. Wie eine bissige Katze fuhr sie auf die Mutter los: »Und wenn du dich auf den Kopf stellst und bis Mitternacht mit den Beinen strampelst, ich tu's nicht und tu's nicht.« Dann, zu Etzel gewendet, mit dem glasharten Diskant: Da halten sie einem ein Zuckerbrot vor die Nase, damit man was Hundsgemeines macht und einen armen Menschen, für den das Leben ohnehin nur noch ein wertloser Fetzen ist, um die paar Groschen bringt, mit denen solche reichen Schufte nicht mal für ihr Austernfrühstück auslangen. Soll sie sich auch breitschlagen lassen? Mohl soll reden, er soll sagen, ob man da kuschen soll oder ob es nicht honetter ist, man verzichtet auf den ganzen Zimt und verreckt im Drecke. Sie warf sich auf den Schemel, zog die spitzen Schultern hoch und brach in einen hysterischen Weinkrampf aus. Na, die ist gut, dachte Etzel, bestürzt, ein rabiates Frauenzimmer, und er machte den Versuch aufzustehen. »Geh hinaus«, herrschte Melitta ihre Mutter an, »ich hab mit dem da was zu reden.«
Sie wartete, bis die Tür geschlossen war, dann flüsterte sie mit finsterem Gesicht: »Der Mensch ist hin, wenn ihm nicht ein Anwalt zu seinem Recht verhilft. Ich weiß einen, der soll 'n gerissener Kunde sein, J. Silberbaum, Lottumstraße. Aber so einer rührt den Finger nicht ohne Vorschuß. Vierzig Mark oder nicht in die la Mang. Leihen Sie mir die vierzig Mark, Mohl, ich zahl's Ihnen in Raten zurück. Bin momentan im Dalles. Hätt ich's, so müßt ich Sie nicht drum bitten.« Etzel verbarg seine Verlegenheit. Alles in allem besaß er noch sechsundachtzig Mark. Miete und Kost waren für den Monat vorausbezahlt, aber welche Sicherheit hatte er denn, daß er in acht Tagen nach Hause fahren konnte? Vielleicht schon früher, o ja, vielleicht schon übermorgen . . . das hing eben davon ab. Es hing davon ab, erstens, daß er kam, Waremme-Warschauer, daß er gewissermaßen zu Kreuze kroch, zweitens, daß man ihn dahin brachte . . . daß man ihm die Brust spalten und das Hirn aufdecken konnte. Davon hing es ab. Sicherheit gab es natürlich keine. Wenn er dann dastand und noch zuwarten sollte, in der ungeheuern Stadt ungeheuer fremd, was beginnen mit sechsundvierzig Mark? Und jetzt, das verteufelte Fieber im Leib, eine Million metallner Plättchen flimmerte vor seinen Augen. Blitzschnell jagten die Überlegungen durch sein Hirn, während Melitta ihn unruhig spähend musterte, auf dem Schemel hockend, die Arme um die Knie geschlungen, ohne sich darum zu kümmern, daß sich der kurze Rock bis auf die Oberschenkel hinaufgeschoben hatte. Nein sagen, wenn man in solcher Sache angefordert wurde: unmöglich. Die Tasche zuhalten, wenn man drin hatte, was einen andern retten konnte: unmöglich. Schwindeln und sich ausreden: ich hab's nicht, oder ich brauch's selber: nicht zu machen. Da hätte Etzel Andergast gleich bei seiner Rie bleiben können und sich gefüllte Pfannekuchen backen lassen, wozu die ganze Veranstaltung . . . »Schön«, sagte er, »ich geb Ihnen das Geld«, fischte das bereits ziemlich abgegriffene Portefeuille aus dem Westenfutter heraus, in das er selbst eine Tasche geschnitten und notdürftig ausgenäht hatte, und reichte Melitta zwei Zwanzigmarkscheine. Sie hatte offenbar nicht geglaubt, daß er es tun würde, sie hatte sich gedacht, der Versuch schadet nichts, sie sah daher einigermaßen verdutzt aus, und seine Person und seine Umstände erschienen ihr noch geheimnisvoller, um nicht zu sagen verdächtiger, als sie es bisher gewesen. »Sie sind wahrhaftig 'n guter Junge«, bemerkte sie anerkennend, und mit dem Rest von Argwohn: »Ist's auch koscher mit dem Geld?« – »Koscher? nein, 's ist christliches Geld«, antwortete er, »aber aus einer verdammt anständigen Gegend.« – »Na, fein, danke sehr«, sagte Melitta, schob die Scheine in ihren Busen und stand auf. »Morgen früh geh ich zu J. Silberbaum und zeig Ihnen die Quittung.« – »Nicht nötig.« – »Doch. Könnte ja Hochstapelei von mir sein.« – »Dazu hätten Sie sich jemand anders geklaut. Hoff ich wenigstens.« – »Wollen Sie mir nicht sagen, Mohl, was Sie eigentlich für'n Geschäft betreiben?« – »Ich such meinen Onkel, der mit den Mündelgeldern durchgegangen ist.« – »Hm. Kein einträgliches Geschäft, kommt mir vor.« – »Mir auch. Pleite ist bereits in Sicht.« (Wie man sieht, hatte er sich, erleuchteter Zwerg, recht geschickt der Ausdrucksweise des Milieus angepaßt.) – »Haben Sie deshalb nach einem gefragt, der kommen soll?« erkundigte sich Melitta schlau. »Ist's vielleicht der Onkel selber? Meinen Sie, er wird von selber kommen und die p. t. Moneten auf den Tisch des Hauses legen?« Sie lachte blechern. – »Nein, der kommen soll, ist ein anderer. Mit dem hab ich auch ein Hühnchen zu pflücken. Der ist auch nicht von schlechten Eltern. Sie haben ihn übrigens neulich bei der Jazzmusik mit mir gesehen.« – »Och, der Olle, Speckige?« – »Ja, der. Wenn er nicht käme, das wär bös, müssen Sie wissen. Ich hab meine Gründe, zu glauben, daß er kommt, wenn nicht heut, dann morgen. Er weiß, wo ich wohne. Er hat sich's mal aufnotiert sogar. Bei Tag hat er keine Zeit, also wird er am Abend kommen. Lassen Sie ihn nur gleich herein, wenn er kommt. Sagen Sie's auch Ihrer Mutter, daß sie ihn gleich zu mir hereinläßt. Sagen Sie's im ganzen Haus, daß sie ihm alle sagen, ich bin da . . . Verstehn Sie? Es ist furchtbar wichtig. So wichtig wie die Untergrundbahn, verstehen Sie . . .?« – »Mensch!« rief Melitta erschrocken, »entweder haben Sie 'nen Spitz oder . . .« – »Es ist mir nur so . . .« stammelte Etzel, »ein bißchen dösig, wissen Sie, warum knallt denn heut das Gas immerfort?«
Melitta machte nicht mehr viel Worte, sie war ihm beim Auskleiden behilflich, und als er im Bett lag, deckte sie ihn sorgfältig zu. »Nicht den Doktor«, murmelte er flehend, bevor er in den Fieberschlaf dämmerte, »bitte, nicht den Doktor.« – »Keine Bange«, beschwichtigte ihn das Mädchen, »das treffen wir auch. Unsereiner hat's nicht so mit 'n Doktor.« Da steckt doch was dahinter, daß er solche Angst vor dem Doktor hat, sagte sie sich, aber weil er ihr einen so großen Dienst geleistet hatte, beschloß sie, ihn so gut es ging selber zu pflegen. Sie hatte eine kleine Hausapotheke, in der sich Antipyrin vorfand, löste zwei Tabletten in Wasser auf und flößte es ihm löffelweise ein. Hübscher Junge, dachte sie, während sie sein glühendes Gesicht betrachtete.
