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Als Herr von Andergast nach einer schlaflosen Nacht (an der vielleicht nur das miserable Wirtshausbett schuld war, obschon der spartanische Sinn des Oberstaatsanwalts solche Unannehmlichkeiten nicht zu beachten pflegte) um sieben Uhr morgens die Zelle betrat, saß Maurizius lesend am Tisch. Der Sträfling legte das Buch beiseite, erhob sich und sah eigentümlich erstarrt zu, wie der Wärter, nicht ohne neugierige Verwunderung in dem gedunsenen Alkoholikergesicht, die Tür wieder schloß. »Guten Morgen«, sagte Herr von Andergast mit behaglichem Ton, der jedoch das Ohr des Sträflings nicht über seine Künstlichkeit täuschen konnte. – »Guten Morgen«, klang es militärisch straff zurück. – »Haben Sie sich einigermaßen ausgeruht?« – Verbeugung. – »Darf man fragen, was Sie lesen?« Herr von Andergast nahm das Buch in die Hand, es war die Chronik der Stadt Rothenburg von Sebastian Dehner. »Ah, interessiert Sie das? Überflüssige Frage, natürlich interessiert es Sie, da Sie sich ja damit beschäftigen.« – »Man bekommt ein gutes Bild, wie das Volk einmal gelebt hat. Vielmehr, wie es daran verhindert worden ist, zu leben.« – »Hm. Ich weiß nicht. Das Volk hat in jenen Zeiten kraftvoller gelebt als heute.« – »Jedenfalls geduldiger. Wenn man ihre Häuser plünderte und ihr Vieh erschlug, beschwerten sie sich beim Kaiser, und wenn ihnen der Kaiser nicht half, veranstalteten sie Bittprozessionen. Die Menschen waren immer sehr geduldig; sie sind's noch jetzt. Darauf pochen alle Regierungen, auf die Geduld der Menschen, damit bestreiten sie ihre Existenz.« – Herr von Andergast runzelte die Stirn. »Sie sind gallig«, sagte er mit dem merkbaren Entschluß, nachsichtig zu sein, »aber wir wollen ja die kostbare Zeit nicht mit Polemik vertun. Sie hatten die Absicht . . . ich hoffe, Sie haben sich's nicht anders überlegt. Sie sehen, ich bin auf Ihren . . . Ihren Vorschlag eingegangen und habe mich Ihnen für diesen Tag gänzlich zur Verfügung gestellt.« – Über Maurizius kam wieder das Starre. Mit starrem Blick erwiderte er: »Was ich versprochen habe, das halte ich.« Er lehnte an der Mauer. Herr von Andergast zog den Stuhl ans Fenster und ließ sich darauf nieder. Er machte gegen Maurizius, genau wie am Beginn des gestrigen Gesprächs, eine kordiale Handbewegung, die ihn aufforderte, ebenfalls Platz zu nehmen. Aber Maurizius schien es nicht zu bemerken. Er blieb an der Mauer stehen. Seine Lider schlossen sich halb, die kleinen Zähne nagten an der schön geschwungenen Oberlippe, er fuhr ein paarmal nervös mit der schlanken Hand über die Stirn und fing mit leiser Stimme, die bisweilen versickerte, so daß sie nur noch mit Anstrengung gehört werden konnte, zu sprechen an.
