Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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7

Eines Nachmittags um die Dämmerzeit öffnet sie, von einem Gang in die Stadt zurückkehrend, die Tür zum Wohnzimmer; da fahren Leonhart und Anna erschrocken auseinander, fassungslos starren sie die auf der Schwelle Stehende an; Anna macht ein paar Schritte zum Fenster und ordnet das verwirrt in Stirn und Wangen hängende Haar, verbirgt ihr über und über flammendes Gesicht; Leonhart verbleibt wie angewurzelt beim Sofa und wendet sich mit einer flehentlichen Gebärde zu Elli. Es fällt kein Laut. Als Anna sich einigermaßen gesammelt hat, packt sie ihren Mantel und Hut, die auf einem Sessel liegen, geht mit stürmischen Schritten zur Tür und heftet, während sie an ihm vorübereilt, auf Leonhart einen Blick von so glühender Verachtung, daß dieser, fahl wie ein Handtuch, dieselbe flehende Gebärde wie vorhin an seine Frau nun an Anna richtet. Aber ihre Augen blitzen ihn nur unsäglich stolz an, als sei es schmählich für sie, im gleichen Raum mit ihm zu sein, den sie auch darum so schnell wie möglich verläßt. Laß mich durch! ruft sie der Schwester gebieterisch zu, Elli weicht schweigend zur Seite, und sie verschwindet. Ihre leichten, hastigen Schritte sind noch nicht verklungen, da tritt Leonhart vor seine Frau hin und sagt beschwörend: Beim ewigen Gott, Elli, sie hat keine Schuld. Da Elli immer noch schweigt – vor ihr dreht sich ja das ganze Zimmer mit den Möbeln im Kreis –, wiederholt er, sinkt dabei auf die Knie und umfaßt ihre Schenkel: Glaub mir, Elli, ihr kannst du nichts vorwerfen, sie ist rein wie der Tag. Sein Betragen ist theatralisch, Elli fühlt es; dennoch, in seiner Stimme, in seiner Miene ist Aufrichtigkeit und Wahrheit. Was könnte Elli tiefer verstören als eben dies?

Über den Zwischenfall gab es zwei Aussagen, die im wesentlichen übereinstimmten, die eine von Leonhart selbst, die andere von dem Dienstmädchen Frieda, die ihn belauscht hatte. Er verlieh der Situation der drei Menschen anscheinend das gültige Gepräge. Ungefähr so: Leonhart, der sinnlich betäubte Schwächling, fasziniert von der schönen Schwägerin und nur darauf bedacht, sie zu Fall zu bringen; diese, in einer mittelbaren Abhängigkeit, unsicher über ihre Zukunft, erwehrt sich der leidenschaftlichen Nachstellungen, so gut sie kann, trachtet auch, ihn mit allen Mitteln zur Vernunft zu bringen, unterliegt aber dabei, da sie doch ein neunzehnjähriges, unerfahrenes Mädchen ist, jeweils dem Zauber, der von dem Mann unleugbar ausgeht, so daß sie trotz ihrer Zurückhaltung der Schwester in zweideutigem Licht erscheinen muß. Sie will Elli nicht hintergehen; auch wenn sie Leonhart liebte, könnte sie der Schwester nicht den Gatten abspenstig machen; sogar wenn er sich von Elli scheiden ließe, könnte sie den Gedanken nicht ertragen, das Leben der Schwester zerstört zu haben. Und ist es denn seine Absicht, Elli zu verlassen? Ganz und gar nicht. Erstens besteht eine ähnliche, nur viel stärkere Abhängigkeit wie für Anna auch für ihn; er ist ein den kleinen, luxuriösen Behaglichkeiten des Daseins zu verhafteter Mensch, als daß er sich entschließen könnte, wieder in die unsichere Enge seiner Junggesellenwirtschaft zurückzukehren, angewiesen auf die Launen eines despotischen Vaters. Sodann riskiert er seine Stellung in der Gesellschaft, auf die er den größten Wert legt, seine wissenschaftliche Karriere; man verzeiht in den Kreisen, in die er sich so schmiegsam eingelebt hat, jede heimliche Vergehung, nie aber den offenen Skandal. Er sieht sich also gezwungen, zu lavieren, denn auf das eine oder das andere zu verzichten, dazu ist er der Mann nicht. Zum Verzicht gehört klare Erkenntnis; solche Halbcharaktere machen sich aber selten ihre Lage und ihre verborgenen Regungen völlig klar, sie schwimmen lieber im Ungefähr. Und hier beginnen die Rätsel in dem sonst so uninteressanten Dreieck.