Er verbrachte die Nacht in einem Zustand zwischen Bewußtlosigkeit und rasender Gedankenjagd. Melitta hatte die Tür zu ihrer Stube offen gelassen, bisweilen kam sie mit einer Kerze herein und schaute nach ihm. Er konnte das Licht nicht ertragen und wimmerte ein wenig, mit den Fingern vor den Augen. Das mechanische Klavier in der Tanzschule überm Hof klang, als ob eine Schwadron Gäule über ein mit Eisenblech beschlagenes Feld donnerte. Es nahm kein Ende, kein Ende . . . Die junge Frau vor Ghisels Tür schlug ihm mit einer Autohupe ins Gesicht. Als er näher hinsah, war es keine Autohupe, sondern ein Saxophon, und der junge Mann mit der Hornbrille sagte: eine unpassende Beschäftigung für einen Zentauren, mein Fräulein. Die Großmutter schwebte wie eine Trapezkünstlerin am Seil eines Luftballons, Frau Schneevogt drohte ihr mit der Faust und rief erbittert: wenn ich so ein Einkommen hätte, könnt ich das auch. Andergast, nennen Sie mir das Todesjahr des letzten Hohenstaufen, falsch, setzen Sie sich. Eine schwarzvermummte Frauengestalt schritt an Trismegistos Arm eine grauenhaft verödete Straße entlang, durch eine Explosion flogen die Pflastersteine in die Luft, der Vater fing sie mit der Hand auf, steckte sie als Corpora delicti in seine Tasche und sagte zu der vermummten Figur: Sie sind Anna Jahn, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes. Dann war er in einem offenen Güterwagen und fuhr oberhalb einer Stadt, die Schienen liefen wie Drahtseile in der Luft, der Güterwagen war leer bis auf eine schmale Holzkiste, die aber sonderbarerweise durchsichtig war, und in der Kiste lagen wie Äpfel lauter Menschenköpfe; er unterschied den Kopf von Paalzows Jungen und den des Negers Joshua Cooper. Da kam Camill Raff und schrie ihm zu: fliehen wir, packte ihn beim Handgelenk, und sie rannten keuchend auf ein Tor zu, das jede Sekunde zugeschlagen werden konnte, dann waren sie verloren . . .
Melitta mußte am Morgen ins Geschäft und betraute ihre Mutter mit der Beaufsichtigung des kranken Mieters, doch diese hatte auch ihre Gänge zu besorgen, und so war Etzel den größten Teil des Vormittags allein in der Wohnung. Das Fieber hatte sich gelegt, er fühlte sich zerschlagen und lag mit halbgeschlossenen Augen reglos da. Wie alle Kinder und Halbkinder, wenn sie krank sind, kokettierte er mit dem Gedanken an den Tod und bedauerte sich von Herzen wegen seiner Hilflosigkeit und Verlassenheit. Nur die eine Überlegung raubte dem Sterben etwas von seinem melancholisch süßen Reiz, daß wahrscheinlich niemand es erfahren würde, wenn er hier in einer scheußlichen Zinskaserne in Berlin N einen beklagenswerten Tod fand, einen pseudonymen Tod. Die Großmutter nicht, Robert Thielemann nicht, die gute alte Rie nicht und er nicht, Trismegistos. Das war allerdings fatal, Trismegistos mußte es unbedingt zu wissen kriegen. Es war vielleicht die einzige Möglichkeit, ihm beizukommen. Mohl, Edgar, unbekannter Geburt, unbekannter Herkunft, die Leiche ist zu besichtigen im Schauhaus Plötzensee. Nach einer Weile wird die Identität jedoch einwandfrei festgestellt, und beklommene Leidtragende, sämtlich von Gewissensbissen geplagt, wallfahrten zu seinem Grabe. Hic jacet Etzel Andergast alias Mohl, ein Opfer ehrenhafter Bestrebungen, betrauert von den Gleichgesinnten. Er wußte natürlich nicht, daß diese wehmütige Selbstinszenierung schon das wieder triumphierende Leben war. Die Geräusche des Hauses oben und unten, Stimmen und Schritte wie aus verschlungenen Schächten, das Klirren der Fensterscheiben, Gebell von Hunden, Geplärr von Ausrufern, Schmettern eines Aeroplans, es war schon wieder die Mitte der Dinge, der nervige Leib der Welt.
Etzel hob den Kopf und horchte: die Eingangsglocke. Nach einer Pause zum zweitenmal. Nach einer Pause andauernder zum drittenmal. Sein Herz pochte. Ist es denkbar, . . . um die Mittagsstunde? Es ist denkbar. Er gibt nur bis elf Uhr Unterricht, um halb eins geht er gewöhnlich erst zu Frau Bobike. Etzel spürt bis in die Bauchhöhle hinein: Er ist es. Er lächelt. Eingespanntes, bestürztes und diebisches Lächeln. Alle Vorsätze sind darin versammelt, alle Erwartungen, alle Ängste. Soll er aufstehn und die Tür öffnen? Er hat keinen Schlafanzug. Da hätte Mutter Schneevogt sonderbare Augen gemacht, wenn er einen Pyjama unter seiner Wäsche gehabt hätte. Bis er die Hose angezogen hat, ist der draußen vielleicht schon weg. Er vernimmt Stimmen. Gott sei Dank, Frau Schneevogt ist gekommen. Und seine Stimme. Kein Zweifel. Die Baßorgel. Der Brustton. Das Trompeten-O.
Warschauer-Waremme trat ein. Hinter ihm voll aufgeregter Neugier Frau Schneevogt. Mit beschwörend erhobenen Armen nähert sich Warschauer dem Bett. »Aber Mohl! armer kleiner Mohl, wirklich krank? ernstlich krank? Ich dachte mir schon, weshalb erscheint Mohl nicht? was ficht ihn an? er wird doch seinem alten Freund nicht tatsächlich böse sein, eine momentane Nervosität nicht krumm genommen haben . . . wo fehlts? Kopf, Magen? Hals? Lungen? Kann ich etwas für Sie tun? Fieber? Poor fellow. Meine gute Frau, das ist ein vorzüglicher junger Mann, ich hoffe, Sie haben ein Augenmerk auf ihn, ich hoffe, er wird hier nicht vernachlässigt . . .« Hemmungsloser Wortschwall. Er stieg in der Stube auf und ab und mimte Bestürzung, Mitleid, Hilfsbeflissenheit. Frau Schneevogt, der er sofort maßlos imponierte, gab beleidigt zu verstehen, daß von ihrer und ihrer Tochter Seite alles für den Patienten Erforderliche geschehe. »Wackere Dame«, sagte Warschauer, fand jedoch die Luft im Raum übeldunstig und riß das Fenster auf. Sodann trat er wieder zu Etzel, legte ihm die Hand auf die Stirn, auf das Herz, brummelte besorgt, machte tz, tz, tz, und die schwarzen Brillengläser unter dem Rand seines Schlapphuts (den er nicht vom Kopf genommen) sahen aus wie die dunklen Öffnungen zweier Röhren. »Kochen Sie ihm eine Bouillon, meine gute Dame«, wandte er sich an die atemlos zuhörende und zuschauende Frau Schneevogt, »wenn möglich ein Hühnersüppchen, und lassen Sie aus der Apotheke ein einfaches Abführmittel besorgen, Kalomel oder Rizinus. Das soll er einnehmen.« – »Wird gemacht, Herr Doktor«, sagte Frau Schneevogt ehrfürchtig, denn sie war der Meinung, er sei Arzt. Etzel mußte lachen. Auch Warschauer grinste wohlwollend. »Na sieh da, sieh da«, freute er sich, »wir sind ja ganz munter. Die Schelmennatur bricht durch. Vivos voco. Mein lieber junger Mohl, ich verabschiede mich für jetzt, ennuyante Pflichten rufen mich, am Abend komm ich wieder herauf, Ihnen ein bißchen Gesellschaft leisten. Good bye, my dear. Pa!« Er winkte zärtlich mit der Rechten und wandte sich zum Gehen. Die grauen Rockschöße flatterten grotesk hinter ihm her. Frau Schneevogt begleitete ihn mit servilem Lächeln in den Flur.