Er kann den Tag, an dem er Anna zum erstenmal sah, genau bezeichnen. Es war der 19. September 1904, ein Montag. »Ich kam von der Universität nach Hause, im Vorzimmer hing ein pelzgefütterter Damenmantel, von dem Mantel strömte ein Parfüm aus, zarter Verbenenduft . . . noch jetzt kommt mir der Geruch manchmal im Traum.« (Er stockte, wie um zu schnuppern, wollte es Herrn Andergast scheinen. Überhaupt war der Anfang der Erzählung durch häufiges Stocken und Innehalten unterbrochen, ein sichtbares Zurückdenken, ein Zurücklangen beinahe, wie wenn jemand ins Wasser greift, um mit Anstrengung, mit einer Art von Angst untergesunkene Gegenstände herauszuholen. Dies auch nur einigermaßen wiederzugeben, ist natürlich unmöglich.) Als er ins Zimmer tritt, sieht er die Schwestern einander gegenübersitzen. Seine Frau sagt lächelnd: das ist Anna. Er kann seine Betroffenheit nicht verbergen. Er hat viel von Annas Schönheit reden hören, seine Erwartungen sind in dieser Hinsicht hochgespannt (da er ja auf ihre Ankunft vorbereitet war), aber der lebendige Anblick überrascht ihn dennoch. Sie ist schöner, als er erwartet hat. Sie ist jedenfalls anders, als er erwartet hat. Ihre Gegenwart hat etwas Beengendes. Vor allem ist ihm der Gedanke, sie zum Hausgenossen zu haben, nicht behaglich. Abgesehen von der Störung der Ruhe und Bequemlichkeit, die ein Logiergast mit sich bringt, hat dieses achtzehn- oder neunzehnjährige Mädchen etwas an sich, das zu einer ständigen Aufmerksamkeit zwingt. Was es ist, läßt sich vorerst nicht präzisieren, man spürt es bloß. Im Verlauf der nächsten Tage findet er, kann sich auch nicht enthalten, es seiner Frau gegenüber tadelnd zu äußern, daß Anna unliebenswürdige Manieren habe. Er bezeichnet mehrere Anlässe, bei denen sie ihn durch ihr hochmütiges Wesen geärgert hat. Es scheint sogar, daß sie solche Anlässe sucht. Sie behandelt mich, als hätte ich silberne Löffel gestohlen, sagt er zu Elli. Diese bemüht sich, die Schwester zu entschuldigen. Sie fühlt sich durchaus als deren Patronin. Es entgeht ihm aber nicht, daß die beiden einander nicht verstehen. Elli bewundert Annas von allen bewunderte Schönheit, sie bemüht sich, ihr mit Rat und Tat zu helfen, denn Anna hat Existenzsorgen, ihre schwierige Lebenssituation verpflichtet Elli, sich ihrer anzunehmen, aber zwanzig Jahre Altersunterschied sind nicht zu überbrücken, eine Schwester kann nicht Botmäßigkeit fordern, Anna ist auch nicht im mindesten zur Botmäßigkeit gewillt. Er beobachtet. Er hält sich im Hintergrund. Mit einer gewissen Lust heftet er seine Kritik an Dinge, die ihm an der Schwägerin mißfallen. Ihre Gewohnheit, jeden Sonntag zur Beichte zu gehen, ist ihm besonders fatal. Als er sich einmal zu einer spöttischen Bemerkung hinreißen läßt, entgegnet sie: Ein Gottloser soll nicht an ein Sakrament rühren. Denselben Abend liest er ihr und Elli eine kleine Abhandlung über die Dürerschen Landschaften vor, die er eben vollendet hat. Die Arbeit scheint auf Anna Eindruck zu machen. Sie sprechen darüber. Er fragt: Nennst du den gottlos, der das geschrieben hat, und was ist dann ein Gottloser? Sie schweigt, sie scheint nachzudenken. Sie hat beständig ein undeutbares Lächeln auf den Lippen. Wenn man öfter in ihrer Gesellschaft war, wird es ein unangenehm stereotypes Lächeln. Es ist eine fertige Quittung für alles mögliche: Komplimente, Ratschläge, Dienstleistungen, Widerspruch und Forderung. Es hält eine flackrige Mitte zwischen Scham und Spott. Maurizius verweilt ungewöhnlich lange bei