Trotz der unhemmbar wachsenden Leidenschaft für Anna, einem Gefühl, neben dem nichts anderes mehr Raum hat in seinem Innern und das schließlich niemand mehr verborgen blieb, lebt er mit Elli als mit seiner Ehegattin weiter. Es mag von ihm aus begriffen werden. Er sucht vielleicht in ihren Armen Vergessenheit, aber von ihr ist schwer zu glauben, daß sie ihm die geben kann, da sie doch in ihrer Qual nicht ein noch aus weiß. Vielleicht will er sie über seinen Zustand täuschen, wobei man freilich voraussetzen müßte, daß eine Frau wie Elli in dieser Hinsicht getäuscht werden kann. Vielleicht versagt sie sich ihm nur nicht; vielleicht hofft sie noch, vielleicht glaubt sie an eine Magie ihres Blutes, die ihn ihr zurückgewinnen kann, vielleicht ist etwas dem Ähnliches wirklich vorhanden, und nicht bloß das Erbarmen des Weibes, das sie in einen Abgrund reißt, der wie eine mit Feuer gefüllte Gletscherspalte ist, nicht bloß das Mitleid der mütterlichen Geliebten, die ihr Letztes hergibt, weil das Letzte eben gefordert wird. Daß er es fordert, daß er es nimmt, während er nur das vergötterte Bild der jungen Schwester vor Augen hat, und so sichtbar und spürbar, daß für Elli ein Grauen ist, was für ihn ein Glückstraum, das macht sein Bild fast abstoßend. Der Wollüstling geht die dunkelsten Wege in der Welt.

Jedoch es hat außerdem den Anschein, als könne er nicht von ihr los. Sie hat irgendeine unbegreifliche Macht über ihn, die ihn hält. Er könnte es wahrscheinlich selbst nicht erklären. Möglich, daß es etwas ist, wovor er sich zu schämen hat. Manchmal durchschaut eine Frau, und sie braucht dazu nicht einmal bedeutend zu sein, den Mann in einer Weise, die ihn mehr an sie kettet als Sinnlichkeit oder Interessen. Es gibt Männer, denen es den Lebensnerv lähmt, wenn man ihre Gedanken errät, bevor sie sie in Tat umgesetzt haben, weil sie so organisiert sind, daß sie nur durch die Verschleierung ihres inneren Wesens eine äußere Wahrheit erlangen. Wenn nun derselben Frau neben dieser intellektuellen Gabe noch eine gewisse Blutgewalt eigen ist, so ist sie für ihn doppelt zu fürchten, dreifach, zehnfach, je nach der Größe der Gewalt. Das schafft die tiefsten Abhängigkeiten, die wir kennen. Er hat sich ihr überliefert durch das Vertrauensgelübde. Er ist, wie viele schwache Naturen, krankhaft empfindlich im Punkt der Ehre, das heißt in der Weise empfindlich, daß er ihre Integrität unter Umständen auch durch den fadenscheinigsten Selbstbetrug aufrechterhält. Sich vergangen zu haben, wird er hartnäckig bis aufs äußerste in Abrede stellen, auch wo der Beweis gegen ihn erdrückend ist. Er will in ihren Augen nicht fallen, das ist es. Ihre Bewunderung, ihr zartsinniges Verständnis hat ihn allmählich in eine Atmosphäre des Mitsichselbst-Einverstandenseins gehoben, die ihm zum Leben nötig ist, und so hat er noch immer die Gebärde, den Blick, ja das Wort des früheren Vertrauens, als er längst nicht mehr wagt, ihr Geständnisse zu machen. Es ist, wie wenn ein Maschinenrad ohne Transmissionsriemen läuft. Er fürchtet sich. Er läßt es lieber darauf ankommen, daß sie es auf Umwegen, nach und nach und ohne sein Zutun erfährt. Dadurch gewinnt er Zeit. Man weiß nie, was zwischen heut und morgen passieren kann. Er fürchtet sich vor der Veränderung ihres Gefühls, vor ihrem Wissen, vor der unvermeidlichen Entscheidung, und vor allem fürchtet er sich vor dem, was er ihre Eifersucht nennt. Bei der Vorstellung eines Ausbruchs möchte er sich am liebsten aus dem Staub machen, die Leidenschaftlichkeit in ihr bedroht seine Fundamente und hat für seine sensiblen Nerven etwas Barbarisches.