Etzel blickte zornig gegen die Tür, durch die er verschwunden war. Das widerliche Getue, dachte er; was er bloß damit bezweckt, möcht ich wissen, ob er mich wie gewöhnlich ablenken und einlullen will oder ob er einen besonderen Coup im Sinne hat? Also heut abend . . . Jetzt heißt's aut – aut, ich wollt, es wär schon Mitternacht, ich wollt, es wär schon morgen. Er legte sich einen Plan zurecht. Aber was sollte ein Plan, wenn man mit einem solchen Gegner zu tun hatte. Eh man ihm ein Bein stellte, zertrat er einem die Zehen. Der aussichtsreichste Weg war der: sich kränker zu geben, als man war. Hinfälligkeit zu simulieren. Es sogar soweit treiben, als habe sich die Krankheit zu einer Krisis verschlimmert und die Wendung zum Besseren könne sich erst nach der Befreiung von einer gewissen geistig-seelischen Last vollziehen. Durchtriebene Fädelung. Was an leidenschaftlicher List, an andergastscher Hartnäckigkeit, an sechzehnjährigem Feuer in diesem Kopf und Gemüt aufgespeichert war, wirkte sich nun dämonisch in der Vorbereitung auf die entscheidende Stunde aus. Ich scheue in diesem Fall nicht vor dem vielgebrauchten Wort zurück, das Dämonische ist eine Grundbewegung in jenen Naturen, welche fähig sind, in angeborener Wahrhaftigkeit nach ihren Erkenntnissen zu handeln, mögen sie auch mit einem oberflächlichen Firnis von Intellektualismus behaftet sein oder, wie Etzel es gerne tat, in Verkennung ihrer tieferen Kräfte sich auf Idee und Logik festlegen. Es ist nichts weiter als eine kluge Sicherheitsvorrichtung, um mit dem besagten Dämon, einer unbequemen Erscheinung immerhin, nicht auf gar zu vertrautem Fuß verkehren zu müssen.
Gegen halb acht kam Melitta nach Hause, eilte gleich zu Etzel und erkundigte sich nach seinem Befinden. Er sagte, es gehe ihm besser, darüber bezeigte sie sich zufrieden, sie könne leider nicht daheim bleiben, fügte sie hinzu, um halb neun Uhr finde eine Versammlung der Angestellten ihrer Firma statt, wo über die Geschichte mit dem Liftunfall beraten werden solle. Um zehn werde sie aber bestimmt wieder da sein und nach ihm schauen. Mit dem Advokaten Silberbaum habe sie gesprochen, die vierzig M bezahlt, die Sache sei in guten Händen. Sie hielt ihm die Bescheinigung des Anwalts hin, er sah den Fetzen Papier nicht einmal an. »Mutter macht Ihnen eine Eieromelette, dazu kriegen Sie Tee«, sagte das Mädchen, »morgen früh sind Se dann die Schweinerei los.« Sie hatte plötzlich was Kameradschaftliches und Aufgeschlossenes, das in wunderlichem Gegensatz zu ihrem früheren bissig-herausfordernden Wesen stand, das ihn aber, da er nach der Ursache nicht lange zu forschen brauchte, als zu billig errungen nicht recht freute. Er stellte dabei Betrachtungen an über dieses »Billige« und fand, daß man die Menschen überschätze, wenn man ihre Naivität bei solchem Anlaß einer Kritik unterzog. Man ist nicht primitiv genug, überlegte er ernsthaft, man sollte primitiver sein, man ist wie ein zu scharf gespitzter Bleistift, der abbricht, kaum daß man zu schreiben anfängt.
Da ihm Frau Schneevogt emsig zusprach, verzehrte er die Hälfte des Eierkuchens, den Tee ließ er sich neben das Bett stellen. Zweifellos hatte auch die Freundlichkeit der Vermieterin ihre sehr materiellen Antriebe, aber das machte ihm wenig Beschwer, die war schon zu billig (obwohl sich am andern Tag erwies, als er seine Rechnung begleichen wollte, daß man sich mit den Käuflichsten am ehesten verrechnet). Es war dreiviertel neun, als er endlich das Läuten der Flurglocke vernahm. »Es regnet, guter Mohl«, sagte Warschauer beim Eintreten, »ich triefe.« Er nahm den Hut ab, schüttelte ihn, zog den Mantel aus und schüttelte auch den, suchte eine Weile nach einem Haken und legte beide Kleidungsstücke schließlich mit vielem Prusten und Räuspern auf denselben Schemel, auf dem gestern abend Melitta gesessen war. »Na, wie geht's, wie steht's, mein armer Lazarus?« fragte er, ergriff einen Stuhl bei der Lehne, hob ihn über den Tisch und stellte ihn neben das Bett, um sich darauf niederzulassen. »Hallo, was ist das?« stutzte er und lauschte. Es war das mechanische Klavier aus der Tanzschule, das schon wieder sein rasendes Geklapper begonnen hatte. »Doll. Und dabei können Sie schlafen, Mohl? Mein Beileid.« Er trat zum Fenster, schaute hinüber und sah vor den Fenstern drüben verkrümmte Schatten an grellbeleuchteten Vorhängen hin und her gleiten. Er lachte dumpf vor sich hin. »Hübsche Camera obscura«, sagte er, »illustrierter Charleston, man riecht geradezu den Schweiß des Vergnügens, und was man hört, geht ins Ohr wie die Posaunen von Jericho. So was hab ich gern. Da ist man gleich mitten im Sinn des Geschehens.« Etzel seufzte. Warschauer kehrte ans Bett zurück und sah ihn erschrocken an. Auch hiebei gab sich die fast possenhafte Übertriebenheit kund, deren er sich noch immer nicht entledigt hatte. »Möchten Sie nicht ein bißchen leiser reden, Professor«, bat Etzel. – »Gewiß. Selbstverständlich. Die Nerven, selbstverständlich«, nuschelte Warschauer und sah aus, als könne er sich seine Rücksichtslosigkeit nicht verzeihen; »überhaupt, es soll ja bloß ein fliegender Besuch sein«, fuhr er mit betulicher Handbewegung fort, »ich möchte um keinen Preis zur Last fallen. Um keinen Preis die Rekonvaleszenz verzögern. Denn in der Rekonvaleszenz befinden wir uns doch bereits, nach den beruhigenden Angaben der Dame draußen zu schließen.« – »Ich weiß nicht«, flüsterte Etzel, »mir ist wieder ziemlich schlecht . . . Aber wissen Sie, Professor, es ist so eklig, das Alleinsein in der Stube mit der schauderhaften Musik da drüben, schlafen kann ich ohnehin nicht, bleiben Sie doch noch . . .« – »Schön, schön, bedarf keiner Worte, ich bleibe solang Sie wollen, Mohl. Das wäre eine traurige Sorte Freundschaft, wenn ich da auskniffe. Soll ich stillesitzen? soll ich Ihnen was vorlesen? sollen wir plaudern? Sie müssen sich gar nicht anstrengen, ich werde schon für die Unterhaltung sorgen.«
Was hat er vor? warum ist er auf einmal wieder eitel Honig? grübelte Etzel. Eine Sekunde lang erhaschte er durch die schwarzen Gläser hindurch den metallisch aufleuchtenden Blick Warschauers, und es lief ihm kalt über den Rücken. Das kurze Schweigen zwischen ihnen war wie die Pause zwischen dem Öffnen und Schließen einer Tür. »Es geht mir nicht um die Unterhaltung«, sagte er dann mit der verdrossenen Wehleidigkeit eines Fiebernden, »hab mir auch nicht eingebildet, daß ich stumm dalieg und Ihnen zuhör, wenn Sie von was Xbeliebigem sprechen. Es handelt sich nicht um was Xbeliebiges . . .« – »Sondern, sympathischer Mohl?« – »Um das, weswegen Sie mich vorgestern hinausgeschmissen haben.« – »Hinausgeschmissen ist ein hartes Wort. Wirklich, lieber Mohl, eine zu krasse Bezeichnung für eine cholerische Äußerung der Ungeduld. Wär es so schlimm gemeint gewesen, wär ich dann hier? Könnt ich dann mit gutem Gewissen an Ihrem Bett sitzen?« – »Ich weiß nicht, warum Sie da sind, Professor, wahrscheinlich haben Sie doch kein so gutes Gewissen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie sich mit mir abgeben. Was finden Sie denn an mir? Was kann Sie an mir interessieren? Und wenn Sie was an mir finden, warum spielen Sie mit mir wie die Katze mit der Maus?« – Warschauer unterdrückte ein Lächeln. Er malmte mit dem Kiefer. »Was ich an Ihnen finde, kleiner Mohl? Ich habe nicht darüber nachgedacht, offen gestanden. Ich bin in dem Punkt zu animalisch veranlagt.« – Etzel runzelte die Stirn. »Das glaub ich Ihnen nicht, Professor. Sie wissen in jedem Moment, was Sie tun und warum Sie es tun.« – »Ah, Sie halten mich also für einen weitschauenden Intriganten?« – »Das vielleicht nicht. Sie sind mir nur über, Sie sind mir ungeheuer über, und Sie nützen den Vorteil unanständig aus.« – »Das ist frech, Mohl.« – »Das ist wahr.« – Warschauer machte Hm und wieder Hm und rückte an der Brille herum. »Sie regen sich unnütz auf, Mohl«, sagte er, »Sie sollen sich nicht aufregen. Haben Sie kein Fieberthermometer? Die Augen glänzen verdächtig. Nur Ruhe, nur Ruhe. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Wenn Sie das beruhigt . . . Ich meine die Definition, was mich an Ihrer Person fesselt. Es ist in der Tat nicht einfach. Ihr temperamentvoller Ausfall neulich, der mich zu einer energischen, ich gebe zu, einer etwas allzu energischen Maßregel zwang, hat gewisse Vermutungen bestätigt. Ich hätte mit Ihnen gespielt, Mohl? Eine kühne Verdrehung. Mir will vielmehr scheinen, Sie hätten mit mir gespielt oder wenigstens den Versuch dazu gemacht. Hand aufs Herz, wie ist es, wie war es?«
