Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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Dreizehntes Kapitel

1

Gespräche zwischen zwei Menschen, die etwas Entscheidendes miteinander auszumachen haben, nehmen selten den Verlauf, den sich die Beteiligten vorher einbilden oder zurechtlegen, am wenigsten dort, wo sie sich zu einer sogenannten Abrechnung zuspitzen. Sophia von Andergast hegte jedenfalls ganz bestimmte Erwartungen von der Begegnung mit ihrem geschiedenen Mann, daß die Unterredung dann etwas anders ausfiel, als sie sich's in ihrer leidenschaftlichen Erregung vorgestellt hatte, lag einfach daran, daß der Mann, mit dem sie sich Aug in Auge befand, nicht mehr derselbe war wie der, den sie gekannt. Die Ungeduld, mit der sie ins Haus der Generalin kam, war so selbsttätig treibend, daß sie die alte Dame fassungslos anschaute, als diese ihr mitteilte, der Oberstaatsanwalt sei verreist, und sie habe nicht erfahren können, wann er zurückkehre. Erst am folgenden Mittag erfuhr man durch eine telephonische Erkundigung im Amt, daß er gegen Abend wieder in der Stadt sein werde. Sophia hatte die Nacht schlaflos verbracht, um vier Uhr morgens hatte sie das Bett verlassen und war in den Garten gegangen. Als sie die Generalin um acht Uhr zum Frühstück rufen ließ, suchte man überall im Hause nach ihr und fand sie schließlich eingenickt auf einer Bank im Pavillon, die Arme über der Seitenlehne, das Gesicht zwischen den Ellbogen. Mit Mühe war sie zu bewegen, eine Tasse Tee zu sich zu nehmen, für die Vorwürfe der Generalin, die bei dieser Gelegenheit in eine etwas krampfhafte Redseligkeit verfiel, hatte sie nur ihr verbindliches Allerweltslächeln. Überhaupt vermißte die Generalin an ihr die Offenheit und Herzlichkeit, auf die sie Anspruch zu haben glaubte, sie mußte sich anfangs viel Zwang antun und sich beständig vorsagen: Sie ist nicht bloß eine unglückliche Frau, sie ist auch die Mutter von meinem Etzel, ich habe sie nicht zu mir eingeladen, weil ich vergnügte Tage mit ihr verbringen wollte, sondern weil endlich was geschehen soll, von Vergnügen kann weit und breit keine Rede sein. Sie hatte aber neben ihrer sonstigen Urbanität auch ihren eigensinnigen, kleinen Egoismus und wünschte, obschon ganz bescheiden und trotz aller Sorgengemeinschaft, daß man ihr ein wenig den Hof mache. Allein Sophia ging über ihre gleichmäßige Artigkeit nicht hinaus, das ärgerte die Generalin, und mit Fleiß trug sie alles zusammen, was ihr an der Ankömmlingin mißfiel, eine gewisse Wortkargheit und Zurückhaltung, Festigkeit und Bestimmtheit des Auftretens und nicht zuletzt die Akkuratesse ihrer äußeren Erscheinung, schon in ihrem Morgenanzug sah sie wie aus dem Ei geschält aus. Die Generalin räsonierte innerlich: Sie pflegt sich ja gar nicht übel, das paßt entschieden nicht zu solchem Leid und Kummer; als ob Leid und Kummer nur durch Schlamperei beglaubigt werden könnten. Doch mehr aus Naivität denn aus Kleinlichkeit bemäkelte die Generalin diese Dinge, sie hatte sich wahrscheinlich die rührende Figur einer Mère prodigue ausgedacht, einer gebeugten Niobe, statt dessen hatte sie mit einer Dame von nicht leicht zu durchdringendem Wesen zu tun, einer Frau von eigentümlich geschlossenem Geist, schweigsam, schmiegsam, kühl, deren Züge eine überraschende Jugendlichkeit bewahrt hatten, man konnte sie höchstens für zweiunddreißig halten, während die Generalin ausrechnete, daß sie das achtunddreißigste Jahr bereits hinter sich haben mußte. Aber die abschätzigen Urteile waren nur Blasen im Kopf der Generalin, zugrunde lag Tieferes, lag Eifersucht. Daß Sophia so unerwartet jung aussah, so bestechende Manieren, so tadellose Zähne noch, eine so schlanke Gestalt besaß, daß ihr also aller Voraussicht nach Etzels Herz jubelnd zufliegen würde, wie sie ihren Etzel kannte, das zwickte sie und bereitete ihr ungute Stunden.

Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, so wenig wie möglich von Etzel zu erzählen, einstweilen wenigstens. Auch dieser Vorsatz beruhte auf der erwähnten Eifersuchtsregung, obschon sie sich selber glauben machen wollte, es geschehe, um Sophia zu schonen und nicht unnütz zu quälen. Als sie sich aber nach dem Mittagessen mit ihrem Gast in den Salon begeben hatte, ging doch die Zunge mit ihr durch. Einerseits erschien es ihr nicht anständig, das, was sie wußte, Sophia zu verhehlen, andererseits war sie ein bißchen geschwellt von ihrem Wissen und ungeduldig, es auszukramen, gleichsam zum Beweis ihrer Umsicht und Tüchtigkeit. Sie hatte nämlich auf eigene Faust den Doktor Camill Raff aufgesucht; kurz vor dessen Übersiedlung in den Ort seiner Versetzung hatte sie ein ausführliches Gespräch über Etzel mit ihm gehabt; die Unterhaltung hatte ihr wichtige Aufschlüsse verschafft, und wenn sie sie mit dem kombinierte, was sie selbst mit dem Jungen erlebt hatte, vor allem mit seinem letzten Besuch und der stürmischen Geldforderung, fiel schon einiges Licht auf den Weg, den er eingeschlagen haben mochte, obschon dieser Weg darum nicht minder beängstigend und ungewöhnlich erschien. Hätte er doch wenigstens ein Lebenszeichen gegeben, man hätte ihn nicht verraten, man hätte sein Geheimnis geachtet und gehütet, bestimmt hätte man es getan, wenn sein Herz dran hing, aber so . . . einfach verduften, die Leute zu Hause sich in Gram und Sorge verzehren lassen . . . Die Generalin sagte rücksichtsvoll »die Leute«, sie meinte aber sich allein. Sophia hatte schweigend und höchst aufmerksam zugehört. Sie schwieg auch jetzt, als die Generalin mit ihrem Bericht zu Ende war. Nur ein Funkeln in den großen braunen Augen verriet ihren inneren Anteil. Die Generalin stutzte eine Sekunde lang: Es war dasselbe Funkeln, das bronzene Leuchten wie bei »ihm«, kein Zweifel, das hatte er von ihr, auf einmal verflüchtigte sich die alberne Eifersucht, und sie fühlte heftige Sympathie für die Frau. Sophias aufatmender Gedanke war: So also ist er. Sie war niemals das gewesen, was man eine leidenschaftliche Mutter nennt, d. h. sie hatte ihre Liebe nie zur Schau getragen, und zu der Zeit, als sie noch bei ihm war, hatte sie den größten Wert auf einen leichten Umgangston gelegt. Stets bereit, mit ihm zu lachen und zu scherzen, hatte sie es sorgsam vermieden, ihn mit jener selbstsüchtigen Zärtlichkeit zu belasten, die ihn zu früh in die wirrselige Welt der Gefühle verstrickt hätte. Vielleicht hatte Herr von Andergast nur auf seine Weise (aber was war das für eine Weise, eine blutlose, instinktlose, verstandeskalte) zu vollenden versucht, was sie aus der Fülle einer reichen Natur heraus begonnen; es ließ sich denken, daß er sich gerade hierin in einer geheimnisvollen Abhängigkeit befand, die er freilich weder vor sich noch vor irgendeinem Menschen je zugegeben hätte; er hatte ja auch nichts vollendet, wo die Erleuchtung des Herzens fehlt, bleiben pädagogische Experimente übrig, und die waren jämmerlich fehlgeschlagen. Als Sophia sich von ihrem Knaben trennen gemußt, hatte niemand eine Klage von ihr gehört, um wieviel weniger einen Verzweiflungsausbruch, man hatte sogar öffentlich darüber gesprochen und von ihr gesagt, daß sie keiner tieferen Empfindung fähig sei. Nun, mit ihr war es eigen, sie konnte mit einem gehegten Bild in der Seele existieren und so, als ob es ein Wesen aus Fleisch und Blut wäre. Jedenfalls hatte sie bis zum heutigen Tag das Gefühl tätiger Verbundenheit, in all den Jahren war ihr zumute gewesen, als erziehe sie den Knaben aus der Ferne zu ihrem Bundesgenossen, wundersame Kräfte spielten da mit, die mit vorgesetzter Absicht nichts gemein hatten. Deshalb das erlöste: So also ist er. Deshalb das Etzelsche Funkeln in den Augen.

2

Gegen Abend ging sie aus und fuhr in die Stadt. Langsam durch die Gassen wandernd, litt sie unter dem beständigen Zwiespalt zwischen Heimatlichem und Feindlichem, die eine Erinnerung hell und melodisch, daneben die andere trüb und quälend. Die neubemalten, alten Häuser im Weichbild berührten sie wie etwas Lügnerisches, doch vor dem Römer blieb sie stehen und sah an der Fassade empor, wie man den Blick in ein ehrwürdiges Antlitz vertieft. Immer zu Boden schauend, als verfolge sie eine Spur, gelangte sie zum Kettenhofweg und vor das Andergastsche Haus. Ihre Augen irrten über die Fenster des zweiten Stocks, alle waren dunkel. Diese Dunkelheit gab Abwesenheit kund, Abwesenheit der zwei Menschen, die ihr Sinn so weit auseinanderhielt wie das Grauen und die Seligkeit und die sie so nah zusammenzudenken hatte, wie man Vater und Sohn zusammendenken muß. Könnte sie jetzt hinaufgehen und dem Mann gegenübertreten, den zur Rechenschaft zu ziehen sie gekommen ist, was für Worte würde sie sagen, was für ein Gericht würde sie halten, wenn es doch möglich wäre, jetzt, jetzt, in diesem erfüllten Augenblick, wo sie ihr geplündertes Leben wie in einem einzigen Atemzug begreift, wie würde er da vor ihr stehen, wenn sie ihm ins Gesicht schrie: Wo ist mein Kind? Gib mir meinen Sohn wieder –? Aber dieser pathetische Augenblick ist immer nur ein Phantasieprodukt. Er zerstäubt an der Wirklichkeit. Auf der andern Seite nämlich ist ebenfalls ein Mensch, das Selbstverständlichste von der Welt, solange man ihn denkt, das Unerwartetste, Verwirrendste und Lähmendste, wenn er erscheint.