der Analyse dieses Lächelns. Er nennt es ein spezifisch jungfräuliches Lächeln, spröd und respektlos. Es gibt, führt er aus, eine Dreistigkeit, die man nur bei achtzehnjährigen Mädchen findet und toleriert. Hätte man das Lächeln von ihren Lippen ablösen können, etwa wie das Etikett von einer Schachtel, so hätte man vielleicht etwas Beschädigtes erblickt, so nennt er es grübelnd, den Sprung in der Glasur. Aber halten wir uns dabei nicht weiter auf. (Er gibt sich offenbar Mühe, die Gestalt Annas, an der Herr von Andergast vorläufig noch nichts Fesselndes entdecken kann, ganz genau zu verdeutlichen, und erwähnt sogleich einen charakteristischen Zwischenfall.) Eines Morgens sagt Elli zu ihm: Denk dir, Anna will nicht bei uns wohnen bleiben. Ah, wir sind ihr wohl nicht vornehm genug, antwortet er, nun, der alte Jahn in Köln hat auch nicht in einem Palais residiert. Das ist es nicht, gibt Elli ziemlich verlegen zurück, es paßt ihr nicht, daß ihr Zimmer neben unserm Schlafzimmer liegt, ich habe ohnehin schon, weil sie's ausdrücklich verlangt, den Kleiderschrank vor ihre Tür stellen und den Zwischenraum mit Matratzen stopfen lassen; es genügt ihr nicht, es ist ihr peinlich. Eine solche Prüderie erklärt Maurizius für widerwärtig. Elli muß seine Entrüstung beschwichtigen, Anna sei im Kloster erzogen worden, das müsse man in Betracht ziehen und ihr die Übertriebenheit nachsehen. Ja, es ist das Katholische an ihr, gibt er mißbilligend zu, und auf Grund seiner Lebemannserfahrungen verkündet er den Gemeinplatz von der lasterhaften Phantasie, die hinter züchtig gesenkten Augen ihr Unwesen treibe. Jedoch Annas Augen sind keineswegs züchtig gesenkt. Im Gegenteil, ihr Blick umfaßt Dinge und Menschen mit einer unnachsichtigen Offenheit (»oberhalb des erwähnten Lächelns, wissen Sie«), als sei ihr das Heimlichste nicht fremd. Man kennt sich überhaupt nicht mit ihr aus. Die ganze Person will nirgends hin passen, in die Bürgerwelt nicht, in die große Welt nicht, in die Boheme nicht, in die Halbwelt schon gar nicht. Sie ist nicht amüsant, sie versteht kein Gespräch zu führen, sie hat wenig gelesen, in der Gesellschaft macht sie keine Figur. Nur schön also? Dessen wird man müd. Es langweilt. Und doch, und doch . . . ein tiefer Brunnen, ein abgründig tiefes Wasser. Eine ihrer ungeselligsten Eigenschaften ist es, daß sie absolut keine Zweideutigkeiten und anzüglichen Gespräche verträgt. Dieser Abscheu, zu dem sie sich unumwunden bekennt, führt eines Tages zu offenem Zwist mit Elli und weiterhin zur Auseinandersetzung mit ihm, Leonhart. Elli hatte ein paar Leute zu Tisch, darunter einen Herrn von Buchenau, der später zu den Intimen Waremmes gehörte, reicher Sportsmann und Sammler, nicht mehr jung, sehr geistreich, sehr zynisch, beliebt als Erzähler gewagter Anekdoten. Damit hält er auch an jenem Abend nicht zurück, die Geschichten werden immer schlüpfriger, und während er eine kaum noch verschleierte Cochonnerie erzählt, er ist gewohnt, seine Zuhörer so abgebrüht zu finden, daß er vor dem Äußersten nicht zurückschreckt, erhebt sich Anna in einer Art, als begriffe sie erst in dem Augenblick die Unanständigkeit der ganzen Unterhaltung, schaut den verdutzten Buchenau mit einem Ausdruck an, daß ihm das Wort im Mund steckenbleibt, und verläßt das Zimmer, um nicht mehr wiederzukommen. Am anderen Tag stellt Elli sie zur Rede, sagt ihr, erwachsene Leute pflegten sich nicht mit frommem Gesäusel die Zeit zu vertreiben, sie lasse ihre Gäste nicht brüskieren, und dergleichen