Eifersucht – ein Begriff, der hier wenig besagt. Es handelt sich um eine hoffnungslose Krankheit, einen Krebs der Seele, gegen den es kein Heilmittel gibt, keinen Arzt, keine Linderung, nicht einmal Pausen der Erschöpfung. Sie nimmt alle Gerüchte gierig auf, es ist kein Mangel an Zuträgern. Da und da ist Anna mit ihm gesehen worden. Am Sonntag sind sie zwei Stunden im Kunstverein gewesen. Vorgestern abend hat er sie von der Pension abgeholt, und sie haben einen Spaziergang am Rheinufer gemacht. Er hat ihr von der Universitätsbibliothek aus ein Buch geschickt, in dem ein Brief gelegen ist. Sie hat am Mittwoch seine Vorlesung besucht, ist in der zweiten Reihe gesessen und hat ihn ununterbrochen angeschaut. Er ist, in einer Schneenacht, von elf bis halb zwei Uhr vor ihrem Haus auf und ab gegangen. Dann wieder: Sie ist im Garten der Villa gewesen, während Elli in der Stadt war, Leonhart ist hinuntergegangen, und sie haben, um die strohbedeckten Beete schreitend, einen heftigen Wortwechsel gehabt, wobei sie mit gesenktem Kopf nur geflüstert, er aber aufgeregt gestikuliert und bisweilen die Hände gerungen hat. Waremme hat ihn gestern im Wagen vom Kasino abgeholt, hinter der Pfarrkirche ist Anna eingestiegen. Das Dienstmädchen Frieda erzählt grinsend, das Fräulein Anna habe schon morgens um halb neun telephoniert, und sie habe ihr gesagt, die Herrschaft schlafe noch. Elli kann sich zu keiner Tätigkeit mehr aufraffen. Sie läßt im Haus sieben gerade sein, kümmert sich nicht um die Mahlzeiten, die Lieferanten bekommen wochenlang die Rechnungen nicht bezahlt. Den Vormittag über bleibt sie bei verhängten Fenstern im Bett; wenn sie endlich aufgestanden ist, erscheint sie, die früher so adrett, so sorgfältig auf ihr Äußeres bedacht war, übernächtig, unfrisiert, ein altes Tuch um die Schultern gewickelt, als friere sie bis auf die Knochen. Sie sitzt am Fenster, sitzt vor dem Ofen, sitzt und schaut ins Leere. In ihr Gesicht sind tiefe Runen gegraben, ihr Teint ist bleigrau; wenn sie ihr Bild im Spiegel erblickt, schaudert ihr. Kommt Leonhart nicht zu Tisch, so fängt sie an zu telephonieren, ruft seine Bekannten und Freunde an, erkundigt sich, ob er dort ist, ob sie wissen, wo er ist, schickt Frieda zu andern, die kein Telephon haben, in verschiedene Restaurants, ins Kasino. Natürlich erfährt er es, man macht sich über ihn lustig; Waremme prägt das Wort vom kühnen Ausreißer, der übers Schürzenband stolpert; zornig stellt er sie zur Rede; sie behauptet, es sei ihr bang gewesen, sie habe sich eingebildet, er liege irgendwo krank. Manchmal am Abend erträgt sie das Alleinsein nicht länger, stürzt aus dem Haus, kaum daß sie sich Zeit genommen, in einen Mantel zu schlüpfen, läuft in die Stadt, irrt sinnlos durch die Straßen, starrt fremde Leute auffallend an, verfolgt ein junges Paar, in dem sie Leonhart und Anna zu sehen vermeint, erregt bedenkliches Kopfschütteln bei den Passanten. Dann rast sie wie gehetzt wieder heim, wartet, wartet, wartet. Endlich kommt er, es ist Mitternacht, oft viel später noch, müde, wortkarg, scheu. Er wagt nicht, sich zurückzuziehen, ihr gebieterischer Anspruch auf seine Nähe macht ihn feig. Ist keine Vernunft mehr in ihr, daß sie sich demütigt, um seinen Blick bettelt, um eine geringe Zärtlichkeit bettelt, daß er die Hand in ihre legt, nur das, nur eine Minute lang? Wie ratlos sie ist, wie gänzlich verloren! Vor ihn hingekauert schluchzt sie in den Erdboden hinein; auf einmal geschieht das Gefürchtete, sie rast: In den Schlamm hast du mich gezogen, in die Gemeinheit, wo sind deine Versprechungen, was verheimlichst du mir, was hast du im Sinn? Und sie verflucht die Schwester und droht sich umzubringen, erst das verräterische Weibsbild, dann ihn, dann sich. Bilde dir nicht ein, daß du mit mir verfahren kannst wie mit den andern; ich bin keine, die sich abfinden läßt, bei mir geht's um alles, ums Leben, um die Ewigkeit, das hast du gewußt. Er, feig wie ein Hund, tröstet, beschwichtigt, leugnet, schwört, heuchelt Neigung, Freundschaft, Ergriffenheit, er kann nicht los, er kann nicht enden, er möchte ins Bett und schlafen, es ist ihm alles so verdrießlich, so zuwider, er zwingt sich zu einer lügenhaften Liebkosung, damit der Wahnsinn nicht ausbricht, wie er sich vor sich selbst entschuldigt, und sie: Töte mich, dann ist wenigstens Ruhe. Hat es nicht den Anschein, als habe dieses »Töte mich« in einer der finstern Stunden in ihm Wurzel gefaßt, als habe sie in seinen Augen den Wunsch gelesen, der schon vor ihrer verzweifelten Forderung in ihm war, und als stammten von daher die schrecklichen Ahnungen, deren Beute sie in der Folge ist, immer wenn das abgemüdete Herz einen Augenblick sich sammelt?

Nacht für Nacht die gleichen Szenen, fruchtloser, erbitterter, höllischer mit jedem Mal. Ihm graut vor seinem Haus, vor der Treppe, vor dem Licht. Einmal wirft er unterwegs den Schlüssel zum Gartentor in den Rhein und muß nachher über den Zaun klettern. Er weiß nun schon alles auswendig, die Worte, das Händeringen, die Tränen, die Erklärungen, zum Schluß das jammervolle Flehen, sie nicht allein im Zimmer zu lassen (sie schlafen jetzt nicht mehr beieinander), dann ihr ruhloses Wandern durch die Zimmer, wenn er sich endlich losgerissen, Veronal genommen hat und, von der unablässigen Furcht gepeinigt, einzuschlafen versucht. Bisweilen pocht sie noch einmal an seine Tür, als wolle sie sich versichern, daß er wirklich da ist. Man hat oft um vier Uhr morgens im Wohnzimmer der Eheleute noch die Lampen brennen sehen und ihre Stimmen gehört; in einer Nacht hat die Frau derartig aufgeschrien, daß der patrouillierende Schutzmann an der Villa läutete, um zu fragen, ob etwas passiert sei.