Doch in dem »erfüllten Augenblick« ist alles Erlebnis von zehn Jahren verdichtet wie in einem Wassertropfen das Meer. Wie sie von Hotel zu Hotel geirrt ist, von Stadt zu Stadt. Sie hatte keine Menschen, keine Zuflucht, keinen Zuspruch, kein Heim, keine Hilfe. Stumm und kalt hatte sie die Weisungen des Mannes da oben entgegengenommen, der Vertrag war unterschrieben, ihre Zukunft war sein Diktat, sie besaß keine Rechte mehr, Freiheit nur, soviel er ihr zugestand, Vermögen nur, was vom elterlichen Erbe übrig war. Sie war krank gewesen, immer wieder krank und hatte nie einen Arzt gerufen oder aufgesucht. Sie hatte, im Kriege noch, in der umflammten und aufgewühlten Schweiz, in billigen Pensionen unter banalen Menschen gelebt und es fertiggebracht, nicht aufzufallen und nicht ihr unliebsames Interesse zu erregen. Sie hatte botanische und mineralogische Studien getrieben, sich mit kunstreichen Stickereien die Augen verdorben, war viel gewandert, oft über ihre physischen Kräfte, hatte sich schwer in die Einsamkeit gefunden, obwohl sie mit Menschen nicht leben konnte. Bei den mannigfachsten geistigen Interessen und einem ungebrochenen Lebensverlangen war ihr Herz gleichsam entleert, das Dasein, das sie führte, war glatterdings freudelos, sie konnte lachen und sich amüsieren, aber nur in gleichgültiger Gesellschaft, sobald irgend jemand, Mann oder Weib, sich zu vertraulicher Annäherung anschickte, veränderte sich ihr Wesen und hob unmerklich die Bindung auf. Sie konnte an nichts mehr recht glauben, ihr Verhältnis zur Außenwelt war in jedem Bezug erschüttert, nur mit zwei Menschen hatte sie in den letzten Jahren freundschaftlichen Umgang gehabt, einem Schweizer Maler, der sich auf einer Alm im Wallis verkrochen hatte, und einem greisen Gelehrten, Monsieur André Levy, Professor an der Sorbonne, berühmten Bakteriologen, den sie in Genf kennengelernt und in dessen Haus sie in Paris häufig verkehrt hatte. Ich habe von ihrem ungebrochenen Lebensverlangen gesprochen; dabei fühlte sie sich jeden Abend erleichtert, wenn der Tag vorüber war, jeden Morgen, wenn die Nacht vorüber war; aber gerade bei den Unglücklichen gibt es eine Verpflichtung von Tag zu Tag, die unlöslicher ist als die gegen die Existenz als solche.

Genau vierundzwanzig Stunden nach dem »erfüllten Augenblick« betrat sie das Andergastsche Haus. Die Generalin hatte die Zusammenkunft mit Wolf von Andergast telephonisch vermittelt. An die Stätte zurückzukehren, wo man das Unverwindbare erfahren hat, ist nicht sowohl eine Probe auf das Gedächtnis des Herzens als auf das des Auges. Es erweist sich, daß die meisten Menschen, auch wenn ihre Gefühle ermatten oder sogar absterben, dennoch einen bestimmten Aufbewahrungsort dafür haben, dem sie sie jederzeit entnehmen können, erforderlichenfalls als gespenstische Requisiten, während ihnen die Dinge und die Räume nach und nach gänzlich entschwinden und sie beim Wiedersehen dermaßen überraschen, daß sie dann erst des Zusammenhangs zwischen ihrem damaligen und dem gegenwärtigen Ich innewerden. Es ist, als habe man ein angsteinflößendes Bild nur für eine kurze Weile mit der Hand zugedeckt, um seine schreckliche Wirkung abzuschwächen. So war es freilich bei Sophia nicht, ihre Seele hatte, wie gesagt, die unerloschene Glut durch das Jahrzehnt getragen, trotzdem hatte das Gegenständliche und Augenscheinliche, von dem sie sich plötzlich umgeben sah, eine niederdrückende Erinnerungsgewalt, vor allem eine zeitauslöschende, unter der der Gedanke an Altern und Ältergewordensein zu einem unfaßlichen Betrug der Natur wird, denn alles ist ja genau, wie es eh und je gewesen, zehn Jahre oder eine Woche, der Unterschied ist imaginär. Da ist die Treppenstufe, die dritte auf dem zweiten Absatz, sie knarrte auch damals schon, wenn man den Fuß auf sie setzte; da ist die Stelle links über dem Fenster des Stiegenhauses, wo die braunrote Tünche ins Gelbliche abgeblaßt ist; an diesem Messingknauf hat sie sich an einem gewissen Tag wankend festgehalten, nachdem sie erfahren, daß der geliebte Mensch sich die Schläfe durchschossen hatte, und es ungewiß war, ob sie noch die Kraft besaß, in das Haus zu gehen, wo seine Leiche lag; wie oft hat sie die verschnörkelten Buchstaben auf dem Porzellanschild im ersten Stock gelesen: Dr. Malapert, Augenarzt, wie hoffnungslos oft den Signalknopf im zweiten Stock gedrückt, mit welchem Widerwillen gewartet, bis die Tür zur eigenen Behausung sich auftat. Nun steht sie wieder da, drückt wieder den Knopf, man läßt sie ein, da hängt noch der Spiegel und gibt ihr Bild zurück, als hätte er es keinen einzigen Tag vermißt, da hängt der steife Hut am Haken, Symbol von etwas abstoßend Uniformiertem und Zeremoniösem, darunter die Mäntel, an denen noch immer der ekle Zigarrengeruch haftet, an der Wand gegenüber das Bild des alten Kaisers mit der leutseligen Miene und dem geteilten Bart, hier die Türe, aus der sie am letzten Abend nach dem letzten Abschied von dem schlaftrunkenen Knaben tränenlos geschritten ist (weinen, das war ihre Sache nie), und endlich die andere Tür, portiereverdeckt, die sie zu keiner Zeit ohne die Empfindung geöffnet hatte: wär es nur schon überstanden und wär ich wieder draußen . . .

