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Er wollte schon am Donnerstag hinausfahren, verschob es aber auf den Freitag, weil an diesem Tag sein Vater an einem Herrenabend teilnehmen mußte. Er sagte zur Rie, er gehe ins Kino, sie möge ihm ein belegtes Brot auf seinen Tisch stellen; wenn er später heimkomme, solle sie ihn nicht verraten, bis acht sei er jedenfalls wieder da. Es wurde aber beinahe neun Uhr, da er den alten Maurizius nicht gleich in seiner Wohnung traf, erst als er nach einer Stunde zum zweitenmal hinging. Ein Hausbewohner sagte ihm, der Alte sei in der Wirtschaft zum Hasen, um die Ecke, Etzel schaute zu den Fenstern hinein, erblickte aber den Gesuchten nicht. Er patrouillierte vor dem langgestreckten Gebäude in der Marktgasse auf und ab; und es war schon sechs Uhr, als er den Mann mit der Kapitänsmütze endlich kommen sah. Die Wohnung des Alten befand sich im Hoftrakt, man mußte auf einer hühnerleiterähnlichen Stiege, die außen an der Mauer angebaut war, den ersten Stock erklimmen, dann ging es auf einer engen Holzgalerie bis zu einer Tür, die unmittelbar in zwei ungemütliche Stuben führte. Neben der Tür war ein Klingelzug, unter dessen Handgriff ein Messingschild mit der Inschrift »P. P. Maurizius, Gutsbesitzer a. D.« befestigt war. Bei der Begegnung auf der Straße hatte Etzel den Hut vor ihm abgenommen, doch Maurizius hatte den Gruß nicht beachtet, offenbar geschah es selten, daß ihn jemand grüßte, er hatte wohl wenig Bekannte in der Stadt. Etzel folgte ihm in den Hof, wartete, bis er auf der Galerie oben verschwunden war, dann ging er ihm nach, pochte leise an der Tür, da sich nichts rührte, zog er an der Klingel, hörte aber kein Signal, die Glocke schien zu fehlen, nun klopfte er herzhafter, worauf der Alte endlich öffnete. Mißtrauisch musterte er den Besucher. Ohne Kopfbedeckung sah er so verändert aus, daß Etzel anfangs dachte, es sei nicht derselbe Mann. Der Schädel erinnerte in seiner Schmalheit an einen Flintenkolben, durch ein paar spärliche, mehlweiße Borsten leuchtete abschreckend eine rote Beule wie ein Glühlicht. Es ist ungewiß und ließ sich auch nie feststellen, ob er den jungen Menschen, den er ein paar Tage lang so hartnäckig verfolgt hatte, beim ersten Anblick wiedererkannte. Aus seiner Miene war es nicht zu entnehmen. Etzel sagte: »Ich möchte mit Ihnen sprechen«, und der Alte lud ihn ein, ins Zimmer zu treten, wortlos, nur mit einem Brummen und einer Handbewegung. Drinnen nannte Etzel seinen Namen, Maurizius nickte, schien keineswegs erstaunt; man hätte denken können, Etzel sei ein täglicher Besucher. Der Alte deutete mit dem steifen linken Arm auf einen Stuhl, nahm eine blecherne Tabakschachtel aus der Tischlade und begann die kurze Pfeife zu stopfen. An der Ausstattung des Zimmers war nichts Auffälliges, es war eine Kleinbürgerstube mit Tisch, Kommode, Kleiderschrank, schräg hängendem Spiegel, alles billige Basarware; das einzige Besondere waren Stöße von alten Zeitungen auf einem rohen Bretterständer, zwei bis drei Dutzend mit Bindfäden verschnürte Pakete, die an der Seite mit Blaustift beschriebene Zettel trugen: 1905, 1906, 1907; Voruntersuchung, Verhandlung erster Tag, Verhandlung zweiter Tag usw., ausländische Stimmen, juristische Gutachten, psychiatrische Gutachten und so weiter. Auch Broschüren waren darunter, sämtliches gedruckte Material, wie sich bald ergab, über das Verbrechen und den Prozeß seines Sohnes.
»Hab ja mal wieder eine Eingabe gemacht«, begann Maurizius, indem er sich auf dem mit schwarzem Wachstuch bezogenen, an den Rändern mit weißen Porzellannägeln versehenen Wandsofa niederließ und unter krampfhaften Muskelzuckungen an seiner Pfeife sog, »damit sich die hohe Oberstaatsanwaltschaft nicht aufs Ohr legt. Freilich, es ist, wie wenn man in den Wind spuckt. Hat Sie wer geschickt, junger Herr? Oder kommen Sie von selber? Was, zum Teufel, hat Sie dazu bewogen? In früheren Jahren sind viele gekommen. Noch im Jahre neun ging's manchmal zu wie bei einem Modedoktor. Jeden Tag Audienzen. Schriftsteller, Advokaten, Spiritisten, Redakteure. Sogar aus Amerika. Seit zwölf, dreizehn Jahren ist's still geworden. Auch auf den Schlachtfeldern wird's still, wenn Frieden geschlossen ist, mag's noch so ein Scheißfrieden sein. Was wollen Sie, junger Herr? Soviel ich sehe, sind Sie ein verdammt junger Herr.«
Seine Stimme erinnerte an das Gekrächz einer Krähe, doch sprach er nicht laut, nur einzelne Worte stieß er heiser bellend hervor und zog den Mund weit auseinander, so daß die graugrünen Backenbartbüschel, hinter denen die scheußlich nackten Ohrlappen starrten, direkt aus dem Rachen zu wachsen schienen. Etzel gab zu, daß er jung sei, nannte auch sein Alter, fügte aber die etwas dreist klingende Bemerkung bei, er habe sich bis jetzt nicht überzeugen können, daß die Jahre allein genügten, um die Welt vor Dummheit und Gemeinheit zu bewahren. Maurizius warf ihm einen verdrießlichen Blick zu, dann kicherte er in sich hinein, und das Kichern ging in einen lang währenden Hustenanfall über, der erst nach ausgiebigem Spucken endete. Etzel ekelte sich, doch verbarg er seinen Widerwillen und sagte, mit liebenswürdigem Versuch, einen unbefangenen Konversationston herzustellen, Herr Maurizius möge ihm also seine Jugend nachsehen. Es sei in ihm, er wisse selbst nicht wieso, der Wunsch entstanden, über die Angelegenheit Maurizius die Wahrheit zu hören oder wenigstens den Tatbestand; wenn er auch nicht versprechen könne, daß er, jetzt oder später, in der Lage sein werde, zu nützen und zu helfen – wer würde ihm auch ein solches Versprechen glauben! –, sei es vielleicht am Ende doch keine verschwendete Mühe; jedenfalls sei er, nach langem Schwanken, mit der Hoffnung hergekommen, in der Hinsicht keinen vergeblichen Gang zu tun. Er brachte diesen Appell mit einer schwer zu beschreibenden Mischung von Befangenheit und naiv zuredender Herzlichkeit vor, hatte dabei die Beine übereinandergeschlagen und die Knie mit den Händen umschlungen, und wenn seine Großmutter, die Generalin, ihn so gesehen hätte, wäre sie wahrscheinlich in spöttisches Gelächter ausgebrochen und hätte ihn, wie sie manchmal tat, einen erleuchteten Zwerg geheißen.