mehr, zum Schluß beruft sie sich auf Leonharts Meinung. Anna blickt nur so vor sich hin mit ihren geheimnisvoll klaren Augen, man könnte denken, sie sucht das Gesicht von Maurizius, aber dort, wo sie hinschaut, ist nur sein Knie, dabei lächelt sie eigentümlich verschlafen. Er hütet sich, etwas zu sagen, der Auftritt ist ihm unangenehm, zum erstenmal kann er der Schwägerin nicht unrecht geben. Elli ruft ihr über die Schulter zu: Ich glaube, du bist so von dir eingenommen, daß du gar nicht mehr spürst, wenn du einen andern Menschen beleidigst. Da erwidert Anna: Ach nein, du. »Ich erinnere mich«, sagte Maurizius, »daß mir die drei Worte durch und durch gingen. Sie klangen, ich hab den Ton noch genau im Ohr, wie wenn ein Blinder sich nicht genug darüber wundern kann, daß man ihn schieläugig schimpft. Es erstaunt Sie vielleicht, daß ich das alles noch so genau wiedergeben kann, und dafür steh ich ein, daß kein Wort verfälscht oder erfunden ist, jede Silbe ist in meinem Hirn eingeätzt, jede Miene könnt ich zeichnen, bloß in der Zeitfolge verschiebt sich manchmal dies und jenes, sonst ist alles wie gestern gewesen.«
Er entfernte sich einige Schritte von der Mauer, kehrte jedoch gleich wieder zurück, als sei dort ein unsichtbares Schilderhaus, das ihn gegen irgendwelche, nur ihm allein bekannte Gefahren schützte. Herr von Andergast, die Hände über den gekreuzten Beinen gefaltet, den leicht geneigten Kopf zum Fenster gewandt, war gestört durch ein dumpfes Gehämmer, das vom Gefängnishof heraufschallte und das ihn zwang, seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln, um nichts von dem zu verlieren, was die welke Stimme an der Mauer sagte. In einer Hinsicht waren ihm die Vorgänge bekannt, erweckten wenigstens Assoziationen an Bekanntes, in anderer waren sie ihm vollständig neu. Es war ungefähr, wie wenn man ein Buch liest, dessen Inhalt man bisher nur durch ausführliche Berichte, etwa aus der Zeitung oder sogar aus einem Buch über dieses Buch, kennt. Man überzeugt sich dabei mit einem gewissen Schrecken, daß das noch so getreulich Berichtete beinahe keine Ähnlichkeit mit dem Leben in dem Buch selbst hat, dem Erlebnisleben mit seinem unmittelbaren Niederschlag. Wunderlicherweise beobachtete er an sich, daß ihn diese Erfahrung bedrückte und die qualvolle Urteils- und Geistesunsicherheit steigerte, unter der er seit einer Reihe von Tagen litt.
Maurizius, mit dem nämlichen lichtlos-starren Blick wie bisher, kommt nun auf die erste vertrauliche Unterredung mit der jungen Schwägerin zu sprechen. Er scheint zu fühlen, daß das, was zwischen ihm und Anna dabei erörtert wurde, nicht von erheblichem Belang ist. Nur wozu es treibt, ist von Belang. Jedes kleinste Geschehen wird hier natürlich zum Ring in der Kette. Daß sie von seiner Vergangenheit als Verführer und Abenteurer gehört hat, liegt auf der Hand. Sich deswegen zu grämen, fällt ihm nicht ein. Nach seiner damaligen Lebensauffassung muß ja ein Ruf wie der seine eher dazu dienen, einen Mann interessant als verächtlich zu machen. An seine Besserung in der Ehe mit Elli glaubt sie nicht recht, sie hält ihn noch immer für einen unsichern Kantonisten. Gut, niemand hat sie zur Richterin bestellt, ihre Moral ist nicht die seine, man wird versuchen, ohne ihre Billigung und ohne ihre Sympathie auszukommen, schließlich, wer ist sie denn? Eine anspruchsvolle junge Dame, die von dem Kredit lebt, den ihr ein erlesen schönes Gesicht verschafft. Desungeachtet wurmt ihn ihre spürbare Geringschätzung. Er kann sich