3

Um sieben Uhr sagte Herr von Andergast zur Rie: »Es wird um halb acht eine Dame kommen, Meldung ist überflüssig.« Die Rie nickte wissend. Die Nanny der Generalin hatte nicht versäumt, ihr mitzuteilen, welchen Gast sie beherbergten. Sie fühlte sich als Opfer nebuloser Umtriebe. Sie gab der Köchin verkehrte Anweisungen und ließ in ihrer Nervosität einen Topf mit Mus auf die Küchenfliesen fallen, dann stand sie trübsinnig davor und dachte: alles geht in Scherben. »Erinnern Sie sich«, sagte sie, »vorvorigen Herbst passierte mir das auch, da kniete unser Junge hin und wollte das süße Zeug vom Boden aufschlecken.« Die Köchin gab vor, sich zu erinnern, sie habe sich sogar gewundert, da der Bub doch nie genäschig gewesen sei. »Wollte Gott, er wär's gewesen«, seufzte die Rie, »dann hätten wir ihn heute noch bei uns, wer naschhaft ist, hängt am Haus.« In dem Moment läutete es, das Stubenmädchen öffnete die Flurtür, die Rie trat leise auf den Korridor, sie sah eine mittelgroße, nicht eben zarte Frauengestalt mit festen Schritten gegen das Arbeitszimmer zugehen, und ihr feindseliger Gedanke war: Sie scheint sich ja hier noch ganz gut auszukennen, wie wenn dieser Umstand ein Beweis von Schlechtigkeit wäre. Niemals war ihr Wunsch, an einer Tür zu lauschen, so brennend gewesen, nur der ihr innewohnende Anstand hielt sie zurück. Eine Weile verharrte sie horchend auf der Stelle, als alles still blieb, schlich sie betrübt in ihre Stube.

Um halb sechs war Herr von Andergast nach Hause gekommen, hatte Tee bestellt, aber die Tasse nicht berührt, sondern war die ganze Zeit über ruhelos auf und ab gegangen. Es war ihm unmöglich, die Stimme des Sträflings Maurizius aus dem Ohr zu bekommen. Was er auch tun und denken mochte, sie verfolgte ihn wie das beharrliche Gurren einer unsichtbaren Taube. Bisweilen schied sich von dem akzentlosen Gurren ein Satzfragment, dann stutzte er, hielt im Herumwandern inne, legte den Kopf schräg, verzog die Brauen, murmelte vor sich hin. Mehr als ein Dutzend Zigaretten hatte er der Reihe nach angezündet und sie alle nach zwei oder drei Zügen in die Schale geworfen. Manchmal drückte er die Hand an die Stirn (in derselben Weise, wie er es bei Maurizius beobachtet hatte), und sein Gesicht bekam den Ausdruck gefrorenen Grübelns. Schwärme von Fragen durchstürmten sein Hirn, es war wie ein Flockenwirbel, er konnte bei keiner verweilen. Von Zeit zu Zeit zog er die Uhr und vergewisserte sich mit Unruhe von dem Vorrücken der Zeiger, als hinge alles davon ab, daß er bis zu der Minute, die sein Alleinsein beendigen würde, zu einer Formulierung gelange. Doch der fieberhafte Wirbel ließ sich nicht beschwichtigen, indes die Uhrzeiger liefen. Nur das Gurren, nur das Gurren. Endlich tauchte folgende Frage aus dem Chaos greifbar empor: Warum hat er es damals nicht gesagt? Warum, da doch das Zugestandene eine so unverkennbare Wahrheitsprägung trägt, warum hat er in den ganzen neunzehn Jahren geschwiegen? So gut er jetzt sich entschließen konnte zu reden, hätte er sich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren entschließen können. Was hat ihn verhindert? Scham, Rücksicht, Trotz sind nicht Empfindungen, die eine solche Prüfung überdauern, in der jedes einzelne Jahr zur Ewigkeit wird, in der auch die Opferidee, die offenbar als Frucht einer beispiellosen Leidenschaft eine Rolle spielt, der allgemeinen, inneren Verwesung mitverfallen muß. (Indem er dies dachte: allgemeine, innere Verwesung, wurde es Herrn von Andergast kalt und heiß um die Brust, er war also doch infiziert von der Atmosphäre des Schattenmenschen, er hatte den neunzehn Jahre dauernden Todesakt begriffen, war vielleicht sogar davon ergriffen worden, nachhaltiger, als er je gemutmaßt.) Was hat ihn verhindert, was? fuhr er zu bohren fort; eine ahnungsvolle Erkenntnis stieg auf: möglicherweise geht das sehr tief, überlegte er, möglicherweise war er sich bewußt, daß die Wahrheit nur für ihn selbst Wahrheit war, für mich, für uns aber nicht, für mich, für uns wurde sie erst in dem Augenblick reif, wo er, fast wider seinen Willen, bereit war, sie auszusprechen. Wie, durchfuhr es ihn plötzlich erschütternd, wenn die Wahrheit nur ein Ergebnis des Zeitverlaufs wäre? wenn ich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren zeitgetrübt, zeitbefangen, gar noch nicht imstande gewesen wäre, die Wahrheit aufzunehmen, dieselbe Wahrheit, die mir jetzt so glaubhaft, so einfach erscheint –? Vielleicht entsteht die Wahrheit erst durch die Zeit und in der Zeit –? Der Gedanke hatte etwas so Bestürzendes, er warf ein so tödlich-fahles Licht auf alles, was er bisher Urteil und Richtspruch genannt hatte, daß er ein paar Sekunden hindurch das Gefühl hatte, der feste Kern seiner Persönlichkeit sei auseinandergeronnen. In seiner Not und wie um sich vor Selbstzersetzung zu retten, griff er sofort nach den aktenmäßigen Details des »Falles«, die ihn schon während der ganzen Fahrt von Kressa in die Stadt wie ein Puzzle beschäftigt hatten, z. B. inwieweit die Darstellung Maurizius' mit den in den Akten fixierten Zeitangaben übereinstimmte, diese Erwägungen hatte er schon vorher aufgegriffen und wieder fallengelassen. Kaum hatte er begonnen, sich von neuem darin zu vertiefen, als es leise an der Tür klopfte und Sophia eintrat.