8

An einem Nachmittag geht Elli aus, spricht erst bei ihrer Schneiderin vor, nimmt hierauf in einer Konditorei den Tee, wozu sie zwei Gläser Kognak trinkt, und begibt sich dann in Annas Wohnung. Anna ist vor vierzehn Tagen umgezogen, sie hat eine elegante kleine Etage bei einer Majorswitwe gemietet; woher sie die Mittel dazu hat, ist nie erörtert noch aufgeklärt worden. Allerdings hat Gregor Waremme sie seit einigen Wochen als seine Sekretärin engagiert, sie arbeitet jeden Vormittag drei Stunden mit ihm; aber das reicht wohl kaum – bei ihren Ansprüchen – für Strümpfe und Schuhe, außerdem soll es nur für kurze Zeit sein. Es soll nämlich zu Ende des Monats eine sogenannte deutsche Tagung stattfinden, die hervorragendsten Vaterlandsfreunde sind zur Teilnahme aufgefordert worden. Waremme ist die Seele der Veranstaltung, die einen repräsentativen Charakter tragen soll; die Vorbereitungen, die Korrespondenz, die Beschaffung der notwendigen Fonds geben ihm viel zu tun. Er betreibt die ganze Angelegenheit mit um so größerem Nachdruck, als sich kürzlich wiederum eine neue Skandalgeschichte an seinen Namen geheftet hat, eine homosexuelle Affäre, in die einige junge Adelige eines vornehmen Korps verstrickt sind und die zu unterdrücken seine Gönner sich mit allen Kräften bemühen. (Es gelang ihnen aber doch nicht ganz, ein sozialistisches Blatt brachte, vorläufig ohne Namennennung, einen ziemlich alarmierenden Artikel; und man entschloß sich vorsichtigerweise, die Tagung auf den Herbst zu verschieben. Infolge der Ereignisse, die sich mittlerweile abgespielt hatten, unterblieb sie dann.)