nicht darein finden, es raubt ihm den Schlaf, es verbittert ihm seine Muße, er sieht immer die leicht zusammengezogenen Brauen über den klaren, kühlen, braunen Augen. Er geht, wie gesagt, ziemlich flüchtig über das alles hinweg. Es hat sich nicht um ein Haar anders abgespielt, als man es von tausend ähnlichen Fällen weiß. Wie er ja überhaupt, so konstatiert er, bis zu einem ganz bestimmten Punkt als Dutzendmensch ein Dutzendleben gelebt hat. Auf einmal, an dem bestimmten Punkt, bemächtigt sich seiner »das Schicksal«. Es rollt auf ihn zu wie eine ungeheure, steinerne Kugel. Drei Gedanken vorher hat man noch nicht einmal eine Ahnung von ihm gehabt, dem Koloß »Schicksal«. (»Finden Sie nicht«, fragt er in die Luft hinein, »daß das sogenannte Schicksal meist auf eine grausam schlaue Manier außer uns entsteht und sich in gewisser Beziehung auch außer uns begibt? Man tänzelt ganz idiotisch weiter, erst wenn man nicht mehr ein noch aus weiß, erkennt man mit Schrecken: Aha, das ist ›das Schicksal‹. Mir ist es so ergangen.«) Es trifft ihn wie ein Faustschlag, als ihm Anna während des Gesprächs das Wort zuwirft: Du hast dich ja verkauft. Zuerst steht er wie verdonnert vor ihr da, er fühlt sich beschimpft und mißkannt, sie scheint das häßliche Wort zu bereuen, als er sich mit dem ganzen Aufgebot seiner Beredsamkeit gegen den schmählichen Vorwurf zur Wehr setzt, hört sie ihm nicht ohne Bewegung zu. Beim Abschied reicht sie ihm die Hand. Ihre Stummheit enthält eine halbe Bitte, eine halbe Versicherung. Hat er sie überzeugt? Es ist nicht ausgemacht. Ihm ist bei der ganzen Sache keineswegs wohl. Er erkennt plötzlich mit blitzähnlicher Verzweiflung: Sie hat recht. Ein folgenschweres Erwachen. Von dem Moment an ist er gezwungen, eine Lüge mit der andern zu verkleistern, Lüge auf Lüge zu häufen, bis er darunter erstickt. Die Geschichte mit dem selbstgeschriebenen, anonymen Brief ist der Anfang von dem Weg ins Bodenlose. Hier irrte er wieder in eine seiner düsteren Betrachtungen ab und verbreitete sich über den Unterschied zwischen Wortlüge und Tatlüge, es sei ein Unterschied wie zwischen einem unter Umständen harmlosen Tuberkel und einem verseuchten Organismus. Wenn ein Mann mit einer ungeliebten Frau die Ehe schließt, darauf ruht ein Fluch, das kann er nie wiedergutmachen, es führt unabänderlich zur Selbstzerstörung, nämlich wenn es, wie in seinem Fall, die Zerstörung des andern Teils bedingt. Je sublimere Vorwände er dazu gebraucht hat, je heilloser wird das Ergebnis sein. Er dachte besonders klug zu handeln, als er Elli zum Weibe nahm, und er besaß nicht einmal die oberflächlichste Kenntnis ihres Wesens. War es kluge Berechnung, dann war es eine aufgelegte Schurkerei, gleichviel was er dabei für edle oder vermeintlich edle Ziele im Auge gehabt; war es Leichtfertigkeit und frivoler Fatalismus, so durfte er sich noch weniger über die Leiden verwundern, die über ihn verhängt wurden. Nein, zu wundern war da nichts. Vergibt sich ein Mensch und nimmt in heimlichem Vorbehalt seine Seele von der Hingabe aus, läßt sich aber, als wär es ein richtiger Austausch, die Seele des andern schenken, so begeht er ein Verbrechen, vielleicht das schwerste, das begangen werden kann. Die Schuld wird nicht um ein Jota geringer dadurch, daß man sich ausredet: Ich hab's nicht gewußt. Da heißt es: Du hast zu wissen. Da gilt im höchsten Maße der Satz: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe. Des Gesetzes? welches Gesetzes? das in einem drinnen. Das muß man kennen . . .