Herr von Andergast blieb hinter seinem Schreibtisch stehn wie hinter einem Festungswall. Es war eine jener Situationen, in denen selbst der förmliche Gruß zur Unsinnigkeit wird. Er hatte die Frau seit beinahe zehn Jahren nicht gesehen. Es war ihm während dieser zehn Jahre nicht ein einziges Mal eingefallen, seine Gefühle gegen sie zu untersuchen. Abgetanes besaß kein Anrecht mehr auf den geordnet fortschreitenden Tag. Die Fähigkeit zur Erledigung war in seinem Privatleben genau so eminent wie in seinem Beruf. Rückstände aufzuarbeiten gab es hier wie dort eine festgesetzte Frist, war die verstrichen, so wurde die Angelegenheit ad acta gelegt. Die Frau hatte die Tür hinter sich geschlossen, stand fünf Schritte von ihm entfernt, aber er sah sie nicht, d. h. er wollte sie nicht sehen, er war in keiner Weise neugierig. Die etwas entzündeten Lider waren gesenkt, der mächtige Körper schwankte ein wenig. Er wartete. Ich bin hinlänglich vorbereitet, womit kann ich dienen? sagte seine eisig distanzierte Miene. Doch um die Nase herum dehnte sich eine schwimmende Blässe aus. Sophia schritt zu dem Ledersessel, der im Halbschatten vor dem Bücherregal stand und ließ sich lautlos nieder. Sie betrachtete den Mann mit ihren dunklen Augen. Um ihre Mundwinkel zuckte es bitter und drohend. Es schien, als wolle sie es erzwingen, daß er zuerst das Wort an sie richte. Sie kannte seine Hartnäckigkeit und empfand wie in früherer Zeit Verachtung gegen eine Haltung, von der sie wußte, daß sie nur die dürre Befolgung einer »Richtlinie« war. Sie sah aber bald ihren Irrtum ein, mit ihrem geschärften Instinkt blieb sie nicht im unklaren darüber, daß mit dem Mann eine Veränderung vor sich gegangen war, als sei von der steinernen Unrührbarkeit und angemaßten Machtvollkommenheit bloß noch Miene und Blick und Geste übrig, die unversehrte Schale einer ausgehöhlten Frucht. Diese Wahrnehmung stimmte sie nicht milder, nichts an ihm konnte sie versöhnlich stimmen, es erregte aber auch keine Genugtuung in ihr. Es interessierte sie nicht. Er war in ihren Augen keine Person, über die man nachdenkt. Der Platz, den er einstmals (fast ausschließlich in zerstörendem Sinn) in ihrem Leben eingenommen, war nicht mehr da. In einem Sturm aufgesammelter Entschlossenheit hatte sie die Reise angetreten, ihr ehemaliger Anwalt, mit dem sie bisweilen geschäftliche Briefe wechselte, hatte sie von Etzels Flucht in Kenntnis gesetzt. (Auch die beiden Briefe, die sie im März und April an Herrn von Andergast gerichtet und in denen sie unter Hinweis auf die Unhaltbarkeit und Unwürdigkeit der Maßregel, da doch der angeblich freiwillige Verzicht ein erpreßter Verzicht gewesen, die Aufhebung des bestehenden Zustands gefordert, hatte sie mit seinem Wissen geschrieben. Beide Briefe waren keiner Antwort gewürdigt worden, als sie es dem Rechtsfreund gemeldet, hatte sie hinzugefügt: Es war ein unverzeihlicher Fehler, an eine Instanz zu appellieren, die die menschlichen Vokabeln nicht versteht.) Die Nachricht und daß der Knabe unauffindbar blieb, hatte sie über alle Hemmungen hinausgetrieben und sie gegen die Folgen eines Schrittes, der genau betrachtet wenig praktischen Nutzen versprach, gleichgültig gemacht. Sie wollte handeln, sich zumindest zeigen, da die einschüchternde Angst von ehemals nicht mehr vorhanden war. Nun saß sie hier, stumm, gleichsam erstickt, genau wie damals, als er ihr nach Abpressung des Schuldbekenntnisses und Georg Hofers Selbstmord das wahnwitzige Dokument zur Unterzeichnung vorgelegt hatte, skrupelloser Ausbeuter ihrer Schuld und unter der Maske des Richters seiner Rache frönend.