Es ist schon bald Abend, im dunkelnden Zimmer wartet Elli auf die Schwester. Sie geht ruhlos auf und ab, manchmal hält sie inne, lauscht an der Tür, steht am Fenster, durchsucht die Papiere auf dem Schreibtisch, dann wieder auf und ab. Dann öffnet sie eine der Schreibtischladen; das erste, was ihr in die Hände fällt, ist eine Photographie Leonharts, die sie gar nicht kennt, unter der sie die Worte liest: »18. Mai 1905 sieben Uhr abends. Seit dieser Stunde weiß ich, daß ich eine unsterbliche Seele besitze. Leonhart.« Sie starrt auf das Bild. Sie lacht auf. In einem der letzten Briefe an die mehrmals erwähnte Freundin schreibt sie über den Moment: »Mir war, als hätt ich dort, wo meine Brüste sind, zwei tiefe wunde Löcher.« Ihr ganzer Körper wird von Lachen geschüttelt. Da tritt Anna ins Zimmer. Was tust du da, Elli? Die verhaßte rauhe, schwermütige Stimme. Elli reißt das Bild in vier Stücke und wirft sie Anna vor die Füße. Wie weit beabsichtigst du, die liederliche Komödie noch zu treiben! schreit sie ihr ins Gesicht. Entweder du oder ich, eine von uns beiden geht; und wenn ich's sein muß, weißt du, wohin ich geh, und du hast wenigstens ausgesorgt, und man kann dir zu deinem Kuhmagd-Gewissen gratulieren. Anna lehnt sich an die Wand, breitet die Arme mit einer Bewegung aus, als wolle sie sich an der Mauer festhalten, sie wird totenbleich und fällt zusammen. Ohne sich um sie zu kümmern, die wie eine Epileptikerin zuckend daliegt, will Elli sich entfernen. Aber sie hat noch nicht die Tür erreicht, da stehen Leonhart und Waremme vor ihr, beide im Smoking. Sie sind gekommen, um Anna abzuholen; ein Herr von dem Busche hat sie mit andern Freunden zum Diner ins Hotel geladen. Waremme tritt zu Anna, beugt sich zu ihr nieder, bemerkt die in Fetzen gerissene Photographie, erhebt sich kopfschüttelnd und wendet sich an Leonhart mit den Worten: Sie sehen, mein lieber Maurizius, daß Sie es so weit nicht kommen lassen durften. Zugleich gibt er ihm einen Wink, sich Annas anzunehmen; er selbst, sonderbar genug, geht auf Elli zu, die schweigend, zitternd ihrem Mann gegenübersteht, reicht ihr den Arm; sie, noch sonderbarer, nimmt seinen Arm, und er führt sie durch den Korridor, wo die Majorswitwe, die natürlich gelauscht und alles gehört hat, wie eine Fledermaus davonhuscht. Unten wartet der Wagen, er läßt sie einsteigen, setzt sich neben sie, fährt mit ihr nach Hause, geleitet sie in ihr Zimmer, spricht etwa eine Viertelstunde mit ihr. Sie hat das Gefühl, ein großer Arzt oder ein herzenskundiger Priester habe sich ihrer angenommen. Ihre Antipathie ist wie verweht, sie kann selbst nichts sagen, aber sie gibt sich, still weinend, dem Zauber seiner Nähe hin. Er ist so sanft, so gütig, so weise, sein Auge umfaßt ihr ganzes Elend. Wie kann das sein, denkt sie, so ein Mann existiert und man glaubt ihn hassen zu sollen? Sie billigt stumm seinen Rat, daß Leonhart sich in den nächsten Tagen von ihr fernhalten soll, er wird ihn so lange bei sich einquartieren, er soll auch Anna nicht sehen, am besten wäre es, wenn Anna hier im Haus der Schwester Unterkunft fände, er wird es ihr dringend empfehlen, es ist wichtig, schon um das üble Gerede zum Schweigen zu bringen. Er beteuert ihr Annas Unschuld, er sagt: Ich werde Ihnen, gnädige Frau, in kurzer Zeit den schlagendsten Beweis dafür erbringen. Was er im Sinne hat, kann nicht mißverstanden werden. In unbezwinglicher Erregung packt Elli seine Hand und will sie küssen. Um Gottes willen! ruft er aus und drückt seine Lippen auf ihre Stirn. In dieser Nacht schläft Elli dreizehn Stunden tief und traumlos. Der große Arzt hat ihr geholfen. Leonhart bleibt die ganze Woche über bei Waremme. An einem Morgen zu Anfang Oktober kommt er bloß in den Garten, schneidet Rosen und schickt Frieda mit einem Strauß zu ihr. Sie ist so freudig erschüttert, daß sie das Mädchen umhalst und abküßt. Alles kann wieder gut werden, schreibt sie in ihrer unfaßlichen Verblendung an die Freundin; das Bittre ist nur, daß mich die letzten zehn Monate um zehn Jahre älter gemacht haben, ich bin eine alte Frau heute. Für Leonhart haben sich unterdessen die Dinge verhängnisvoll zugespitzt. Anna in seinem eigenen Haus und unerreichbarer als durch eine zehnstündige Eisenbahnfahrt von ihm getrennt. Hinter ihm, Wächter jedes Schrittes, Waremme, dem er versprochen hat, Anna, die im November für ein Jahr nach England reisen soll, zu meiden, ja, bis dahin nicht einmal zu sehen. Das ist aber das Schlimmste nicht. Er schuldet Waremme zweitausendachthundert Mark. Es ist eine Schuld, die er in den allernächsten Tagen begleichen muß, was auch immer geschehe; Waremme hat das Geld, um ihm zu helfen und im Vertrauen auf sein Ehrenwort, dem Fonds für die »deutsche Tagung« entnommen. Immerhin ein Freundschaftsdienst, der seinesgleichen sucht; und man kann es Waremme nicht verübeln, daß er zur Bezahlung drängt, da er doch sonst als Defraudant zur Rechenschaft gezogen werden kann. (Die Summe wurde übrigens zwei Tage vor dem Mord ersetzt, freilich nicht von Leonhart, der es gar nicht erfuhr; aber wie und von wem kam nicht zur Sprache.) Es kann wahr sein, was er später aussagte, daß ihm Waremme das Geld von selbst anbot, ohne daß er ihn erst viel bitten mußte. Waremme ist in Geldangelegenheiten von souveräner Großzügigkeit, hierin mußte ihm Leonhart wie ein etwas degenerierter, weil in Bagatellen erstickter Bruder vorkommen, zudem wußte er ja um die Bedrängnis des Freundes. Bei seinem Schneider hatte er eine auf siebenhundert Mark angewachsene Rechnung, im Tattersall schuldete er hundert Mark, einem kleinen Geldverleiher vierhundert, und auf zwölfhundert Mark belief sich eine Spielschuld, deren Begleichung unaufschiebbar war. Während der nervenzerrüttenden täglichen Auseinandersetzungen mit Elli wagte er an diese sich nicht zu wenden, jetzt wagt er es erst recht nicht. Vielleicht hält ihn ein Überbleibsel von Stolz davon ab, vielleicht erwägt er, daß er gerade in diesem Moment nicht in noch tiefere materielle Hörigkeit zu ihr geraten darf, vielleicht ist es aber nur die alte Furcht, mystische Furcht vor der Richterin. Ja, er schickt ihr Rosen und wagt es dennoch nicht, an ihr besänftigtes Gemüt zu appellieren; er will nicht den Schein erwecken, als hätte er es nur deswegen getan; wie niedrig, wie demaskiert stünde er dann vor ihr da! So faßt er den Plan zu der Reise nach Frankfurt. Dort hat er einige reiche Freunde. An den Vater denkt er erst, nachdem er von diesen mit aller in solchen Fällen gebräuchlichen Liebenswürdigkeit abgewiesen worden ist. Am Abend noch fährt er im Auto auf das väterliche Gut. Den Wagen hat ihm, um die Verweigerung des Darlehens minder empfindlich zu machen, der junge Juwelierssohn zur Verfügung gestellt, an den er sich als letzten gewendet. In diesen Stunden muß sich alles in seinem Kopf verwirrt haben. Er kann es nicht mehr aushalten, ohne Anna zu sein, er lebt nicht, wenn er sie nicht sieht. Er hat ihr von Frankfurt aus ein Telegramm geschickt, sie hat nicht geantwortet. Jetzt, von unterwegs, telegraphiert er an Elli, meldet seine Ankunft für den folgenden Abend. Er will nach Hause, dort ist Anna, alles andere ist gleichgültig, auch die Katastrophe, die ihn erwartet, wenn er ohne Geld zurückkehrt. Um den Vater weich zu stimmen, erzählt er ihm ein halb Dutzend Lügen und Aufschneidereien, zum Beispiel: er sei im Begriff, nach Italien zu reisen, wolle eine Arbeit vollenden, die ihm den Professorentitel eintragen wird, habe sich vorher noch von ihm verabschieden wollen, und anderes mehr. Allein selbst er, bei seinem geringen Scharfblick und großem Eigendünkel, merkt schon beim dritten Satz, daß er bei dem Alten nichts erreichen wird, daß Bitten und Tränen nichts fruchten würden, ebensogut könnte er den Tisch zwischen ihnen versöhnlich stimmen. So ist ihm ein Weg um den andern verrammelt. Was bleibt übrig als die unsinnig schreckliche Tat, mit der die Gedanken schon manchmal feig und lüstern gespielt haben mögen? Er fährt in ein Hotel nach Königswinter, schickt das Auto zurück und schläft bis zum Mittag. Als er aufsteht, rasiert er sich den Schnurrbart ab, kauft sich einen langen gelben englischen Ulster mit hochaufstellbarem Kragen, telegraphiert abermals an Elli und widerruft das gestrige Telegramm: kann man deutlicher handeln? zielbewußter sich aus der Ratlosigkeit erheben? Allerdings behauptet er später, er habe zuerst Anna sprechen wollen, habe beabsichtigt, sie in den Garten rufen zu lassen, und damit sie ihn nicht sofort erkenne und die Unterredung verweigere, habe er sich unkenntlich gemacht, die abendliche Stunde würde ihn ja dabei begünstigt haben, er hätte ihr dann vorgeschlagen, noch in derselben Nacht mit ihm zu fliehen. Den Ulster zu kaufen, sei er genötigt gewesen, weil er nur den Sommermantel mitgehabt und das Wetter plötzlich kalt geworden war. Klägliche Erklärungen. Der Zusammenhang, gegliederte Kette, liegt offen zutage.