Der Alte aber versank in tiefes Schweigen. Die Pfeife ging ihm aus.
Er hatte ein einfaches Leben hinter sich, das allerdings mit zunehmenden Jahren immer düsterer geworden war und in dem der Kampf um die Unschuld des Sohnes sich zur beherrschenden Leidenschaft gesteigert hatte. Aus der Ehe mit einer Pastorstochter vom Oberrhein hatte er vier Kinder gehabt, drei Söhne und eine Tochter. Er besaß ein Gut in der Nähe von Gelnhausen, dessen Haupterträgnisse der Weinbau ausmachte. Er lebte mit seiner Familie ohne Sorgen. Im Sommer 1900 brach eine Typhusepidemie aus, die im Laufe zweier Wochen die Frau, die Tochter und die beiden ältesten Söhne hinwegraffte. Der jüngste Sohn, Leonhart, war um diese Zeit zwanzig Jahre alt und studierte auf der Universität in Bonn. War er schon vorher der Liebling des Vaters gewesen, der in diesem Benjamin der Familie etwas Besonderes erblickte, ja bis zur Schwäche eingenommen war von seinen Talenten und seiner mädchenhaften Zartheit, so wurde nach jener Katastrophe des vierfachen Sterbens, die ihm Leonhart als einziges Kind übrigließ, aus der bloßen Vorliebe und Bevorzugung eine Idolatrie. Er war ihm Vater und Mutter zugleich. Wenn er nicht täglich Nachricht von ihm erhielt, wurde er unruhig. Die nicht eben bescheidenen Geldansprüche des Sohnes erfüllte er ohne Einwand, obwohl sich die Erträgnisse des Gutes in jenen Jahren erheblich verminderten, eine Keltereianlage großen Stils sich als mißglückte Spekulation erwiesen hatte und er, um seine Verbindlichkeiten zu decken, drückende Hypotheken aufnehmen mußte. Darum kümmerte sich Leonhart nicht. Einer glänzenden Laufbahn sicher, verwöhnt von Kommilitonen und Professoren, gern gesehen in der besten Gesellschaft, war ihm die Miene des glücklichen Siegers zur entwaffnenden Natur geworden. Der Vater wagte es nicht, ihm die Illusion zu rauben, daß er als einziger Sohn eines Gutsbesitzers über unbeschränkte Mittel verfüge; im Gegenteil, er zitterte davor, daß er eines Tages den wahren Stand der Dinge zu bekennen haben werde. Jede Auszeichnung Leonharts, jedes bestandene Examen, jede aristokratische Bekanntschaft, die er machte und die ihm der eitle junge Mensch treulich meldete, bereitete ihm eine Genugtuung, als habe er ein staunenswürdiges Genie gezeugt. Die Träume, die er für ihn hegte, gingen hoch hinaus, so hoch reichte Leonharts eigener Ehrgeiz bei weitem nicht, vielleicht gipfelte der schließlich nur darin, gut und angenehm zu leben, sich mühelos vornehmen Neigungen zu überlassen und in der Welt, auf deren Beifall und Meinung er das größte Gewicht legte, eine imponierende Figur zu machen. Kurz nachdem sich Leonhart als Dozent habilitiert hatte, kam es zu der vom Vater so gefürchteten Aufklärung. Es handelte sich um eine Spielschuld von dreieinhalbtausend Mark, die binnen vierundzwanzig Stunden zu begleichen war. Das Geld war nicht da. Nur mit aller Mühe konnte der Alte es beschaffen. Eine Winkelbank lieh es ihm zu wucherischem Zinsfuß. Leonhart war betroffen. Vater und Sohn hatten damals ein langes Gespräch miteinander, eine ganze Nacht hindurch saßen sie bei einer Flasche Liebfrauenmilch in der Rosenlaube hinter dem Haus, und das Ende war, daß Maurizius den Sohn förmlich um Verzeihung dafür bat, daß er ihm die Reichtümer nicht zu Füßen legen konnte, die dieser mit Fug von ihm fordern durfte, war es doch in seinen Augen ein beispielloser Erfolg, den kaum Zweiundzwanzigjährigen als Universitätslehrer bestellt, als Leuchte seines Fachs anerkannt zu sehen. Zwei Monate später fand die Verlobung und sechs Wochen darauf die Heirat Leonharts mit Elli Hensolt statt, der Witwe eines wohlhabenden Papierfabrikanten, die er bei einem Aufenthalt in Kreuznach kennengelernt hatte. Beide Ereignisse, Verlobung wie Heirat, teilte er dem Vater nur mit ein paar dürftigen Worten mit. Maurizius' Bestürzung war so groß, daß er, als die Neuvermählten gegen Ende der Hochzeitsreise auf ein paar Tage auf das Gut zu Besuch kamen, noch immer wie mit Stummheit geschlagen war und nicht einmal richtigen Abschied von Leonhart nahm, als sie wieder wegfuhren. Leonhart ergriff nicht ohne Eifer die Gelegenheit, sich verletzt zu fühlen, und zog sich in der Folge vom Vater zurück, indem er sich den Anschein gab, als bemerke er dessen Groll und Enttäuschung nicht. Die Sache war die, daß ihm die liebevolle Tyrannei schon längst lästig geworden war und daß er sich zudem des Vaters schämte, seiner ungeschliffenen Manieren, seiner Einfältigkeit und Unbildung. Als bürgerlicher Snob legte er über seine Herkunft gern einen diskreten Schleier. Er brauchte ja nun den Alten nicht mehr, seine Frau hatte ihm eine Mitgift von achtzigtausend Mark zugebracht, das Vermögen, das sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte, dessen Ehe mit ihr kinderlos geblieben war.