Es entwickelte sich ein Dialog, der, durch das eigene Gewicht niedergezogen, die konventionellen Unvermeidlichkeiten abstieß, um sich in Tiefen zu verlieren, wo die Seelen sich in ihrer gesetzhaften Gegnerschaft sozusagen weltlos gegenüberstanden und der mit allen seinen Bezüglichkeiten, Verstecktheiten, Schweigepausen und stichwortartigen Verkürzungen kaum wiedergegeben werden kann. Oft antwortete nur das Verstummen des einen Partners der Rede des andern, deutlicher als mit Argumenten, zerrissene Gedankenreihen teilten sich mit, ein Achselzucken enthielt eine Geschichte, die Luft des Zimmers war mit Vibrationen geladen, die sich unmittelbar auf die Nerven der zwei Menschen übertrugen. Herr von Andergast begann damit, daß er leider nicht das Glück habe, über den Zweck des Besuches informiert zu sein, obschon er den Anlaß erraten könne, eine fade Redensart, die er noch dazu mit der nämlichen Stimme vorbrachte, mit der er sich in der Sprechstunde an eine Partei zu wenden pflegte. Nach reiflicher Erwägung der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer solchen Entrevue habe er sich für das erstere entschieden, jedoch . . . Emporheben der Schultern, wie wenn er damit am Ende seiner Weisheit wäre. Sophia schnellte auf. Die freche, papierne Majestät, dachte sie empört. Dann lächelte sie und setzte sich wieder. Besagter Anlaß, fuhr er um eine Schattierung höflicher fort, da er mit der Einleitung seinen Standpunkt ausreichend scharf betont zu haben glaubte, besagter Anlaß könne ihn aber weder zu einer Erklärung noch zu einer Diskussion zwingen, er anerkenne nach wie vor keine dahinzielenden Ansprüche. – »Ah, wirklich?« kam es wie ein Vogelruf von Sophias Sessel her. Unangenehm berührt schaute Herr von Andergast in die Richtung. »So ist es«, bestätigte er kalt. Sophia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Vergebliche Hoffnung«, sagte sie gelassen, »es werden keine Ansprüche geltend gemacht, du kommst daher nicht in die Lage, sie zu bestreiten.« – Herr von Andergast hob fragend die Brauen. Um so weniger begreife ich den Wunsch nach dieser Zusammenkunft, drückte der verhaltene Überdruß seiner Miene aus. Jenes erste Du aus dem Mund der Frau war ihm wie ein Schock gewesen, obwohl nicht einzusehen war, wie es auf die Dauer umgangen werden konnte. Er griff nach dem Petschaft, das neben dem Tintenfaß lag, wog es in der Handfläche und starrte es aufmerksam an. Seine Gedanken bewegten sich in zwei konzentrischen Kreisen. Der eine umschloß alles den Sträfling Maurizius Betreffende (in einer wundgeschürften Partie seines Gehirns), er hatte das Gefühl, als ob er die Zelle vorzeitig verlassen und dadurch die wichtigsten Enthüllungen versäumt habe, ich muß das nachholen, sagte er sich, da sind Momente, die noch der Aufklärung bedürfen. Er rekonstruierte innerlich den Mordschauplatz, er erwog, wieder und wieder, den Umstand mit dem verschwundenen Revolver, er rechnete die Zeit nach, die Waremme vom Kasino bis zum Gartentor gebraucht haben mußte, und fand eine verdächtige Differenz von anderthalb bis zwei Minuten heraus, er überlegte die voll eingebrochene Dunkelheit des nebligen Oktoberabends und machte dem Verfahren den Vorwurf, daß es den Zufallszeugen zu viel Glaubwürdigkeit beigemessen (der alte Fehler, wie er resigniert zugab), er maß im Geist die Distanz vom Zaun bis zum Hauseingang ab, wo die Anna Jahn gestanden war, fünfunddreißig Meter, und daß Waremme an Maurizius vorübergelaufen sein mußte, wenn dieser wirklich nicht geschossen, dann wahrscheinlich umgekehrt war, um Maurizius mit dem vom Boden aufgehobenen Revolver in der Hand gegenüberzutreten: alles dies, um schließlich festzustellen, daß man den Sträfling neuerdings aufsuchen müsse, und zwar ehebaldigst, um ihn zu letzten Aufklärungen zu veranlassen, wobei er sich jedoch verhehlte, daß es die Persönlichkeit des Maurizius selbst war, die ihn in einer Weise anzog und in Atem hielt wie nie ein Mensch bisher, und er außerdem der einzig möglichen Schlußfolgerung angstvoll auswich, nämlich, daß Waremme einen Meineid geschworen haben mußte; das sich klar zu sagen, ging über sein Vermögen, mit ungeheurer Willensanstrengung verhinderte er, daß es in sein Bewußtsein trat.

So blieb alles Quälende Vision in dem einen Kreis und schlug von Zeit zu Zeit auch in den andern über, in welchem Sophia sichtbar und, trotz des Entschlusses, den Knaben nicht mit ihr in Verbindung zu denken, Etzel unsichtbar stand. Obgleich er den Eindruck erweckte, als habe er Sophia überhaupt noch nicht wirklich angesehen, hatte sein verborgener Späherblick ihre Erscheinung längst aufgenommen. Die Wahrnehmung, daß die Zeit an ihrem Äußeren nur geringe Verheerungen angerichtet, erfüllte ihn mit einem haßvollen Staunen. Die rotbraunen Haare hatten immer noch denselben leisen Goldschimmer, das liebliche Oval der Wangen hatte keine wesentliche Einbuße erlitten, die Brauen waren noch immer so charakteristisch hochgebogen und verliehen dem Gesicht den Ausdruck einer beständigen, etwas kurzsichtigen Neugier, der ihn so oft ungeduldig gemacht hatte, der Hals war beinahe ohne Falten, von Schwere des Schicksals ließ die Haltung nichts erkennen, von Krankheit nichts, von einem zurückgelegten Weg der Buße nichts, von Reue und Demut nichts, keine bittstellerische Gebärde, nichts Gedrücktes, nicht Spuren der Not, der Verlassenheit, nichts von dem, was man erwartet und gern gesehen hätte, sondern Freiheit, Gemessenheit, Besonnenheit. Wie konnte das sein? Da stimmte etwas nicht. War das der Erfolg der auferlegten Strafe? Wo war dann der Sinn der Bestrafung? Diese ruhige Miene, dieses überlegene Schweigen, dieses süffisante Lächeln (so erschien es ihm, in Wirklichkeit war es ein schmerzliches Lächeln, wie ja das ganze innere Leben der Frau sich in gewissen seelenhaften Zügen um den Mund herum ausdrückte) . . . Weit erschreckender noch die Ähnlichkeit mit Etzel, das bloße Dasitzen schon, der argwöhnisch gespannte Blick mit der geheimen, stets bereiten Abwehr, die Mischung von Kindlichkeit und ärgerlicher Reife in den Zügen, von Wißbegier und von . . . ja, von Verschlagenheit, es war außerordentlich merkwürdig, geisterhaft beinahe, etwas, worauf er nicht gefaßt gewesen und was ihn vielleicht nötigen würde, seine Taktik einer Revision zu unterziehen, nämlich sie zu verschärfen und Maßregeln gegen eine zu befürchtende Annäherung dieser offenbar verhängnisvoll gleichartigen Charaktere zu treffen.