Er sank gänzlich in sich zusammen, aber nur für eine halbe Minute. Während Herr von Andergast, mit einem Rest dunklen Mißtrauens noch, der moralischen Selbstzerfleischung des Sträflings nachsann (welchen abgrundtiefen Sinn bekam der Begriff Sträfling auf einmal), fuhr dieser bereits fort. Wenige Tage nach der Auseinandersetzung mit Anna erhält er das Schreiben des Schweizer Anwalts, das ihn von der Geburt seiner Tochter Hildegard benachrichtigt, auch von den Ansprüchen, die die frühere Geliebte an ihn stellt. Er weiß sie todkrank, er weiß, daß sie am Notwendigsten Mangel leidet. Er sieht sich in einem Wust von Schwierigkeiten und weiß keinen Ausweg. Sein erster Gedanke ist: Anna. Er gesteht, daß es ihn, abgesehen von seiner Ratlosigkeit, unwiderstehlich, ja krankhaft gereizt habe, Anna in diese Sache zu verstricken. Er ist mit ihr zu einem leidlich guten Einvernehmen gelangt, sie hat ihm allerlei von ihrem Leben erzählt, nichts Erhebliches freilich, nichts, was ihn in ihr Inneres blicken läßt, in der Beziehung ist sie siebenfach versiegelt; sie hat Zukunftspläne mit ihm besprochen, sie beginnt sogar Interesse an seinen Arbeiten zu zeigen, wobei ihm bisweilen die stählerne Treffsicherheit einer Bemerkung in Erstaunen setzt, das alles ermutigt ihn zu einem Schritt, den er durchaus nicht überdenkt, den er einfach riskiert wie den Einsatz beim Roulette. Sie hört ihn an, sie spricht nichts, sie geht weg, er gerät in noch größere Unruhe, hat er ihre Achtung, ihre Sympathie von neuem verscherzt? Zwei Stunden später telephoniert sie, bestellt ihn auf die Promenade, erklärt sich bereit, in die Schweiz zu fahren, das Kind zu holen und es in das Heim ihrer Freundin, der Mrs. Caspot, nach London zu bringen. Sie läßt ihm keine Zeit zu fragen, sich nach Einzelheiten zu erkundigen, sie hat es beschlossen, es wird geschehen, er hat bloß das Geld zur Reise und zur Aufnahme einer Pflegerin zu beschaffen, die sie begleiten soll. Er ist starr. Eine so expeditive Art hat er ihr nicht zugetraut. Um so mehr muß er sie bewundern. Unter der Decke von Kälte, unter dem hochmütig-argwöhnischen Noli me tangere schlummern Mutterinstinkte, Mitleidskräfte, vielleicht ist ihr auch der Anlaß willkommen, ihn die Unbill völlig vergessen zu machen, die sie ihm angetan. Phantasien. Sie wollte fort, nichts anderes. Die Reisen in die Schweiz und nach England, daß er's gleich vorausschickt, sind Fluchtversuche. Nur Versuche freilich, aber doch Mittel, um Zeit zu gewinnen und auf ein hilfreiches Ungefähr zu hoffen. Gewiß, sie hat sich auch später des Kindes Hildegard mit einer befremdlichen Leidenschaft angenommen, während der ärgsten Verfinsterungen der folgenden Zeit hat sie es nicht aus dem Kreis ihrer Sorge gelassen, als ob da was Haltbares für sie wäre, ein letzter, neutraler Ort ohne Fieber und Qual, aber damals, als sie den Entschluß faßt, ist sie nur von der Angst getrieben. Die Veränderung entgeht ihm nicht. Sie ist verworren; sie lacht, wo nichts zu lachen ist, mitten in den Reisevorbereitungen, der Zug geht in einer halben Stunde, erinnert sie sich, daß sie ihre Armbanduhr in der Universitätsbibliothek liegengelassen hat, und bekommt beinahe einen Weinkrampf deswegen; mit aller Mühe beschwichtigt er sie, dringt in sie, ihm die Ursachen ihrer Verstörung mitzuteilen, sie weicht erschrocken aus, endlich, im Ton