Elli Hensolt, nunmehr verehelichte Maurizius, war eine geborene Jahn. Die Jahns waren noch um die Wende des Jahrhunderts eine angesehene Familie im Rheinland gewesen, Notar Jahn hatte in den letzten Jahren seines Lebens die Stelle eines Bürgermeisters von Remagen bekleidet und galt als eine Spitze der Zentrumspartei, der er während des Kulturkampfes bedeutende Dienste geleistet hatte. Es gelang ihm aber nicht, sein Schäfchen ins trockene zu bringen, der schwindelnde Aufschwung des Landes riß ihn nicht empor, er war vielleicht zu anständig oder nicht geschickt genug, etwas von dem goldenen Überfluß für sich in Sicherheit zu bringen; nach seinem Tod sah sich die Familie zwar nicht arm, aber doch auf eine bescheidene Rente beschränkt und fiel langsam in Dunkelheit zurück. Außer Elli waren noch zwei Kinder da, ein Sohn, der als Oberleutnant in den afrikanischen Kolonialkämpfen fiel, und eine zweite Tochter, Anna, die zur Zeit von Ellis Verheiratung achtzehn Jahre alt war.
Viele Umstände kamen zusammen, um Peter Paul Maurizius' Abneigung gegen die Ehe und den Haß gegen die Frau seines Sohnes zu nähren. Der zuerst, daß die Jahns Katholiken waren. Obgleich selbst nichts weniger als ein frommer Protestant, nicht einmal ein regelmäßiger Kirchenbesucher, hielt er doch an den eingelebten Bräuchen seiner Familie fest, mit jenem Puritanismus, der eine Mischung ist von Bauernstolz, Enkelgehorsam und dem Bewußtsein, einer fortgeschrittenen Gemeinschaft anzugehören. Doch diesen Verrat hätte er verwunden, da er ja nie etwas unternommen hatte, um ihn zu verhüten. Schlimmer, daß die Frau weder anziehend noch hübsch noch elegant war, überhaupt keine in die Augen fallenden Vorzüge besaß; auch nicht auf Vornehmheit konnte sie sich berufen, auf edles Blut, auf glänzende Beziehungen, auf Reichtum. Achtzigtausend Mark, eine erbärmliche Summe, gemessen an Leonharts Wert, Leonharts Zukunft, Leonharts Möglichkeiten. Das schlimmste aber war, daß sie um volle fünfzehn Jahre älter war als er. Eine achtunddreißigjährige Frau und ein dreiundzwanzigjähriger Mann, und dieser Mann Leonhart, darüber war nicht hinwegzukommen. Vergeben hat sich Leonhart, in die Schlingen einer Füchsin ist er geraten, man hat das Feuer in ihm erstickt, man hat sich ihn als Schlepper für ein leckes Schiff gekauft, bald wird seine herrliche Jugend zertrümmert hinter ihm liegen. So betrachtete der Alte diese Eheschließung, und da er fest daran glaubte, daß ihm Elli den Sohn geraubt, die Liebe des Sohnes gestohlen, Leonharts Herz gegen den Vater verhärtet und ihn selbst zu schmählicher Einsamkeit verdammt hatte, war in seinem verbitterten Gemüt alsbald kein anderer Hang mehr als der nach Vergeltung. Wenn er weiterzuleben begehrte, war es bloß, um die Stunde der Reue und der Rückkehr des geliebten Verlorenen abzuwarten. Darauf zählte er, auf ein ungeheures rächendes Schicksal lauerte und hoffte er in seinem finsteren Kummer. Es kam, aber es kam anders, als er gedacht, vernichtend auch für ihn.