Na, da sind wir ja in mediis rebus, dachte Etzel mit einer Mischung von Bangigkeit und Erleichterung und drückte unter der Bettdecke die Hände zusammen. »Keine Spur«, antwortete er etwas befangen, »ich hab Ihnen ja gleich am Anfang gesagt, was ich will. Damit hat es doch begonnen, daß ich Sie fragte, ob Sie den Maurizius für schuldig halten. Sie sind mir aber ausgewichen. Jedesmal, wenn ich davon geredet habe, sind Sie mir ausgewichen oder haben sich über mich mokiert. Und zuletzt wieder.« – Warschauer verzog skurril das Gesicht. »Was hätte mich denn veranlassen sollen, einem hergelaufenen Dreikäsehoch meine wahre Meinung aufs Butterbrot zu schmieren? Da wir die Sache nun einmal seriös behandeln, Sie sehen, ich nehme Sie ganz ernst, als ob ich einen Delegierten des Vereins für Menschenrechte vor mir hätte, jedenfalls können Sie sich nicht mehr über mich beklagen, ich sage, da wir uns amicalement über gewisse Mißverständnisse aussprechen, womit war denn Ihr Ausspruch motiviert? Mit einer rührseligen Kleinbürger-Erzählung, deren ungeschickte Mache einem abgebrühten, alten Burschen wie mir doch nur Mitleid einflößen konnte, wenn er sich schon nicht ärgerte. Da erröten Sie, Mohl, ist ganz in Ordnung, erröten Sie mir, das steht Ihnen ausgezeichnet, ist Ihren Jahren angemessen, aber wenn man einen Georg Warschauer hinters Licht führen will, muß man sich bedeutend mehr Mühe geben, Mohl, da muß einem was einfallen, da darf man ihm nicht mit dem ersten besten Pofel kommen, den man sich zwischen Dunkel und Siehst-mich-Nicht ausdenkt. Verstanden?« – »Sie haben recht«, flüsterte Etzel mit gesenkten Augen, »aber was hatt ich tun sollen?« – »Was Sie hätten tun sollen? Dasselbe, was ich jetzt von Ihnen erwarte, daß Sie tun. Einer Sorte Menschen ist man unter allen Umständen die Wahrheit schuldig, nämlich der, von der man sie haben will. Sehen Sie das ein?« – »Das seh ich ein.« – »Na also. Gescheiter Junge.«
Etzel setzte mehrmals zum Sprechen an, während ihn Warschauer mit maskenhaft unbeweglichem Gesicht beobachtete. Das mechanische Klavier meckerte einen american Blue. »Ich konnt es nicht aushalten, Professor«, stieß er endlich leise hervor, gepreßt, nach Atem ringend. »Ich hab das Begnadigungsgesuch gelesen, das der alte Maurizius verfaßt hat. Ich hab mir dann alles von ihm selber erzählen lassen, bin einfach zu ihm gegangen. Er hat mir die Berichte gegeben, die Zeitungsausschnitte. Aber das war nicht mal nötig. Er hat mich über vieles einzelne aufgeklärt, aber in mir stand vom ersten Augenblick fest: Das Urteil ist falsch, das Urteil ist ein Justizmord. Das stand für mich so fest wie irgendwas, wie die Zehn Gebote oder daß der Martin Luther kein Schwindler war. Der Alte, an dem lag mir nichts, der ließ mich eigentlich kalt, eigentlich haßt ich ihn sogar mit seinem Begnadigungsgesuch. Was heißt denn das, Begnadigung? Um Begnadigung winseln, mit Begnadigung sich zufrieden geben, wo er doch selber von der Unschuld seines Sohnes überzeugt war? Ich wollt es ihm nicht sagen, was hätt es auch nützen sollen, aber in meinen Augen war er bloß ein dummer, alter Trottel, seine Beteuerungen hätten mir nicht den geringsten Eindruck gemacht, wenn ich nicht selber bis ins Herz davon durchdrungen gewesen wäre: der Mensch ist unschuldig. Und wenn Sie mich fragen, wie ich zu der Sicherheit gelangt bin, so kann ich Ihnen nur antworten: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es so ist und daß mich sämtliche Gerichtshöfe der Welt nicht davon abbringen können. Vielleicht begreifen Sie's besser, wenn ich Ihnen sage, daß ich in einem Haus aufgewachsen bin, wo ein Urteil ist, was in der Kirche das Sakrament. In der Finsternis hat man manchmal Erscheinungen, nicht wahr? Ein Mensch kann unter bestimmten Verhältnissen dazu kommen, daß ihn ein Vorgang genau so inspiriert wie ein Gedanke . . . drück ich mich klar genug aus? das ist dann stärker als alle Überlegung und alles Wissen. Als die Inspiration bei mir geschehen war, da war kein Bleiben mehr für mich, da hieß es: dem Menschen muß Gerechtigkeit widerfahren oder ich geh zugrund. Verstehen Sie jetzt, Professor? Da haben Sie die Wahrheit.«
Er hatte zuletzt sehr langsam gesprochen und die gefalteten Hände über die Decke gehoben. Die Stirn, auf die ein paar feuchte Haare schräg hereinfielen, glich einem geschliffenen Stein. Sonderbarerweise war sein Mund zu einem halb trotzigen, halb kränklichen Lächeln verzogen. Das Gesicht hatte plötzlich den Bubenausdruck nicht mehr, während einiger Minuten lag sogar etwas leidend Reifes in den Zügen, der Blick war in stählerner Spannung auf die zwei schwarzen Brillengläser gerichtet, hinter denen sich scheinbar nichts rührte und nichts vorging. »Dachte mir was Ähnliches«, murmelte Warschauer, »das war die Richtung, in der ich kombinierte. Saul zog aus, um die Eselinnen zu suchen, und fand ein Königreich. Mohl zog aus, um Gerechtigkeit zu suchen, er wird froh sein müssen, wenn er die Eselinnen findet. Funkeln Sie mich nicht so verächtlich an, teurer Mohl, das ist kein Zynismus, sondern eine Erfahrung. Ich darf Sie doch noch Mohl nennen, obschon ich nach Ihren Enthüllungen annehmen muß, daß das nur ein Nom de guerre ist. Schön, lassen wir's dabei. Ich habe mich an den Namen gewöhnt wie an ein Stimulans und bin nicht weiter neugierig. Jedenfalls haben Sie sich für Ihre Jahre nicht übel gehalten. Das ist es ja . . . das ist es ja . . . gutes Material, seltener Stoff . . . Verdammt, kleiner Mohl, was mußten Sie mir in die Quere kommen, welcher Teufel hat Sie geritten, daß Sie meinen Weg kreuzen mußten?« – Etzel sah erstaunt aus. »Ach herrje, ich meine, ein sehr logischer Teufel«, sagte er achselzuckend. Warschauer schnitt mit der flachen Hand waagrecht durch die Luft. »Davon red ich nicht, daß es bei Ihnen zweckgewollt war, nur davon, daß es für mich ein Attentat war, jawohl, ein Attentat«, sagte er mit so bösem Gesicht, daß Etzel erschrak. »Kann ich nicht verstehn«, sagte er. – »Ich mute Ihnen das Verständnis nicht zu, zweckgetrübter Jüngling«, war die schroffe Antwort; »obwohl ich mir bis zur Stunde schmeichelte . . . genug. Ich hatte abgeschlossen. Ich hatte Bilanz gemacht. Ich konnte keine Evenements mehr brauchen. Keine Aufrüttelungen mehr. Da brachen Sie in das friedhöfliche Idyll ein. Über denselben Saul, den ich vorhin zum Vergleich anzog, steht ein sublimes Wort im ersten Buch Samuel: Gott gab ihm ein anderes Herz.« Er blickte finster auf seine weißen, qualligen Hände, die auf den Knien lagen. – »Das gehört alles nicht zur Sache, Professor«, sagte Etzel hart. Warschauer sprang auf, schritt die schmale Stube entlang, kehrte zurück, setzte sich wieder. »Gut, sprechen wir also von der Gerechtigkeit«, entgegnete er mit sonderbar geschwellter Brust, was ihm ein zugleich prahlerisches und beleidigtes Aussehen gab.