9

Was nicht hindert, daß in Herrn von Andergast Zweifel über Zweifel entstehen. Es ist ungefähr wie Selbstspaltung der kleinsten Teile. Die nämliche Konstruktion, deren Festigkeit, wie es ehemals geschienen, jedem Angriffe getrotzt, zeigt nun dem geschärften Blick überall Risse und Sprünge. Und sind es nur Erfahrung und Zeit, die das nachprüfende Auge geschärft haben, von Anwaltschaft und Parteinahme befreite Sachlichkeit? Sollte nicht da eine gewisse kleine Blendlaterne aus Amorbach in Funktion getreten sein, gar nicht Gleichnis, sondern ganz wirklich, ganz dinghaft greifbar, obschon von einer unsichtbaren Hand regiert? Sie läßt ihren grellen Schein auf die Gestalten und Vorgänge fallen, um sie in das noch unerforschte Dunkel zu verfolgen. Aber auch ein Paar Augen wirken mit, ein Paar sechzehnjährige frische, kühne Augen, dahinter ein Wille, der sich mitzuteilen weiß und dessen Unwiderstehlichkeit in umgekehrtem Verhältnis zur Entfernung seines körperlichen Trägers steht.

Das macht ja auch die Erscheinung so deutlich: Entfernung. Und zwar eine Entfernung, räumlich und zeitlich, auf die der eigene Wille keinen Einfluß mehr hat und die alles, was die Erinnerung aus ihr produziert, zur Zwangsvorstellung werden läßt. Da ist er nun wieder, mitten im Gewoge der Schattenfiguren, der braunlockige Knabe, fünfjährig etwa, im Matrosenanzug, Hände in den Hosentaschen, der Mund frech zum Pfeifen gespitzt, vor der Stiege stehend und über das Rätsel sinnierend, wie man hinuntergelangen könnte, ohne die Stufen zu benützen. Man sieht ihm an, daß er Stufen verachtet, er hat ja erst kürzlich seine Überzeugung verkündet, daß er fliegen kann, daß er dazu jedoch einer komplizierten Zauberformel bedarf, die man nur auszusprechen vermag, wenn man fünf Minuten in die Sonne geschaut hat, ohne mit den Augen zu zwinkern. Das probiert er jeden Tag einmal und ist äußerst ungeduldig, wenn es nicht gelingt, äußerst beschämt, wenn er behauptet, es sei gelungen, und ihm nachgewiesen wird, daß er geschwindelt hat.