In den ersten zwei Jahren schien das Zusammenleben des Paares ungetrübt zu sein. Leonharts Freunde hatten ihn ja stets von niedriger Berechnung bei diesem Bündnis freigesprochen, jede Bezichtigung sogar entrüstet zurückgewiesen und keine andern Motive gelten lassen als freundschaftliche Zuneigung, Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Sie sagten, die Frau habe den ewig Schwankenden, leicht Verführbaren vor den Gefahren gerettet, die ihm der eigene Charakter bereitete. Sie halte ihn mit starker Hand, und daß sich seine Reizbarkeit, seine Menschensucht, sein flackerndes Wesen gemildert hatten, sei allein ihr Verdienst. Liebe – wer könne da eindringen, wer wolle unterscheiden, was in einer so merkwürdigen Beziehung »wirkliche Liebe« sei und was gegenseitige Achtung, gegenseitige Kenntnis und Übung der für eine harmonische Existenz erforderlichen Eigenschaften? Was sei überhaupt »wirkliche Liebe«? Schema von Romanlesern, die Zeit streife dem Begriff seine schillernden Lügenhäute ab. Die Frau jedenfalls hänge mit opferfähigem Gefühl an ihm, mit innigem Glauben, mit unabgewendeter Aufmerksamkeit; vielleicht sei dies »wirkliche Liebe«, und daß die seine vielleicht nicht so ganz »wirklich« sei, spiele keine große Rolle und brauche niemand Kopfzerbrechen zu verursachen. Sicher ist, daß Leonhart Maurizius in jener Periode mehrere seiner geschätztesten Arbeiten veröffentlichte und daß man von einem Regierungsauftrag sprach, den er erhalten sollte, einer spanischen Studienreise.
Doch von einem gewissen Zeitpunkt ab veränderte sich die Meinung der Welt über die Mauriziussche Ehe, und es gingen Gerüchte um, die von Zerwürfnissen erzählten. Es hieß, Elli habe von der Beziehung Leonharts zu einer Tänzerin erfahren. Diese Beziehung lag allerdings ein Jahr vor der Ehe; aber es war aus ihr ein Kind entsprossen, ein Mädchen, und eines Tages wurde Leonhart von der inzwischen ins Elend geratenen Mutter durch einen Anwalt zur Erfüllung seiner Vaterpflichten, zur Erhaltung des Kindes ermahnt. Leonhart hatte es seiner Frau verschwiegen, von dem ganzen Erlebnis wußte sie nichts, dagegen weihte er die Schwägerin in seine Vergangenheit ein. Anna Jahn übernahm die Sorge für das nunmehr zweijährige Geschöpf und brachte es mit Leonharts Einverständnis nach England zu einer Freundin und entfernten Verwandten, der Vorsteherin eines Gouvernantenheims, bei der Hildegard Körner – auf diesen Namen war das Kind getauft – auch erzogen wurde und verblieb. Eigentümlicherweise liebte Leonhart das mutterlose Wesen (denn die Tänzerin, lungenkrank, war mittlerweile in Arosa gestorben) mit einer Art von poetischer Schwärmerei, obwohl er es gar nicht kannte, ein Gefühl, das sich immer mehr steigerte, in der Folge nie in ihm erlosch und das von Anna Jahn gehegt und verstanden wurde, während Elli, nachdem sie erst durch einen anonymen Brief, dann durch das zögernde Geständnis ihres Mannes über den Sachverhalt aufgeklärt war, sich eifersüchtig dagegen wehrte und nicht einmal vertrug, daß der Name des Kindes erwähnt wurde. Von da an erscheint Anna Jahn in das Leben Leonharts unauflöslich verstrickt. Sie war nach dem Tod ihrer Mutter aus Köln, wo sie gewohnt hatten, fortgezogen, hatte ein paar Monate in verschiedenen Städten gelebt, war dann nach Bonn gekommen und wurde täglicher Gast im Hause von Schwester und Schwager. Ob der verhängnisvolle Einfluß, den sie auf Leonhart und seine Ehe übte, sogleich oder erst nach und nach hervortrat, darüber waren die Ansichten geteilt. Man brauchte kein Prophet zu sein, um da ein schlimmes Ende vorauszusagen. Es gibt Schicksalsverknüpfungen, die beinahe Gemeinplätze sind (obwohl hier eine Persönlichkeit im Spiel war, die zunächst im Hintergrund blieb und die den Verlauf über das Niveau bürgerlicher Banalität hinaushob). Die erstaunliche Schönheit seiner jungen Schwägerin konnte einen Mann wie Leonhart nicht unberührt lassen. Anna Jahn stand damals auf dem Gipfel ihrer Entfaltung; wer sie sah, war hingerissen. Die Studenten brachten ihr Serenaden und schickten ihr Gedichte, die Offiziere der Garnison ließen sich bei Familien einführen, wo sie verkehrte; wenn sie sich auf der Straße zeigte, blieben die Leute stehen und gafften. Eine Zeitlang war sie das Tagesgespräch, wie eine große Sängerin oder Schauspielerin; junge Mädchen sagten: ich habe Fräulein Jahn gesehen, als erzählten sie von einem aufregenden Abenteuer. Elli hätte es bedenken müssen, ehe sie der Schwester ihr Haus öffnete; sie selbst hatte Anna geraten, sich in der Stadt niederzulassen, sie wollte die um so viel jüngere Schwester nicht allein und schutzlos in der Welt wissen. Damit rief sie ihr eigenes Unglück herbei. Leonhart verhielt sich zuerst ablehnend. Er behauptete, Anna sei ihm unsympathisch, sie irritiere ihn. Anna behandelte ihn bisweilen mit einem Spott, der so fein war, daß er nicht wagte, ihn für Spott zu nehmen, und so beleidigend, daß er vor Scham hätte vergehen müssen, wenn er zugegeben hätte, ihn zu verstehen. Gegen andere war sie deutlicher, etwa wenn sie ihn lachend als einen kleinen Pensionär bedauerte, der unter der Aufsicht