Ja, es war etwas Beleidigtes und Prahlerisches an ihm, das an einen zurückgewiesenen Liebhaber erinnerte, der seine Vorzüge hinlänglich bewiesen zu haben glaubt. Doch als er nun zu reden begann, verzehrte die aufprasselnde Flamme des Geistes die unreinen, abstoßenden, gefährlichen, golemhaften Elemente wie nur je zuvor: »Gerechtigkeit, die große Mutter der Dinge, wie sie irgendein Schriftsteller nennt. Vielleicht war ich's selbst. In früheren Zeiten liebte ich die stolzen Euphemismen. Ein kluger Prälat sagte mir einmal: Rechte nicht, damit dir nicht dein Recht wird. Jedermann hat sich davor zu hüten. Man kann von der menschlichen Gesellschaft alles verlangen, sie wird sich immer zu Konzessionen herbeilassen, Gerechtigkeit zu verlangen, ist barer Nonsens, sie zu gewähren, stehn ihr nicht die Mittel zur Verfügung. Darauf ist sie auch nicht gestellt. Es ist, als ob man ein Baby in die Geheimnisse der Integralrechnung einführen wollte und dabei verabsäumt, ihm die nötige Milch zu geben. Wir haben nicht die nötige Milch. Ich bin auf dem Schiff mit einem Mann beisammen gewesen, der zum Völkerbund reiste, einem gläubigen Puritaner aus Boston. Er sagte mir begeistert: Die Aufgabe ist, Gerechtigkeit zwischen den Nationen zu schaffen. Ich lachte ihm ins Gesicht. Sie haben ein paar Stationen verschlafen, sagt ich ihm, Sie hätten in Ellis Island aussteigen sollen, um in die Einwandererbaracken zu gehn, auch ein kleiner Ausflug nach Mexiko hätte nicht geschadet, Sie sind in die verkehrte Richtung gekommen. Er sah mich mit offenem Mund an, begriff keine Silbe. Alle Gerechtigkeitsucher kommen in die verkehrte Richtung, was für einen Weg sie auch einschlagen, es ist immer der verkehrte. Ich habe den Verdacht, daß es eine selbstsüchtige Erhitzung des Gehirns ist, zerebrale Kraftmeierei. Michael Kohlhaas ist die hassenswerteste Figur auf Erden, kein Mensch außerhalb Deutschlands kapiert solchen preußischen Gedankengang. Das Weib vor Salomo, das das strittige Kind entzweigeschnitten haben will, ist nur die letzte Konsequenz davon. Gerechtigkeit heißt, das Kind entzweischneiden. Entrüsten Sie sich nicht, Mohl, es ist, wie ich sage, Ihre humanen Deliberationen bedeuten nicht mal so viel wie ein Fläschchen Öl auf den Niagarafall geschüttet. Salomo war ein weiser Mann, er hat alle Gerechtigkeitsapostel ad absurdum geführt, alle Pazifisten lächerlich gemacht. Gab es jemals, seit die Welt steht, einen gerechten Anlaß zu einem Krieg? Hat je ein General seine Schlachten aus Gerechtigkeitsliebe geschlagen? Oder wurde irgendeiner von den berühmten Länderdieben und Massenschlächtern zur Rechenschaft gezogen, außer wenn ihm sein Vorhaben mißlungen war? Ich rate Ihnen, mal über die Verwandtschaft, beinah hätt ich gesagt Blutsverwandtschaft der Begriffe Recht und Rache nachzudenken. Wann und wo in der Geschichte wurden Reiche gegründet, Religionen gestiftet, Städte gebaut, Zivilisation verbreitet mit Hilfe der Gerechtigkeit? Wissen Sie einen Fall? Ich weiß keinen. Wo ist das Sühneforum für die verbrecherische Ausrottung von zehn Millionen Indianern? oder für die Opiumvergiftung von hundert Millionen Chinesen? oder für die Versklavung von dreihundert Millionen Hindus? Wer hat die mit leibeigenen Negern vollgepfropften Schiffe aufgehalten, die zwischen dem sechzehnten und neunzehnten Jahrhundert in Karawanen von Afrika nach dem nordamerikanischen Kontinent segelten? Wo rührt sich eine Hand für die Hunderttausende, die in den Kupferminen Brasiliens zugrunde gehn? Wo ist der Richter, der die Pogrome in der Ukraine zu bestrafen unternimmt? Wollen Sie noch mehr? Ich bin versehen. Sie werden einwenden, das ist ja euer sittliches Arkanum: Man muß es bessern, man muß es ändern. Ta, ta, ta . . . Man bessert nichts, man ändert nichts. ›Man‹ nämlich. ›Es‹, das ist eine andere Schose. Aber da handelt es sich um Entwicklungen, so lang wie die vom Affenmenschen bis zu Perikles. Das Unterfangen ist zu groß, das Eigenformat zu klein, mein guter Mohl. Anmaßung! Anmaßung! Ihr könnt eure Gaben wirksamer verwenden, ihr Repräsentanten, ihr. Denn Sie halten sich doch wohl selber für einen Repräsentanten. Des Zeitgeistes? der Generation? Leugnen Sie nicht (Etzel dachte gar nicht daran, zu leugnen oder überhaupt etwas zu bemerken, er hörte nur mit runden aufgerissenen Augen zu), leugnen Sie nicht, es ist die Mode, es ist der Typus. Alle diese Vatersöhne heutzutage, diese rebellischen Run-away-boys, die die Welt beglücken wollen, schließlich müssen sie klein beigeben und froh sein, wenn man ihnen gestattet, von irgendeinem Amtssessel aus zu dekretieren, daß der Mist in einem zufällig benachbarten Augiasstall wenigstens die Nase des Publikums nicht belästigt. Sie sind schnell von der Einbildung geheilt, daß sie damit mehr geleistet hätten als die geschmähten Erzeuger. Was hat es für einen Sinn, nach Gerechtigkeit zu schreien, wenn die grobe Realität, die uns umgibt, uns fortwährend mit unverschämtem Hohn daran erinnert, daß wir ja von den Früchten der Ungerechtigkeit existieren. Jeder Bissen Brot, den ich verzehre, jede Mark, die ich verdiene, jedes Paar Schuhe, das ich trage, ist das Resultat eines verwickelten Systems von Rechtlosigkeit und Ungerechtigkeit. Jedes menschliche Dasein, jede menschliche Tätigkeit heute setzt eine Hekatombe von Hingeopferten voraus. Sie und Ihresgleichen aber setzen voraus, daß ein Wille zur Gerechtigkeit vorhanden ist, sozusagen die immanente Idee davon. Das ist falsch. Ein Trugschluß. Dem Menschheitsganzen ist die Gerechtigkeit vollständig schnuppe. Sie hat gar kein Organ dafür, die Menschheit. Bisweilen berauscht sie sich an dem Gedanken, namentlich in Zeiten, wo sie viel Butter auf dem Kopf hat, aber wenn nur im geringsten die Dividenden dadurch bedroht sind oder die Börsenkurse fallen, ist's Essig mit der Begeisterung, und selbst die lärmendsten Frösche steigen von ihrer Prophetenleiter herunter und