Herr von Andergast sieht folgendes Bild vor sich: Es ist ein Sonntagvormittag, er hat Etzel ins Liebigmuseum mitgenommen. Der Knabe steht vor einer antiken Venus und starrt sie mit eigentümlich erschrockenen, tief staunenden Augen an. Eine junge Dame geht auf Herrn von Andergast zu, um ihn zu begrüßen. Etzel richtet den verlorenen Blick auf sie, dann auf die Statue, dann wieder auf die lebendige Frau, dann sagt er, Herr von Andergast glaubt noch jedes Wort zu hören, in zögerndem Tonfall: Sehen alle Damen so aus, Papa, so wunderbar schön? Eine geheimnisvolle Angst ist in dieser Frage, die leuchtenden Augen können sie nicht verbergen, die Angst der Engel vielleicht, wenn Gottes ausgestreckter Arm auf die gehäufte Schuld der Kreaturen und auf den blut- und kummergedüngten Weg weist, der von irdischer Liebe durch den Tod hindurch zur himmlischen geht. Aber diese Erkenntnis oder Ahnung ist eben eine des Zweiten Gesichts und von heute, damals ging man darüber hinweg. Wie über alles schließlich. Die Lebensäußerung an sich ist ja so selbstverständlich. Wenn einer da ist, ist er eben da. Kindheit ist ein unvollkommener Zustand; ihn zu einem möglichst vollkommenen zu machen, ist die Sache der Eltern und der Lehrer. Der Vater ist was Überragendes, er hat die Weltgeschäfte zu besorgen, und das von ihm erzeugte Geschöpf hat nichts weiter zu tun, als ihn sich zum Muster zu nehmen und folgsam in seine Fußstapfen zu treten. Der einzelne Tag macht keinen Einschnitt, die Stunde lädt nicht zum Aufenthalt ein, sie müssen addiert werden, die Summen der Zahlenkolumnen bedeuten: Klassenaufstieg, Konfirmation, Semestralzeugnis, Jahreszeugnis, Examina; die Endsumme ergibt Inhalt und Wert des Lebens. Eine Rechenaufgabe.

Herr von Andergast entsinnt sich einer schweren Krankheit, die Etzel um sein achtes Jahr herum gehabt hat. An einem Abend, ziemlich spät, tritt er ins Kinderzimmer an das Bett des Knaben. Die Mutter ist um diese Zeit längst nicht mehr im Haus. Das Gesicht des Kindes ist hochrot, die Augen glühen, die Haare kleben schweißnaß an der Stirn. Vierzig Grad Fieber. Als Etzel des Vaters ansichtig wird, malt sich ein befremdlicher Schrecken in seinen Zügen, er wendet den Kopf weg und stammelt unverständliche Laute. Die Pflegerin sucht ihn zu beruhigen, streicht ihm mit der Hand über den Scheitel und sagt sanft: Schau doch, Büblein, es ist dein Papa. Aber das Kind bäumt sich, als solle es gezüchtigt werden, und seine trockenen Lippen lallen: Die Rie soll kommen. Man holt die Rie, sie kniet bei seinem Lager nieder und nimmt seine Händchen in ihre Hände. Da wird er still und flüstert nur: Ich will nicht sterben, hörst du, Rie, und sag's auch der Mama, ich will nicht sterben. In diesem »Ich will nicht« liegt eine so ungeheure Entschlossenheit, daß die Rie, entgegen ihrer sonstigen wehleidigen Art, mit tiefem Ernst erwidert: Das ist gut, Etzelein, wenn du nicht willst, wirst du auch nicht sterben; dann weißt du auch, daß wir dich brauchen. Wunderliche Närrin, denkt Herr von Andergast. Obschon er bewegt und in ernstlicher Sorge war, erschien ihm dieses Wort damals ebenso töricht wie unpassend. Man kann ein Kind lieben, selbst dann, wenn man ihm die Tatsache sorgfältig verhehlt (und hat »man« das Verhehlen nicht bis zu einem Punkt getrieben, wo von der Tatsache schließlich nicht mehr viel übrig war?), aber man kann ihm nicht sagen, daß man es brauche. Und man braucht es wohl auch nicht; man »braucht« Könige, Generäle, Offiziere, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Arbeiter, Dienstboten; aber Kinder müssen zur Brauchbarkeit erst erzogen werden.

Nein, von Liebe konnte wohl im ganzen nicht eigentlich gesprochen werden, kaum von einer der zahlreichen Abarten des Begriffs. Wie die Dinge heute sich gestaltet haben, in dem vollkommenen Zusammenbruch der sogenannten privaten Existenz, liegt kein Grund vor, sich darüber noch länger zu täuschen.

Er grübelt und grübelt, sucht und sucht . . .

Krankheiten wie jener Scharlach sind meist bedeutungsvolle Reifestationen in der Entwicklung eines Kindes. Herr von Andergast erinnert sich, daß er schon kurz nachher den Jungen in merkwürdiger Weise aus den Augen verloren hat. Das heißt, das Bewußtsein der gottähnlichen Herrschaftsgewalt über ein menschliches Wesen wurde unsicher und die befohlene Bewegung allmählich zur Eigenbewegung, beleidigend für das Selbstgefühl des Erziehers. Er hat Mühe, den Knaben zu erschließen. Es ist ein so seltsamer, unausgesprochener Trotz zu spüren. Man kann nicht einmal auf eine Verfehlung, einen Ungehorsam hinweisen; es ist nur der Trotz an sich. Er entsinnt sich, daß er an einem Pfingstfeiertag mit dem Zehnjährigen über Land fuhr. Sie sitzen in einem Abteil erster Klasse, Etzel beugt sich aus dem Fenster, Herr von Andergast ersucht ihn, es zu lassen und still auf seinem Platz zu sitzen. Allerdings hat er keinen besonderen Grund zu dem Verbot, es fällt ihm eben ein, er will in Ruhe die Zeitung lesen, er findet es nicht schicklich, daß der Junge fortwährend den Kopf aufgeregt durchs Fenster steckt. Aber als dann Etzel kerzengerade, mit betonter Artigkeit dasitzt, dem Vater gegenüber, schaut er diesem unverwandt ins Gesicht. Und in dem Anschauen, obgleich sich Herr von Andergast die Miene gibt, als beachte er es nicht, ist etwas Aufreizendes: eine forschende Verwunderung, eine heimliche, anstößige Neugier nach der Beschaffenheit des Menschen, der sein Vater ist, sogar ein heimliches Funkeln von Spott in den hellen, kurzsichtig verkniffenen Augen. Eine Sekunde lang verspürt Herr von Andergast siedendheißen Zorn und ist nah daran, den Arm zu heben und den Jungen zu schlagen. Den ganzen Tag über bleibt er wortkarg und unfreundlich, und von Zeit zu Zeit fühlt er wieder den hellen, musternden, heimlichen Blick des Knaben auf sich gerichtet.