Und Sophia?

4

Die Dinge lagen für sie ganz einfach so: in der Entfernung alarmiert, hatte sie selbstverständlich an ein unheilvolles Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn geglaubt, hervorgerufen einerseits durch die despotische Willkür des Herrn von Andergast, seine Gemütskälte, seine Gewohnheit, die von ihm abhängigen Menschen in unnachsichtiger Zucht zu halten und zu schweigendem Gehorsam zu verpflichten, andererseits durch die natürliche Auflehnung eines jungen Geistes, der nach Selbstleben und Selbstverfügung dürstete und den ersten besten Vorwand ergriff, das unerträgliche Joch abzuschütteln. Sie hatte sich stürmische Szenen ausgemalt, offene Entzweiung, die Flucht hatte sich ihr als plan- und kopflose Handlung dargestellt, Verzweiflungsakt, der nach abenteuerndem Herumirren in der Welt entweder zu Rückkehr und Strafe oder zum Untergang führen mußte. Die Mitteilungen der Generalin hatten ihr die Vorgänge in einem andern Licht gezeigt und eine Bestätigung jener auf geheimnisvollen, seelischen Kommunikationen beruhenden Zuversicht gegeben, die von den obenauf zitternden Angstbildern nur verdeckt worden war. Sie hatte aber noch Zweifel gehegt. Das Beisammensein mit dem Manne beseitigte sie. Für die inneren Bewegungen der Menschen empfindlich wie ein Seismograph, erkannte sie in seiner Unrast, dem jäh auflodernden und wieder verlöschenden Blick, der scheuen Wachsamkeit, verbunden mit einer an Geistesabwesenheit grenzenden Zerstreutheit Begleiterscheinungen einer Katastrophe. Da hatte sich Sinnvolleres ereignet als das gewöhnliche Davonlaufen eines Halbwüchslings, der gegen das väterliche Regiment rebelliert. Selbst wenn es ihretwegen geschehen wäre (es ließ sich ja denken, daß ihm das an der Mutter verübte Verbrechen nicht verborgen geblieben war und er deshalb den Vater verlassen hatte, mit der geheimen Hoffnung vielleicht, zu ihr zu flüchten), auch dann hätte sie die Befriedigung nicht verspürt, die sie jetzt empfand. Dieses »Sinnvolle« war von höherer Art, die Vergeltung schlagender. Wer hätte sich getrauen dürfen, das, gerade das zu hoffen und zu prophezeien? Sie lächelte, nicht triumphierend, eher überrascht, als könne sie an etwas Wunderbares noch nicht ganz glauben. Furchtlos sagte sie: »Die Ansprüche, die ich stellen könnte, haben keinen Inhalt mehr, nur weißt du es nicht.« – »Wie das?« fragte Herr von Andergast mit schwachem Versuch, Interesse zu zeigen, und stellte das Petschaft wieder auf seinen Platz. – »Das heißt, du weißt es wohl, du bewirkst nur das Nichtwissen künstlich«, fuhr Sophia fort, »wie sollte jemand wie du nicht wissen, wenn er in seinem Mark getroffen und in seinem Lebensgesetz aufgehoben ist.« – »Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß diese Ausführungen jeder Verständlichkeit entbehren?« – »Bitte. Meine Ambition in der Beziehung ist gering. Die Sache ist aber nicht besonders dunkel.« – »Ich bin ganz Ohr.« – »Du bildest dir doch nicht ein, daß es sich bloß um eine vorübergehende Störung des Verhältnisses zu deinem Sohn handelt? Der Bub wird zurückkommen, wenn er seinen Zweck erreicht hat oder wenn er sich überzeugt hat, daß er unerreichbar ist. Er wird zurückkommen, ohne Frage, aber nicht zu dir. Niemals mehr zu dir.« – Herr von Andergast lachte trocken und etwas mühselig auf. »Ich sollte meinen, dagegen gibt es Anstalten und Vorkehrungen«, versetzte er. – »Zwangsanstalten und Zwangsvorkehrungen. Ja. Damit gewinnt man nicht eine Seele zurück.« – »Ich lege keinen Wert auf die Seele.« – »Das weiß ich. Also wirst du versuchen, die Seele zu exorzisieren. Du hast ja so herrliche Resultate damit erzielt.« – »Ich werde tun, was mir die Pflicht gebietet.« – »Selbstverständlich. Die Pflicht ist ein großer Herr. Und was gebietet sie dir? Den Kerker.« – »Ich lehne die Debatte in diesen Formen ab.« – »Die Form, mein Gott«, sagte Sophia mitleidig, »ich kann nicht wie deine Kanzleiautomaten mit dir reden, wenn es um das geht, worum es eben geht.« – »Nämlich?« – »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu fordern, sondern um etwas zu verhindern.« – »Und das wäre?« – »Verstündest du nicht so gut, du fragtest nicht so schlecht.« – »Du scheinst also doch zu befürchten, daß ich der Entwicklung der Dinge nicht so ohnmächtig gegenüberstehe, wie du anfangs für gut fandest, mich glauben zu machen.« – »Wer sollte an deinem Scharfblick zweifeln? Scharfblick ist das Beste, was du hast. Ohnmächtig; Nein. Für ohnmächtig halt ich dich nicht. Nie wirst du es sein. Leider, du bist zu beklagen darum. In der Ohnmacht entdeckt man oft seine wahre Kraft. Deine hast du am toten Werk verbraucht. Treib's nicht in den Widersinn. Der Bub ist dir nun einmal verloren.«