hören auf zu quaken. Ich kannte zwei Leipziger Bankdirektoren, beide an derselben Bank. Das Institut verkrachte, zahllose Familien verloren ihre Ersparnisse. Der eine, ein anständiger Kerl, übergab der Konkursverwaltung sein ganzes Vermögen und stellte sich dem Gericht. Er wurde denn auch eingesperrt, bekam seine drei Jahre Gefängnis. Der andere, ein Halunke, soweit er warm war, wußte durch alle Maschen des Gesetzes zu schlüpfen, brachte seine Beute in Sicherheit und ist heute ein angestaunter, mit Orden bedeckter Nabob, Stolz des Vaterlandes. Die arme Dienstmagd, die in der Verzweiflung ihr Neugeborenes erwürgt, findet bei der Justiz kein Erbarmen, aber neulich hat ein hochadliger Herr in Mecklenburg seine Frau vergiftet, weil er sie beerben wollte, und sechs Monate lang hat der Staatsanwalt gezögert, die Anklage zu erheben. Im vorigen Jahr war ich mal bei einer Verhandlung, da wurde eine Frau wegen Kuppelei verurteilt, weil sie der Tochter mit ihrem Verlobten nächtliche Unterkunft gewährt hatte; ich vergesse nie den entsetzlichen Aufschrei dieses Weibes bei der Urteilsverkündigung, so viel Jammer über ein vernichtetes Leben, so viel Fassungslosigkeit über den Weltzustand hab ich noch nie in einer Menschenstimme gehört. Hingegen spricht eine verblödete Geschworenenbank irgendwo eine geständige Gattenmörderin frei, weil sie elegante Fetzen trägt und mit hochtrabenden Literaturphrasen um sich wirft. Wenn Sie mir beweisen, daß in einem einzigen dieser Fälle ein Hahn danach gekräht hat, ein symbolischer Hahn natürlich, ob der Gerechtigkeit Genüge geschehen ist, wie der Fachausdruck lautet, so zahl ich 'nen Taler. Sie haben das Malheur einer Inspiration gehabt, lieber Mohl, so sagten Sie doch. Sie hätten sieben- bis siebzigtausend ähnliche Inspirationen haben können, warum gerade die? Sie belasten eine Zufallsentdeckung mit zu viel Selbstverantwortung. Sie übernehmen sich. Sie verschwenden Leben, Geist, Kraft und Zeit an eine verlorene Sache, eine tote Angelegenheit. Wer ist Maurizius? Wer schiert sich um Maurizius? Was für einen Unterschied macht es aus, ob er im Zuchthaus oder in einer Mietswohnung sitzt, ob er schuldig oder unschuldig ist? Wie heißt's bei Goethe: Am Jüngsten Tag ist's nur ein Furz. Dafür das großartige Wort Gerechtigkeit bemühen, bei einem solchen Weltzustand, das nenn ich meiner Treu mit einer Dampfmaschine eine Kaffeemühle betreiben.«
Aus Etzels Gesicht war alle Farbe gewichen. Seine Lippen bebten, das Kinn bebte, Schauer überliefen ihn von oben bis unten, mit glühenden Augen verschlang er den Mann da vor ihm. Er brauchte sich nicht krank zu stellen, er war es in diesem Moment, war es an Herz und Seele, krank vor zorniger Verachtung, vor rasender Enttäuschung und Erbitterung. Er machte eine sinnlose Gebärde, als wolle er dem Menschen was er fühlte ins Gesicht werfen, wie man in der Wut einen Stein aufhebt, um ihn nach dem Beleidiger zu werfen, dann stammelte er, indem er sich auf seinem Bett hin und her wand: »Aber das ist ja . . . das ist ja . . . unglaublich ist das ja . . . das kann einem ja kein Mensch glauben . . . so was Verruchtes . . . nein, so was Scheußliches . . . das soll man sich anhören . . . das wollen Menschen sein . . . redet, redet . . . o Gott, o Gott . . . das will ein Mensch sein . . . er soll fortgehn, der Mensch . . . adieu . . . er soll weg . . .« – »Mohl!« rief Warschauer in ehrlichem Schrecken. Diese Wirkung hatte er offenbar nicht erwartet. – »Wasser«, ächzte Etzel. – »Ja, gewiß, sogleich, mein Lieber Teurer«, murmelte Warschauer bestürzt und fuhr tapsig in der Stube herum, nach einer Wasserflasche suchend. Endlich fand er sie, schenkte ein, brachte das Glas. Etzel stieß einen tiefen Seufzer aus und lag steif in den Kissen. »Na, na, na«, machte Warschauer, »was gibts denn, Lieber, Guter, faß dich, Mohlchen, sich mich an, schau deinen Freund an . . .« – »Heiß«, flüsterte Etzel, »schlecht . . .« – »Ja, gewiß, Söhnchen, gewiß«, er tastete den Körper des Knaben ab, »freilich . . . heiß . . . wir werden dir einen Umschlag machen . . . das Fieber natürlich . . .« In der Tat fühlte sich der ganze Körper an wie die Kacheln eines überheizten Ofens. Geheimnisvolles Phänomen, denn in Wirklichkeit hatte Etzel kein Fieber. Vermochte er so Ungeheures über seine Physis, daß er sie durch einen seelischen Affekt einfach mitreißen konnte? Nur weil er den Augenschein für den andern brauchte? Was war da noch Verstellung, was letzte heroische Anstrengung und Preisgabe? Wie ein wahnwitziger Wettläufer rannte er zum Ziel, besinnungslos mitten in eiskalter Besinnung. Warschauer tauchte ein Handtuch in den gefüllten Wasserkrug, wand es aus, so daß nur die satte Feuchtigkeit blieb, kehrte zum Bett zurück und streifte dem Knaben das Hemd ab. Etzel hielt still, lag steif da, rührte sich nicht. Als er den nackten Jünglingsleib vor sich sah, versank Warschauer in starre Betrachtung. Seine Hände zitterten. Hinter den Brillengläsern lohte es unheimlich auf wie von zwei winzigen, schwarzen Flämmchen. Er öffnete den Mund. Er sah aus wie ein Verhexter, der ein Gebet angefangen hat und nicht weiter weiß. »Menschlein«, flüsterte er, »Junge du . . .« – Da schien Etzel zu erwachen. Hastig packte er mit beiden Händen beide Arme Warschauers. Schaute ihn an, mit einem unsäglichen Blick, kühn, wild, flehend, herrisch. Ließ die Arme los, richtete sich auf seinen Knien auf, krallte die Finger in die Schultern des Mannes. Ließ die Schultern los, griff nach der Brille, riß sie herunter. Hielt die Brille in der Linken wie eine Trophäe. Nackt mit der Brille in der Hand kniend sagte er: »Ich will alles wissen. Hören Sie? Ich will wissen, wie das war mit dem Gott aus der Maschine, Sie dürfen's mir sagen. Ich bin's wert. Also, Professor, wer hat geschossen? Hat sie geschossen, die Anna Jahn? Ja oder nein? Ja oder nein?«
Ein stumpfer Tierblick aus den wasserblassen Augen war die Antwort.