einer strengen älteren Dame lebte. Bald genug wurde die Kluft zwischen den Eheleuten augenscheinlich; die Natur war es, die sie schuf und erweiterte. Fremde erkundigten sich gelegentlich, ob das die Mutter des Privatdozenten Maurizius sei, an deren Arm man ihn gesehen habe. Nein, wurde lächelnd erwidert, es ist seine Frau. Oh, sagte dann der Betreffende erschrocken und verstummte. Das boshafte Wort vom Pensionär entbehrte nicht einigen Grundes. Elli kontrollierte jeden Schritt ihres Mannes. Sie überwachte seine Verabredungen, seine Arbeiten und Arbeitsstunden, seine Lektüre, seine Post, seine Gespräche, seine Geldausgaben. Sie war nicht geizig, sie machte ihm sogar wertvolle Geschenke, aber sie ließ ihn niemals über größere Summen verfügen. Sie war zu klug, um nicht einzusehen, welchen Fehler sie damit beging; aber der Instinkt war stärker, der ihr gebot, ihn an der Kette zu halten, um jeden Preis, so lange wie möglich. Sie kam nicht gegen sich selber auf. Wenn er fortging, mußte er ihr genau sagen, zu welcher Zeit er zurückkehren würde. Um die angegebene Stunde wandte sie den Blick nicht mehr vom Zifferblatt der Uhr, und war die Frist überschritten, so fing sie an wie im Fieber zu zittern. Während sie so wartete, spürte sie sich altern. Sie setzte sich vor den Spiegel und sah sich altern. Sie suchte Bestätigungen in den Augen der Menschen und leugnete sie angstvoll, wenn sie sie erhielt. Indessen ging schon das Gerede über Anna Jahn und Leonhart. Man hatte sie zusammen in einem Museum gesehen, auf einem Ausflug, im Haus einer Freundin. Man tuschelte. Elli begriff, was über sie hereinbrach. Sie stellte sich ahnungslos, solang noch ein Funke Selbstbeherrschung in ihr war. Sie erkannte, daß er ihr mit jedem Tag mehr entglitt, und sie klammerte sich an ihn mit der Kraft der Verzweiflung. Und alles das war nur der Anfang.
Derweil saß der alte Maurizius wie eine Spinne im Netz und wartete geduldig. Eine Zeitlang besoldete er einen Detektiv, der ihm Nachrichten über den Sohn und über die Ereignisse in dessen Hause zutragen mußte. So erfuhr er die Geschichte mit dem Kind Hildegard, ließ die Spur verfolgen und machte die erdenklichsten Anstrengungen, um des Kindes habhaft zu werden. In seiner Bauernschlauheit dachte er damit einen Trumpf in die Hand zu bekommen. Es mißlang jedoch. Er hörte von Anna Jahn. Er ließ das junge Mädchen beobachten. Er hörte von Mißhelligkeiten zwischen Leonhart und seiner Frau, von wachsender Zwietracht, von heimlichen Auftritten, von dem Skandal, der sich wolkig zusammenbraute. Er war zufrieden. Es war Wasser auf seine Mühle. Als aber in einer Oktobernacht Leonhart unvermutet bei ihm erschien – er war im Auto eines Freundes gekommen –, um, wie er sagte, vor einer längeren Reise Abschied zu nehmen, erschrak der Alte über die Zerrüttung, die er im Gesicht und im Wesen des Sohnes wahrnahm. Er hatte sofort den Eindruck, daß dieser Abschiedsbesuch zu einer unmöglichen Nachtstunde nur ein Vorwand war. Warum nach dreieinhalb Jahren brutalen Vergessens die artige Rücksicht? Daran konnte kein wahres Wort sein. Leonhart redete lauter verstörtes Zeug durcheinander, schließlich kam es heraus: er brauchte Geld. Er wagte nicht, es zu fordern, er deutete eine schwerwiegende Verpflichtung nur an. Aber als er die steinerne Miene des Alten bemerkte, gab er jeden weiteren Versuch auf, auch jede Verstellung, es war ihm nur noch darum zu tun, schnell wieder wegzukommen. Der Alte hielt ihn nicht. Wäre Leonhart vor ihm auf die Knie gefallen, er hätte ihm nicht zehn Pfennig gegeben, solang er nicht aus seinem Mund das Wort vernahm: ich bin los von der Frau. Und er spielte eine bemerkenswerte Komödie der Heuchelei, als er den Sohn kalt zur Tür begleitete, ohne ihm die Hand zu reichen. Das war derselbe Mann, der nach der Verurteilung und während der Strafverbüßung des Sohnes ein Vermögen zurücklegte: für den Sohn. Es gab für ihn kaum eine Hoffnung, den abgöttisch Geliebten zeit seines Lebens wieder in Freiheit zu sehen, den lebenslänglich Eingekerkerten wieder in die Nutznießung des beharrlich aufgesammelten Kapitals gesetzt zu wissen, dennoch richtete er seine Existenz so ein und traf seine Maßregeln derart, als wäre mit Sicherheit darauf zu rechnen. Es war ihm gelungen, das Gut unter günstigen Umständen zu verkaufen; nach Abzahlung der Hypotheken blieben ihm fünfunddreißigtausend Mark. Diese Summe hatte er in schier unbegreiflich ahnungsvoller Voraussicht bei einer Schweizer Bank deponiert (man sagt von Besessenen, daß sie den einen Zweck, der sie erfüllt, mit wahrer Luzidität verfolgen), und von einem kleinen Teil der Zinsen bestritt er seine Bedürfnisse. Er lebte wie ein Armenhäusler, seine Wohnung war ein Loch, sein Anzug war Jahr um Jahr derselbe, seine Mahlzeiten bestanden aus Käse, Wurst und Brot, und nach achtzehn Jahren waren aus den fünfunddreißigtausend Mark sechzigtausend Franken geworden. Er war vierundsiebzig Jahre alt, der Gedanke, daß er sterben könne, ehe Leonhart das Zuchthaus verließ, kam ihm gar nicht in den Sinn, der Tod hatte nicht nur keinen Schrecken, sondern auch keine Wirklichkeit für ihn.