Einen Augenblick lang war es, als wolle Herr von Andergast den Panzer abwerfen, der ihn unangreifbar machte, die veilchenblauen Augen glühten unheilvoll auf, die schwimmende Blässe um die Nase verbreitete sich über die Wangen. Aber er schwieg. Die Frau vergißt sich, die Frau tritt mir entschieden zu nah, schoß es ihm zornig durch den Kopf. Allein er schwieg. Er schritt zu dem braunen Kachelofen und lehnte sich an ihn an, in der Haltung eines Mannes, der es in stummer Geringschätzung von sich weist, daß man seine Person zum Gegenstand psychologischer Tüfteleien macht. Sophias Stimme erhob sich nicht über den bisherigen Konversationston, als sie fortfuhr: »Eines Tages mußten ihm die Augen aufgehn. Es mußte ihm klarwerden, wer sein Vater ist. Er ist ja mein Sohn. Daß er mein Sohn ist, wird ja nicht geleugnet. Oder? Ich hatte freilich nicht die rechte Vorstellung von ihm. Eigentümliches Geständnis einer Mutter, nicht wahr? Aber ich habe wenigstens nicht umsonst die ganzen Jahre her gewartet, nichts als gewartet. Deine Rechnung war falsch. Wenn dir auch die Seele nichts gilt, wie du sagst, sie hat dir doch bewiesen, daß man sie nicht vergewaltigen kann. Der Widersacher im Geiste. Bewundernswert, wie zielbewußt du ihn dazu erzogen hast. Deine Mutter hat mir erzählt . . . Hält man alles zusammen, so entsteht ein klares Bild. Du erinnerst dich wohl kaum, daß ich an die Schuld des Maurizius nie glauben konnte. Du hast dich freilich nicht dazu herbeigelassen, Notiz davon zu nehmen, was ein achtzehnjähriges Geschöpf fühlt und denkt . . . Mon Dieu, cela ne tire pas à conséquence. Wir lernten uns genau an dem Tag kennen, an dem das Urteil rechtskräftig wurde und du es mir strahlend mitteiltest. Ein Schauder ging mir durch und durch. Ich höre noch, mit welcher Betonung du das Wort aussprachst, rechtskräftig, als wär's eine Botschaft vom Himmel. Als ich meinem Vater unsre Verlobung anzeigte, er war zur Kur in Nauheim, drei Wochen vor seinem Tod, schrieb er mir einen Brief, der nur von der Unschuld des Maurizius und von dir handelte, der die Anklage vertreten hatte. Ihm, dem Rechtsgelehrten, ging die Sache nah, er war aus einer andern Zeit, ihm war das Recht keine eherne Mosestafel, unsere Verlobung bereitete ihm große Sorge. Sonderbar. Es kommt nichts abhanden in der Welt, das verwehte Samenkorn ist in das Herz meines Kindes gefallen und zum Baum geworden, von dem er die Frucht der Erkenntnis gepflückt hat. In deinen Augen sind Recht und Gesetz Institutionen, die gegen die menschliche Kritik gefeit sind. Mir träumte einmal, daß eine unabsehbare Volksmenge vor dir auf den Knien rutschte, um dich anzuflehen, du solltest einen Spruch zurücknehmen, du bist dagestanden wie eine steinerne Säule. Schrecklicher Wahn, sich einzubilden, man könne unfehlbar sein, unfehlbarer Richter. Nicht geirrt haben dürfen, was für ein Fluch! Du hast mir mein Kind genommen, ja, mein Kind, die Mutter besitzt, von allen Menschen auf der Welt besitzt vielleicht nur sie, aber ich klage nicht und klage nicht an, ich . . . wie heißt es in eurer Amtssprache, ich resümiere, du hast es in einem Alter geraubt, laß mich zu Ende reden, das Wort entspricht genau der Tatsache, in einem Alter geraubt, wo du hoffen konntest, ihn ganz nach deiner Idee zu modeln, zu deinem Ebenbild, er war Lehm in deiner starken Faust, du hast dich dabei auf Recht und Gesetz gestützt wie auf verläßliche Trabanten, und wahrhaftig, sie haben dich ausgezeichnet bedient, dann wächst er dir auf, der gesetzlich beschlagnahmte Mensch, und was ereignet sich? Er zerstört dein Fundament und zerreißt dir deinen Wahn, Recht und Gesetz lassen dich im Stich. Keine Dialektik kann das in Abrede stellen, ich brauch dich ja bloß anzuschauen, um zu wissen, daß es so ist. Noch vor einer Stunde hatte ich keine Ahnung davon, keine Ahnung, daß . . .« Sie sprang auf, machte zwei Schritte gegen Herrn von Andergast, und die geballte rechte Hand im offenen Teller der linken fragte sie mit ihrer eigentümlich heiteren Stimme, die keine Erregung durchklingen ließ: »Soll ich dir sagen, was außerdem noch geschehen ist?« – Herr von Andergast hob gebieterisch den Arm mit gestrecktem Zeigefinger. Eine in diesem Moment gespensterhaft wirkende Staatsanwaltsgebärde. »Ich verzichte«, sagte er hastig, »wir haben das nicht miteinander auszumachen, ich muß mir jede weitere Erörterung darüber verbitten.« – Sophia, sarkastisch: »Ich verstehe, du entziehst mir das Wort. Du entziehst es nur dir.« Sie machte noch einen Schritt und lächelte seltsam inbrünstig, beinahe verzückt, als sie, das Gesicht nach oben gewandt, flüsterte: »Aber wo ist er, wo ist er denn? Er muß ja bald kommen, ich möcht ihn doch endlich sehen . . .« Herr von Andergast senkte den Kopf, eine Zeitlang war er förmlich erstarrt, bis auf einmal das Wort Meineid an sein Ohr drang und ihn zusammenzucken ließ.


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