Über Warschauers käsiges Gesicht flackerte ein schwaches Lächeln. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich des wie außer sich auf ihn zudrängenden Knaben zu erwehren. Er nahm ihm sanft die Brille aus der Hand und legte sie auf den Stuhl. Er streichelte die Schulter, den Rücken, die Hüfte des schönen, schlanken Körpers, dabei klapperten ihm die Zähne. »Nu ja, nu ja, sie hat geschossen«, sagte er mit einer Art von greisenhafter Nachgiebigkeit, »wenn dein Herz dranhängt, Mohlchen, warum soll ich dir's verschweigen . . . Ja, sie hat geschossen . . . was blieb ihr denn anders übrig . . .« Etzel umkrampfte mit beiden Händen Warschauers Rechte. Er glitt auf das Bett zurück, ohne die Hand des Mannes loszulassen. Es war wie eine Glücksbetäubung. In leidenschaftlicher Begierde bohrte er den Blick in die wasserblassen Augen. Er hatte das Gefühl, solang er ihn im Blick hielt, konnte der Mann nicht entrinnen. Warschauer setzte sich auf den Bettrand, und hie und da die Lippen fletschend und mit dem Kiefer malmend, in demselben greisenhaften, fast schlabbrigen Ton berichtete er die Einzelheiten des Vorgangs. Daß sie umstellt war. Daß sie vollständig den Kopf verloren hatte. Drei Bluthunde hinter ihr her, der Schwager, die Schwester und er, Waremme. So sah sie es: drei Bluthunde. Sie wußte nicht mehr aus noch ein. Den Revolver hatte er ihr am Nachmittag gegeben. Er hatte ihr gesagt: Man kann nicht wissen, was passiert, es ist für den äußersten Fall. Er hatte nicht überlegt, daß sie sich in ihrer Verzweiflung auch selber damit umbringen konnte. In der Tat war sie nah daran. Sie gestand es ihm später. Es war sein magnetischer Wille, der sie im letzten Moment davon abhielt. Geahnt hatte er etwas dergleichen. Er ging eineinhalb Stunden vor den Fenstern auf und ab. Er war gar nicht im Kasino. Er war eine Stunde früher als gewöhnlich von dort weggegangen. Die betreffenden Zeugen hatten sich geirrt oder waren durch seine nachträgliche Behauptung irregeführt. Er ging also in der Dunkelheit unter den Fenstern der Seitenfront auf und ab, er behielt die erleuchteten Fenster des Zimmers im Auge, er konnte bisweilen ihren Schatten sehen. Es war eine Erfahrung, der er vertrauen durfte, wenn er seine Gedanken fest auf sie richtete, verfiel sie unmittelbar seinem Einfluß und verlor ihren Willen an ihn. Sie mußte aber durch das halbgeöffnete Fenster das Rascheln seiner Schritte im dürren Laub gehört haben. Das trieb ihre Angst auf den Gipfel. Sie setzt sich ans Klavier, spielt irgendein Stück, bricht wieder ab, stürzt ins Treppenhaus, telephoniert ihm, Waremme, in seine Wohnung, ins Kasino. Vergebens. Um Gottes willen, Elli, schreit sie dann in ihrer Herzensangst die Treppe hinauf, dein Mann kommt, komm herunter, sonst geschieht ein Unglück. Daraufhin rast Elli die Treppe herunter, auf die Schwester los wie eine Tolle, packt sie am Hals und zischt ihr zu: Verschwinde augenblicklich oder ich erwürge dich. In dem Moment klappt die Gartenpforte zu, Elli fliegt hinaus, und Anna, in der jeder Blutstropfen wie verwest ist, taumelt ihr nach. »In dem Moment trat ich hinter dem Haus gegen die Treppe vor«, schloß Warschauer, »in dem Moment, als der Schuß fiel. Was weiter geschah, ist nicht mehr interessant. Es stimmt so ziemlich mit den sattsam durchgekauten Fakten überein. Den Revolver hab ich natürlich an mich genommen und verschwinden lassen.« – »Aber zuerst sind Sie mit dem Revolver auf Maurizius zugegangen?« fragte Etzel atemlos. – »Ja.« – »Damit es den Anschein haben sollte, Sie hätten ihm die Waffe aus der Hand gerissen?« – »Ja. Selbstverständlich. Exzellente Bemerkung.« – »Aber wie war es möglich, daß die Anna Jahn ihn hat verhaften lassen, verurteilen lassen, wie ist es möglich, Professor, daß die ganzen neunzehn Jahre . . . ich kann's nicht fassen . . . wie hat sie's über sich gebracht? wie kann das ein Mensch?« – Warschauer blickte schief zu Boden. »Das . . . ist ein Geheimnis ihrer Natur. Darüber kann ich nur mangelhaften Aufschluß geben. Ich sagte es schon: Ich hatte mit einer Leiche zu tun. Einer Leiche, die ich galvanisieren mußte, damit sie Leben vortäuschte. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Während der ganzen Voruntersuchung, als sie im Süden war, blieb ich in ihrer Nähe . . .« – »Aber nachher, nachher, die vielen Jahre nachher? Professor! Professor! denken Sie doch!« – Warschauer ließ die Augen über die Wand gleiten, als wolle er die von den Wanzen verursachten Blutspritzer zählen, plötzlich sah er Etzel fest, mit unheimlich zusammengezogenen Brauen ins Gesicht und sagte: »Es geht sehr tief. Man kann das Gewebe dieser Seele kaum überblicken. Meine Einflußmacht traf in dieser Richtung auf eine schon vorhandene Entschlossenheit. Ich werde jetzt etwas sagen, was außer Ihnen und mir niemand auf der Welt weiß. Es mag zunächst scheinen, daß es etwas sehr Gewöhnliches ist, aber im Hinblick auf die Person, um die es sich handelt, ist es etwas Außerordentliches. Es ist eben das, was mich zum letzten Schiedsrichter gemacht hat. Als ich den Sachverhalt begriff, war mir, als hätte mich ein Gigant gepackt und mir das Rückgrat gebrochen. Nämlich, sie hat den Menschen geliebt, das war es. Sie hat ihn unsinnig geliebt. Sie hat ihn so geliebt, mit einer so furiosen Leidenschaft, daß ihr Gemüt sich verfinsterte und unheilbar krank wurde. Das war das Äußerste für sie, diese Liebe, es war der Sprung in den Orkus. Und er, er wußte es nicht. Er hatte nicht einmal die Ahnung. Er seinerseits liebte nur, der Unselige, aber er bettelte und warb und winselte noch, indes sie schon . . . nun ja, in den Orkus gesprungen war. Daß er es nicht wußte, verzieh sie ihm nicht. Daß sie ihn so über alles Maß liebte, verzieh sie ihm ebenfalls nicht und verzieh sie sich selber nicht. Dafür mußte er seine Strafe leiden. Er durfte nicht mehr auf der Welt sein. Daß sie die Schwester erschossen hatte um seinetwillen, durfte niemals, unter keinen Umständen, ein Weg von ihm zu ihr werden. Sie hatte sich ein Aberrecht gebaut, darin mauerte sie sich ein. Sie schuf sich seinen Tod, sie schuf sich seine Sühne, sie war sein grausamster Verfolger und machte sich selber, um sein Leben und seine Strafe mitzuleiden, zur seelenlosen Lemure. Außerdem war ein bürgerlicher Stolz in ihr und eine bürgerliche Feigheit zugleich, die man kaum wieder in einem Wesen derartig verquickt finden wird. Die Zeit, die solche Geschöpfe zur Hochblüte trieb, ist ja vorüber. Als sie zum erstenmal ihren Namen in Verbindung mit der ganzen Affäre in der Zeitung las, wobei man sie doch behandelte wie ein rohes Ei, hatte das eine sonderbare Wirkung auf sie: Stunden und stundenlang wusch sie sich die Hände und empfand einen Ekel, der in alle Grade stieg bis zu konvulsivischen Schaudern. Nein, Mohl, diesen Charakter können Sie nicht verstehen, und schließlich muß ich sagen, der Himmel bewahre Sie auch davor, ihn zu verstehen. Heidnisch wild und albern bigott, voll Hoffart und voll Selbstuntergrabungswut, keusch wie ein Altarbild und von einer mystischen, urwaldhaft dunklen Sinnlichkeit durchflammt, streng und zärtlichkeitshungrig, verriegelt, die Riegel hassend, den hassend, der sich dran vergreift, und den, der sie respektiert, vor allem aber: unter dem schwarzen Stern. Es gibt viele Menschen, die unter dem schwarzen Stern gehen. Lichtlose. Sie wollen ihr dunkles Fatum und locken's an sich und fordern es so lange heraus, bis es sie zertritt. Sie wollen zertreten sein. Sich nicht beugen, sich nicht hingeben, zertreten sein. So war das mit ihr. Schön, das wäre gesagt. Nur Geduld, Mohl, ich komme schon zu dem, was Sie eigentlich von mir zu hören wünschen. Der Eid . . . ich weiß, ich weiß . . .