All die Heimlichkeit überhaupt in solchem Kind! Es ist immer, als langweile sich Etzel auf der geraden Straße und ergreife jede Gelegenheit, um auszubiegen, um die Ecke zu gehen und dort was Heimliches zu unternehmen. Kommt er dann wieder zum Vorschein, so sieht er aus, als habe er einen Diebstahl verübt und bringe das Gestohlene eilig und schlau in Sicherheit. Es ist ja auch alles Diebstahl: die Erfahrungen, die er sich holt und die nicht überprüft werden können, die Worte und Begriffe, die er aufsammelt, die Bilder, mit denen er unersättlich die Phantasie füllt. Spießgesellen da und dort, jede Tür öffnet sich zur Welt, und jede neue Erkenntnis der Welt ist Befleckung der unschuldigen Seele. Lernen ist entweder Fieber oder Last, Wissen entweder Überhebung oder vordringlicher Zweifel. Einmal hatte Herr von Andergast ein Gespräch mit dem Pfarrer, und der würdige Herr sagte: Der Bub hat einen unbequemen Geist, wahrhaftig, er glaubt nur, was man ihm sonnenklar beweisen kann, und die Nadel im Heuhaufen zu suchen ist erst der rechte Spaß für ihn, mit dem hätte sogar unser Herrgott keinen leichten Stand.

Aber dabei lächelte der geistliche Mann. Wie sie alle lächelten, wenn sie von ihm redeten oder bloß ihn sahen. Auch der von seinem papierenen Metier ausgedörrte Registraturbeamte hatte ein Schmunzeln um die welken Lippen, wenn er seiner ansichtig wurde. Sogar der übellaunige Dr. Malapert lächelte, sooft er ihm im Haus begegnete. Und immer war es ein freundliches, ein aufmunterndes und unerwartet frohes Lächeln, das die Menschen für ihn hatten. Was mochte die Ursache sein? Vermutlich Äußerlichkeiten. Es gibt Knirpse, die sich in einer Art bewegen, als seien sie Riesen. Das wirkt außerordentlich komisch. Er hatte entschieden etwas von einem spitzbübischen Gnom, der den Leuten treuherzig in die Augen blickt, und wenn er bei der Tür draußen ist, ihnen eine Nase dreht. Da kam vor Jahren noch eine alte, bucklige Großtante ins Haus, die pflegte ihn immer unter widrigem Zärtlichkeitsgestöhn abzuschmatzen; wenn sie endlich fertig war, rieb sich Etzel das Gesicht sorgfältig sauber, verbeugte sich gravitätisch vor ihr und sagte trocken: Danke vielmals, Tante Rosalie. War es die Possierlichkeit, das verbindlich-würdevolle Betragen mit dem Untergrund von verübten oder geplanten Schelmenstreichen, das ihm die Sympathien erwarb? Eine natürliche Anmut war ihm zweifellos eigen, eine flinke, liebenswürdige Frechheit; beides hatte er wohl von seiner Mutter, die war als Mädchen ebenfalls so graziös-frech gewesen, so schwer zu fassen. Oder ging die Sache noch ein wenig tiefer, lag das Anziehende in dem, was Herr Dr. Camill Raff in seiner schätzbaren psychologischen Auseinandersetzung »das Maß« genannt hatte; fühlten das die Menschen so genau, daß er das »richtige Maß« für sie hatte, daß er sie sozusagen nicht überforderte und als das, was sie waren, bestehen ließ?

Was es auch sein mochte, das Besondere, das alle an dem Knaben festzustellen sich beeilten, Herr von Andergast hatte seinerseits wenig davon wahrgenommen. Drängte es sich ihm gelegentlich einmal auf, so akzeptierte er es nicht, da er sich für verpflichtet hielt, es außer Betracht zu lassen. Es wäre mit den Grundsätzen unvereinbar gewesen. Es hätte die Richtlinien verschoben. Es hätte der Ordnung geschadet, der Regel widersprochen, und man hätte damit auf die »Direktiven« verzichtet.

Allein wenn er jetzt zurückdachte, wollte ihn bedünken, daß er bei alledem auf ganz anderes Verzicht geleistet. Auf ein gewisses erlaubtes Wohlgefallen zum Beispiel. Vielleicht auf etwas, das man den Liebesentschluß nennen könnte. Es wollte ihn bedünken, daß er damit eine hinlänglich prägnante Bezeichnung gefunden habe für einen ihm eingefleischten Zustand sterilisierter Enthaltsamkeit. Es wollte ihn ferner bedünken . . . ja, was denn? was? Es war ja nun zu spät. Durchaus und in jeder Hinsicht zu spät . . .


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