Das Bild dieser Vergangenheit setzte sich für Etzel erst später und aus vielen Einzelheiten zusammen, die er nach und nach erfuhr. Er hatte in der Folge noch mehrere Unterredungen mit Peter Paul Maurizius, sie trafen sich an einem vereinbarten Ort unweit vom Andergastschen Haus. In senilem Schwachsinn und weil alle seine Pläne und Versuche bis jetzt kläglich gescheitert waren, sah der Alte in dem Knaben etwas wie einen göttlichen Sendboten, er setzte sich über den lächerlichen Altersunterschied hinweg und war gesprächiger als gegen irgendeinen Menschen seit zwanzig Jahren. Wobei er freilich immer noch vorsichtig blieb. Aber der Knabe hatte es ihm angetan, wie man zu sagen pflegt, er hielt es nicht für unmöglich, daß er ihm in seiner großen Sache dienen könne; und während er sich einbildete, ihn zu diesem Ende schlau zu ködern, ließ er sich von dem mindestens ebenso schlauen Jungen über alles ausholen, was er zu wissen begehrte, teilte ihm auch wichtige Partien aus seinem sorgfältig gesammelten Material mit. Wiewohl Etzel dadurch ziemlich genaue Kenntnis der Begebenheiten wie der Verhältnisse der handelnden Personen erlangte und mit seinem wie Quellwasser unverbrauchten Blick das verworrene Spiel der Interessen klar überschaute, begriff er ebenso sicher die dämonenhafte Düsterkeit der dahinterliegenden Welt, die ihm in ihrer Gesamtheit unauflöslicher schien als das Tun der Menschen. Sehr niedrig; vollkommen abgetrennt von allem, was ihm bisher als »Welt« gegolten hatte; deswegen auch so unauflöslich. Schon aus diesem Grund versagte er sich jede verfrühte Schlußfolgerung und benahm sich wie der gelehrige Schüler eines Kurses für polizeiliche Recherchen.
Als der Alte aus seiner schlafähnlichen Versunkenheit emportauchte, in die er, wie ein Säufer in seinen Rausch, jeden Tag oder jede Nacht einmal fiel, um die Vergangenheit zu enträtseln, eine faßliche Formel dafür zu ergrübeln, war sein erstes Geschäft, die Pfeife auszuklopfen und neu zu füllen, wobei seine zitronengelben Knochenhände zitterten. Währenddem fing er an zu sprechen. Leute, die einen Teil ihres Lebens damit zugebracht haben, über ein und dieselbe Materie nachzudenken, alle übrigen Geschehnisse auszuschalten, alle Menschen, mit denen sie zu tun haben, in abhängige Beziehung zu ihr zu bringen, setzen bei jedem Zuhörer ihre eigene vollständige Kenntnis voraus und geraten sogar in Zorn, wenn sie auf ihren Irrtum gestoßen werden. Hier kam hinzu, daß Etzel das greisenhafte Geplapper zunächst nicht verstand und Maurizius bisweilen durch ein freundliches »Wie, bitte? was, bitte?« furchtlos unterbrach. Der Alte fuchtelte abwehrend mit der Rechten, erhob sich, schlurfte zu dem Ständer mit den Zeitungen, zog ein Paket heraus und schleuderte die vergilbten Blätter auf den Tisch. Dann ging er hin und her, die Hände in den Hosentaschen. Es wurde dunkel, elektrisches Licht hatte die Höhle von Behausung nicht, auf der Kommode stand eine winzige Petroleumlampe, die zündete er an, sie blakte, er verlöschte sie wieder, beschnitt den Docht, zündete sie von neuem an, wobei er den steifen linken Arm immer nur zur Nachhilfe benutzte, brummte über den Zylinder, der einen Sprung hatte, und bei all diesen Verrichtungen schaute und hörte ihm Etzel mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Seine Worte wurden deutlicher, auch das Husten und Spucken ließ nach; als die Lampe endlich brannte, nicht mehr Schein gebend als eine Stallampe, wies er auf die Zeitungen, über die sich der aufgewirbelte Staub langsam wieder legte, und sagte, da sei alles drin zu lesen, wie es angefangen, wie es weitergegangen, vom Revolverschuß bis zur Verhaftung, vom vierundzwanzigsten bis neunundzwanzigsten Oktober des unvergeßlichen Jahres.