eines schweren Geständnisses, sagt sie, die Anfälle seien schuld. Seit einem Jahr sei sie verschont geblieben, jetzt fühle sie, daß sie wieder kämen, der beständige Druck im Gehirn verrate es ihr. Wahr und nicht wahr. Die Anfälle, die lernt er noch kennen, aber davon ist sie nicht so geschreckt, es ist was anderes, was ihr die Seele beengt, aber davon spricht sie nicht, das kann nicht über ihre Lippen. Er erfährt es auch lange nicht, sehr lange nicht, und als er es dann erfährt, kommt er nicht mehr dagegen auf, da ist er schon im feurigen Ofen drinnen. »Damals hätte ich vielleicht noch kämpfen können. Hätte mir einer gesagt: Wenn dir dein Leben lieb ist, fahr mit ihr fort, verbirg dich mit ihr, laß dich in deinem Land, in deiner Stadt, in deinem Haus nie wieder blicken, sei verschollen, sei tot für deine bisherige Welt, vielleicht hätt ich's getan, denn sie war mir ja schon zu der Zeit . . . Herrgott im Himmel, sie war mir ja schon . . . nein, das hat keine Worte, vielleicht hätte ich sie dazu bringen können, vielleicht, wer weiß, aber das alles geschah eben nicht, weil's nie geschieht, solcher Souffleur würde einem das Leben mitsamt dem Tod ersparen. Es muß aber gelebt werden, das ist es . . .« Er brach ab, trat zum Tisch, griff nach dem Steinkrug, goß das Wasserglas voll und trank gierig. Beide Arme auf die Tischplatte gestützt, den Kopf weit vorgeneigt, blieb er eine Weile stumm stehen.
»Also . . . Waremme«, sagte Herr von Andergast ruhig. – »Ja. Waremme.«
Nach einer Pause fragte Herr von Andergast (er mußte befürchten, daß Maurizius aus irgendeinem Grund, vielleicht weil seine innere Bewegung zu stark war, vielleicht weil sich ihm die Erinnerungsbilder verwischten, die Lust zu weiteren Enthüllungen verlor, und wollte ihn durch möglichst lebhafte und teilnahmsvolle Fragen über die unerwünschte Stockung hinwegbringen): »Er war also unerwarteterweise auf dem Schauplatz erschienen, wenn ich recht verstehe?« – »Sie verstehen recht.« – »Und die Jahn wußte es bereits, als Sie ihr die Sache mit dem Kind beichteten?« – »Ja. Da wußte sie schon, daß er sie aufgespürt hatte.« – »Wie . . . aufgespürt? Er hat sie also quasi verfolgt?« – »Wenn auch nicht verfolgt, so doch nach ihr gesucht. Daß sie sich bei uns aufhielt, konnte er leicht in Erfahrung bringen.« – »Gewiß. Aber welchen Grund hatte sie denn, sich vor ihm zu verbergen, sogar ihn zu fürchten?« – Maurizius schwieg. Herr von Andergast fuhr fort: »Schön, ich nehme an, sie hatte Grund, den allertriftigsten Grund, will ich annehmen, obwohl ich mir nichts dabei vorstellen kann; weshalb packte sie dann nicht die Gelegenheit beim Schopf, die Sie ihr boten? Weshalb kam sie zurück? Ein plausibler Vorwand, im Ausland zu bleiben, hätte sich doch unschwer finden lassen, sie hätte Ihnen zum Beispiel nur schreiben müssen, das Kind sei krank, oder Mrs. Caspot sei abwesend oder nicht verläßlich. Sie hätten sicher nichts dagegen eingewendet, wenn sie ihre Rückkehr ins Unbestimmte verschoben hätte. Damit hätte sie ja wieder Zeit gewinnen können, viel Zeit, und auf die unauffälligste Art.« – »Sehr scharfsinnig. Aber das konnte sie nicht.« – »Warum nicht?« – »Weil . . . weil sie verfallen war.