« Er erhob sich, stieß gegen den Stuhl, die Brille fiel herunter, er bückte sich, schaute sie prüfend an, das eine Glas war zerbrochen, er nickte und schob sie in die Tasche. Dann schritt er zum Fenster, schaute eine Weile in die Regennacht empor, kehrte zurück. »Der Eid war nichts weiter als eine Sache der Haltung und eine technische Konsequenz. Es ist schwer, mit einem gebrochenen Rückgrat Haltung zu bewahren, aber item, es mußte sein. Ich stand auf einer Trümmerstätte, wer als letztes Opfer noch zu fallen hatte, darüber gab es keinen Zweifel. Für mich wenigstens nicht. Ich hatte nicht Menschenwert gegen Menschenwert abzuwägen, die Frage hieß: wo ist in der vollständigen Finsternis noch ein Schimmer von Zukunft und was ist aus dem Debakel zu retten? Zwischen mir und dem Leonhart Maurizius war ein Duell auszufechten, kein ritterliches allerdings, ein Schicksalsduell. Schicksal wider Schicksal. Wenn ich Sieger in dem Zweikampf blieb, so war es Schicksalsentscheidung. Glauben Sie nicht, daß man das mit dem starken Gewissen alleine macht, es gehört auch das magische Zeichen dazu, das man von den unsichtbaren Geistern empfängt. Das Gewissen allein hielte vielleicht nicht stand, der Ruf bewirkt es, ob er vom Himmel oder von der Hölle kommt, weiß man nicht, während man gehorcht. Den schwarzen Stern, den sieht man nicht. Schuld . . . ja, gewiß . . . Schuld ist ein unergründliches Relativum, eine Zauberkugel, in der sich nur spiegelt, wer das jüdisch-christliche Abrakadabra dabei aufsagt. Heut sieht es aus wie Schuld. In manchen Stunden . . . in manchen Nächten . . . man wird schwach unter dem wechselnden Mond. Hätt ich ein Reich gewonnen, das Reich von dieser Welt, wie es einmal den Anschein gehabt hat, daß es sein könnte, wäre keine Schuld an mir. Sie wäre ausgeglichen. So hat man eben verspielt. Sollte es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde geben, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt? Oder, um das Wort zu erweitern, von denen sie sich nur träumen läßt? In manchen Nächten –? Mohl, Mohl, ich fürchte, wir sind allzumal jämmerliche Kreaturen, alle aus dem nämlichen Holz geschnitzt, alle für den Wurmfraß gerade gut genug. Triste Erkenntnis. Tristes Finale.«
Er setzte sich wieder auf den Bettrand (Etzel hatte sich indessen bis zum Hals zugedeckt), ergriff die Hand des Knaben und sagte: »Ich habe keinen Anstand genommen, Ihnen reinen Wein einzuschenken, da Sie doch mal Ihre Seele drangesetzt haben. Warum sollt ich Ihnen den Gefallen nicht tun? Praktischen Wert hat es für Sie keinen, der Meineid ist längst verjährt. Gott . . . ja . . . am Ende wär mir auch das gleichgültig, für mich ist nichts mehr von Belang in diesem Leben. Prüfe ich mich genau, so bin ich in dem Punkt gänzlich desinteressiert. Aber ich möchte das Lenkrad noch eine Weile in der Hand behalten. Machen Sie sich also keine übertriebenen Hoffnungen. Auch wenn Sie mein Geständnis vor den Kadi bringen, wird es Ihnen nichts nützen. (Er schmatzte schadenfroh mit den Lippen.) Der Mechanismus eurer Gerichte ist so verrostet, daß man sich schwer hüten wird, eine sakrosankte Justizleiche aus dem Grab zu schaufeln, weil ein siebzehnjähriger Feuerkopf Lärm schlägt, und außerdem bin ich immer noch der Mann, der sich selber sein Gesetz gibt und nicht einer verspäteten Passion zuliebe ridikülerweise seine bürgerlichen Aussichten aufs Spiel setzt, mögen es noch so schofle Aussichten sein. Denn eine Passion hab ich für Sie, das will ich offen bekennen, Junge. Es wäre undankbar gegen das Geschick, wenn ich's nicht täte. Sie haben mein verwelktes Herz in Ihre beiden Hände genommen und es gelegentlich und ohne daß ich's verhindern konnte in ein wunderliches Licht hinaufgehoben. Dem Verdienst seine Krone. Nichts für ungut, Mohl.« Er stand auf. »Ich werde übrigens von der hiesigen Bühne demnächst wieder abtreten. Irgendwo im polnischen Oberschlesien lebt eine Tochter von mir, ich habe sie seit dreiundzwanzig Jahren nicht gesehen, sie soll an einen Verwaltungsbeamten verheiratet sein, nach der will ich mich mal umschauen, Sie wissen ja: gen Osten, gen Osten. Vielleicht find ich dort eine Art Ruheplatz. Eine Art Altersheim. Und Sie werden doch begreifen, daß ich dazu einen halbwegs sauberen Namen mitbringen muß. Das können die Leute von mir verlangen. Aber wenn Sie mich daselbst zum zweitenmal zu finden wissen, Sie glühender kleiner Fahnenjunker Sie, dann bin ich vielleicht zu gültigem Zeugnis bereit, falls es sein muß. Dann, möglich ist alles, helf ich Ihnen am Ende, der maroden Justitia unter Preisgabe meines unwürdigen Ichs Beine zu machen. Pereat Warschauer, fiat mundus. Sehen Sie nur zu, daß Sie eine halbe Stunde vor meinem Hinscheiden zur Stelle sind.« Mit trockenem Auflachen griff er nach Hut und Mantel. »Na, 's ist wieder mal spät geworden. Au revoir, junger Mohl. Morgen will ich mich wieder erkundigen, hoffentlich sind Sie dann gesund. Wie komm ich aus dem Hause?« – Etzel schlüpfte in sein Nachthemd und erwiderte: »Man kann durch die Gastwirtschaft gehen, da ist immer offen.« Seine Stimme klang so verändert, daß Warschauer stutzte und sich noch einmal umdrehte. Dieselbe Veränderung zeigte auch Etzels Miene, eine kalte, klare Bestimmtheit. – »Hm. So«, machte Warschauer und ging. Etzel hörte noch, wie er sich durch Melittas finstere Stube tastete, dann klappten noch zwei Türen, dann war es still.
Er lag auf dem Rücken und schaute in die Luft. Er fühlte sich so leicht wie eine Flaumfeder, so erdlos. Aber die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, die waren schwer und dunkel. Es mochten zehn Minuten verflossen sein, er hatte sich noch nicht entschließen können, die Gasflamme abzudrehen, da scharrte es an der Tür, gleich darauf wurde sacht geöffnet, und von ihrem absurden, grünen Tuch umhüllt wie ein Flaggenmast von der Flagge stand Melitta auf der Schwelle. Die überschritt sie nicht, sah nur von dort aus zu Etzel hinüber mit einem spähenden, gespannten, intensiven Ausdruck. Etzel bewegte ein wenig den Kopf gegen sie und erwiderte den Blick: »Haben Sie gehört?« flüsterte er. – Sie nickte. – »Alles? haben Sie alles gehört?« wiederholte er flüsternd; es war nicht recht einzusehen, warum er nicht laut redete. – Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und antwortete: »So ziemlich.« – »Das ist gut«, sagte Etzel. Weiter nichts. – »Es kommt 'n Gewitter«, sagte das Mädchen. In diesem Augenblick machte das mechanische Klavier eine seiner Pausen, und in der Tat hörte man leisen Donner über die Dächer grollen. Melitta schloß die Tür wieder. Etzel stellte sich im Bett aufrecht und schraubte das Gaslicht ab. Er wickelte sich in die Bettdecke, seufzte vor sich hin, sagte zu sich selber »Gut Nacht, E. Mohl«, schlief sofort ein und schlief fest und ruhig wie ein kleines Kind. Als er am Morgen erwachte, knipste er eine widerlich angesogene Wanze von seinem Ärmel, atmete tief auf und sagte: »Gut Morgen, E. Andergast.«
Es war sieben Uhr, er sprang aus dem Bett und fing an, seine Habseligkeiten zusammenzupacken. Drei Stunden später war er auf dem Bahnhof.