»Daraus können Sie es entnehmen, junger Mann. Wenn Sie wollen, können Sie's auch, wie es gedruckt ist, glauben. Die ganze Welt hat es damals geglaubt, die Kommission, der Untersuchungsrichter, die Reporter, die Leser. Einer hat's dem andern nachgeredet oder vom andern abgeschrieben. Niemand hat sich gefragt: wie soll er denn auf sie geschossen haben, wenn er noch bei der Gartenpforte war? Das ist durch Zeugen erhärtet. Ich ersuche, junger Herr, festzuhalten: bei der Gartenpforte. Achtzehn Schritt Distanz. Dreiviertel sieben Uhr abends am vierundzwanzigsten Oktober, bei voll eingebrochener Dunkelheit. Ich ersuche, das festzuhalten. Können Sie bei voll eingebrochener Dunkelheit einen Menschen auf achtzehn Schritt Distanz mit einem Browning mitten ins Herz treffen? Ehrliche Antwort, junger Herr! Nein. Sie ist, als sie getroffen wurde, gegen das Haus zu gelaufen. Waremme hat es unter Eid ausgesagt. Schuß von hinten. Von hinten mitten ins Herz. Daneben Aussage der Dienstmagd Frieda Weiß: die Frau ist vom Tor der Villa zunächst auf ihn zugegangen. Wie auch natürlich. Beachten Sie: er ist von der Reise heimgekehrt. Er trägt den Lederkoffer in der linken Hand. Der Mann kommt von der Reise heim, merken Sie es, die Frau erwartet ihn. Was wird die Frau tun? Sie geht ihm entgegen. Oder nicht? Finden Sie nicht, daß die Frau ihm entgegengeht? Also. Trotzdem: Schuß in den Rücken. Eine klotzige Unwahrscheinlichkeit, was? Die Protokolle? Gehn darüber weg. Es wird erklärt. Es wird gegen ihn erklärt. Alles wird gegen ihn erklärt. Er hat den Browning in der Hand gehabt, heißt es. Und wer hat das gesehen? Waremme. Gesehen und beschworen. Waremme hat sogar beschworen, daß er gesehen hat, wie er den Revolver gehoben und gezielt hat. Und wo war Waremme gestanden, wo, frag ich, junger Herr? Nach seiner Behauptung unter der Akazie, präzis drei Meter von Elli entfernt. Der Telegraphenbote Kleinmichel, der gleich nach der Detonation den Garten betreten hat, was hat der angegeben? An der Hausecke sei er gestanden. Vor ihm, nicht hinter ihm. Vor ihm, ich ersuche, ist er gestanden, also muß er vor ihm schon dagewesen sein. Aber das Gericht war der Ansicht, Kleinmichel hat sich getäuscht, Kleinmichel muß sich getäuscht haben, sonst stimmt eben die ganze Geschichte nicht, sonst geht die Schlinge nicht zu. Oder Waremme hat einen Meineid geschworen. Und was hat denn Waremme im Garten zu tun gehabt? Um sechs Uhr fünfunddreißig soll er noch im Kasino gesehen worden sein. Verschiedene Personen, einwandfreie Personen haben es übereinstimmend ausgesagt. Vom Kasino bis zur Gartenpforte sind es bis auf den Zoll zwölfhundertdreiundvierzig Meter. Sie werden zugeben, junger Herr, daß man schon die Beine über die Achsel nehmen muß, wenn man zwölfhundertdreiundvierzig Meter in zehn Minuten zurücklegen will. Und womit nun hat Herr Waremme das erklärt? Damit, daß ihm Anna Jahn telephoniert hat, er solle sofort kommen, es sei ihr so unheimlich, es trieben sich verdächtige Gestalten ums Haus herum. Verdächtige Gestalten, eine Viertelstunde vor einem Mord, großartig, was? Das nenn ich Geisterseherei, was? Darauf rennt Herr Waremme, als hockt ihm der Satan im Genick, weil doch in der ganzen Stadt kein Wagen aufzutreiben ist, hehe. Niemand freilich hat ihn laufen sehen, in der belebten Allee, wo Laterne neben Laterne brennt, bei schönem Wetter. Das bißchen Nebel hätte keinen gehindert, so 'nen Riesenkerl wie einen Bock daherspringen zu sehen. Haben Sie schon mal eine solche Kollektion von Widersprüchen beieinander gesehen? Na, und der Herr Untersuchungsrichter! Den hat kein Zweifel geplagt, Gott bewahre. Unentwegt aufs Ziel los. Das Ziel, das kannte er schon, den Weg mußte er sich erst schaffen. Ging wie geschmiert. Motive wie Sand im Meer. Indizien zum Schweinefüttern. Alles stimmt herrlich, das Gewebsel hat nicht das winzigste Loch. Unbedeutender Umstand, daß der angebliche Mörder das Verbrechen in Abrede stellt. Es braucht sie gewiß nicht zu genieren, die sicheren Leute. Aber vielleicht . . . ich meine . . . ich formuliere: mit dieser Engelsruhe steht man doch nicht da vom ersten bis zum letzten Moment, o Publikum und hohes Gericht, mit dieser Engelsbeharrlichkeit wiederholt man doch nicht zweitausendmal: ich hab es nicht getan! Dem Richter, dem Anwalt, dem Vater, den Freunden, den Geschworenen und zuletzt und aus dem Zuchthaus wieder und wieder: ich hab es nicht getan! Er hätte, das geb ich zu, nicht fliehen sollen. Kolossale Dummheit. Davonlaufen wie ein Schulbub. Zwei Tage drüben in Frankfurt sich bei einem Mädel verstecken, nach Kassel fahren, nach Hamburg fahren, den Schnurrbart rasieren lassen, freilich schon vorher, das mit dem Schnurrbart war freilich schon vorher, unter falschem Namen in Gasthöfen logieren. Hat den Kopf verloren gehabt, der Junge, konnte nicht mehr Weiß von Schwarz unterscheiden. Als sie ihn da oben verhafteten und es hieß: unter dringendem Verdacht des Mordes, da stand er da wie vom Donner geschlagen. Da fragt er: Wie, meine Herren, ich? Beachten Sie, junger Herr: ich? ruft er aus. Ich? Wie einer, der vom Schlaf aufwacht. Weiß nichts vom Steckbrief und wovon die Zeitungen voll sind. Das haben sie ihm dann als abgefeimte Komödianterei angekreidet, gerade das. Hat einer ein reines Gewissen, so stellt er sich selber und strolcht nicht eine Woche lang in der Welt herum, nicht wahr? Schema F, klar wie Tinte. Lauter Herrgötter. Das Gras hören sie wachsen . . .«
Er hielt keuchend inne. Ein gräßlicher Hustenanfall hinderte ihn am Weitersprechen. Etzel stand auf, schraubte an der rauchenden Lampe, und als das wüste Hustengekrächze verebbte, sagte er, zu seinen Fingern hinunter: »Da müßten doch zwei Revolver dagewesen sein . . .«
Maurizius starrte ihn offenen Mundes an. »Wieso denn?« stotterte er. Verwundert über die Verwunderung erklärte Etzel: »Die Frau ist in den Rücken geschossen worden. Sie ist auf ihn zugegangen, er ist auf sie zugegangen, heißt es. Er hat einen Revolver in der Hand gehabt. Wer hat also den andern Revolver gehabt?«
Der Alte schloß langsam den Mund wie ein Nußknacker und fing an, seine Lippen zu schlucken. Nach einer Weile murmelte er mit einem düstern Schmunzeln: »Sehr richtig. Aber davon war nicht die Rede. Offiziell ist es nie angenommen worden. Die Annahme war, daß sie erst auf ihn zu-, dann von ihm weggelaufen ist. Eine Theorie, nicht wahr? Sie wissen doch, was eine Theorie ist? Wenn jemand eine Theorie hat, bringen ihn keine zehn Gäule mehr davon ab. Was schiert ihn da die Wirklichkeit! Die Theorie hieß: als sie ihn mit dem Revolver in der Hand erblickte, ist sie voll Schrecken umgekehrt und gegen das Haus zugelaufen. Ganz plausibel. Zwei Revolver? Nein. Die Geschichte ist sogar die, daß nicht einmal der eine gefunden worden ist. Waremme will ihm, nachdem der Schuß abgefeuert war, die Waffe aus der Hand gewunden und fortgeworfen haben. Ins Gebüsch geschleudert. Drei Kriminalbeamte haben zwei Tage lang danach gesucht, den Garten, die Umgebung abgesucht. Nichts. Der Revolver blieb verschwunden. Ist nie mehr zum Vorschein gekommen. Was sagen Sie dazu; Unerklärlich, was! Fein, wie unerklärlich das alles ist.« Er kicherte einfältig.
Etzel schaute nachdenklich vor sich hin. Plötzlich hob er den Kopf und fragte: »Wer könnte denn . . . wer war also nach Ihrer Meinung . . .
»Pst!« unterbrach ihn der Alte mit scharfem Zischlaut. Er trat dicht vor den Knaben hin, schielte teuflisch und sagte mit der mürrischen Strenge eines Dorfschulmeisters: »Nicht so naseweis. Kein Ton. Wo kämen wir hin, Donnerwetter. Hat doch er selber, verstehen Sie, mein Leonhart selber, auf die Frage nie geantwortet. Nie. Keinen Ton. Kein Sterbenswort. Hat es verweigert. Sie verstehen, junger Herr. Was könnt es also uns beiden nützen, danach zu fragen? Was könnt es uns sogar nützen, es zu wissen? Waremmes Eid steht dagegen. Waremmes Eid nimmt alles auf sich. Eine feste Burg, so ein Eid. Sehn Sie mal, da war die Anna Jahn, die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn. Na ja, was glotzen Sie denn so komisch?« (In der Tat schaute Etzel betroffen empor, da der Alte die drei Beiwörter mit wütendem Hohn herauskeifte.) »So hat man's damals überall gelesen: die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn. Gleich nach jenem Abend wurde sie schwerkrank. Sechs Wochen ist sie am Tod gelegen. So hat es geheißen. Mußte geschont werden. Keine Aufregung, um Gottes willen. Nach den sechs Wochen hat man sie in den Süden geschafft. In Nizza, oder weiß der Teufel wo, sind ihre Aussagen protokolliert worden. Erst zur Hauptverhandlung ist sie wieder erschienen. Das ganze Gericht ist zerschmolzen vor Mitleid. Ein Hochgenuß, wie rücksichtsvoll der Herr Vorsitzende beim Verhör war. Ihr die Antworten hübsch schmackhaft in den Mund gelegt. Und der Herr Staatsanwalt Andergast, Zucker und Honig. War sie doch beinah ebenfalls dem Unhold zum Opfer gefallen. Die reine Jungfrau dem nichtswürdigen Verführer. Auf einmal hat keiner mehr was von keinem Klatsch gewußt. Daß ihr die Herren Professoren und Beamten und Offiziere und Studenten nicht einen Fackelzug gebracht haben, war das reinste Wunder. Auf einmal war sie die weiße Taube, und er, lieber Gott, dafür war jedes Wort zu gut. Nur das Volk . . . das Volk hat anders gedacht. Nach dem Urteil hat's ein paar Stunden lang bös ausgesehen für die Jahn. Nun, das beiseite. Aber was ich sagen wollte . . . was wollt ich denn sagen? Ja so: Waremme . . . ohne Waremme, ohne Waremmes Zeugenschaft . . . Sie verstehen . . . hätte die Sache anders geendet. Der Mann hat uns geliefert. Der Mann, sag ich Ihnen, wandelt unter einem Fluch. Oder es gibt keinen Gott im Himmel.« (Da war plötzlich wieder das biblische Pathos; Etzel senkte den Kopf.) »Der Mann . . . ich hoffe, sein letztes Stündlein hat noch nicht geschlagen, ich hoff es zu unserm Besten und auch zu seinem, denn um sein Sterben könnt er nicht beneidet werden. Die andere, von der will ich nicht reden. Es kommt mir vor, sie hat bereits ihren Lohn dahin. Man hat allerlei gehört. Aber der Mann . . . den erwartet der irdische Richter noch. Jawohl. Jawohl.«
Etzel sah auf die Uhr. »Ich muß heim«, sagte er erschrocken. Der Alte nickte. Etzel fragte ihn, ob er einige von den Zeitungen mitnehmen dürfe, er wolle sie lesen. Der Alte nickte. Er half ihm beim Aussuchen. Als Etzel schon im Hausgang war, lief er ihm nach, steckte ihm noch ein paar Broschüren zu und beschwor ihn, darauf aufzupassen und keine zu verlieren. »Ich geb schon acht«, versprach Etzel und setzte sich in einen leichten Trab, um den Zug zu erreichen.