« – Herr von Andergast sah ungläubig aus. »Verfallen? Ihm verfallen? Ach, gehn Sie doch zu. Das kommt doch nur in Boulevarddramen vor. Eines von der Sorte machte damals Furore, Sie erinnern sich vielleicht auch daran, Trilby hieß es, ein trauriger Schund, da kam ein gewisser Svengali vor, auch so ein Hexenmeister. Das sind Räubergeschichten, wissen Sie, ich wenigstens habe mich nie überzeugen können, daß im wirklichen Leben dergleichen passiert. Verfallen . . . erklären Sie das doch deutlicher.« – Maurizius schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. »Erklären läßt sich da nichts. Räubergeschichte? Mag sein. Ja, das Schauspiel Trilby hab ich mal gesehn. In solchem Kehricht liegen manchmal Zeitwahrheiten.« – »Auf welche Weise haben Sie denn Waremme kennengelernt? Durch die Jahn nicht, soviel ich aus den Akten weiß . . .« – »Nein, nicht durch Anna. Ein paar Tage vor ihrer Rückkehr begegnet mir Herr von Buchenau auf der Straße, hält mich an und sagt: Dr. Maurizius, heute müssen Sie zum Tee zu uns kommen, es wird ein Mensch da sein, so was haben Sie noch nicht erlebt, ein Polyglott, ein neuer Winckelmann, ein Poet, ein Kerl von Gottes Gnaden. Genau das waren seine Worte. Da ich Buchenau als fischkalten Skeptiker kannte, den noch niemand begeistert gesehen hatte, wurde ich neugierig und ging hin. Und wirklich, so was hatte ich noch nicht erlebt.« – »Von seiner Beziehung zur Jahn wußten Sie zu der Zeit noch nichts?« – »Nein. Am Sonntag darauf, es war der siebenundzwanzigste November, sah ich ihn mit Anna auf der Parade. Er begrüßte mich sehr empressiert, beide blieben stehen, und ich ging mit.« – »War es gleich von da an, daß sich der freundschaftliche Verkehr zu dreien entwickelte?« – »Ja.« – »So muß sich also die anfängliche Apprehension der Jahn, um das unverfänglichste Wort zu gebrauchen, nach und nach gelegt haben? Es war wohl mehr eine Laune, eine Hysterie?« – »Ach, du großer Gott«, murmelte Maurizius. Herr von Andergast blickte ihn gespannt an, Maurizius schob den Zeigefinger in den Halskragen, als fehle ihm die Luft zum Atmen. – »Oder hatten Sie den Eindruck, daß sich etwas . . . etwas Entscheidendes zwischen ihnen ereignet hatte?« – »Allerdings«, erwiderte Maurizius mit einer ausgebluteten Stimme, »allerdings. Etwas fürchterlich Entscheidendes.« Er hielt sich an der Tischplatte fest, Herr von Andergast wartete. Wunderlicherweise fühlte er sein Herz heftig schlagen. »Etwas . . .« fuhr Maurizius fort, »allerdings . . . es«, plötzlich wurde die Stimme kalt und fest: »Sie war nämlich von ihm vergewaltigt worden.« – Herr von Andergast sprang auf. »Na, hören Sie, Mann«, rief er und verlor zum erstenmal die Selbstbeherrschung, »das . . . das ist hirnrissig . . . das haben Sie halluziniert . . .« – »Sie war von ihm als Siebzehnjährige vergewaltigt worden«, sagte Maurizius steinern, mit den Fingern die Tischplatte so krampfhaft umklammernd, daß die Knöchel weiß wurden.
Aus dem Hof drang ein schnarrendes Kommando herauf. Das Hämmern, das in der letzten halben Stunde ausgesetzt hatte, begann von neuem. Unter dem lichtblauen Morgenhimmel zog ein Flug Schwalben vorüber. Herr von Andergast setzte sich wieder. Er suchte nach Worten. »Hier dürfte es sich wohl«, ließ er sich zögernd vernehmen, »um eine der üblichen Falschmeldungen handeln. Erfahrungsgemäß ist Vergewaltigung oder Notzucht äußerst selten. Der nachherige Seelenzustand des Opfers läßt in der Regel eine zur Anschuldigung berechtigende Täuschung über den vorhergehenden zu.« – Der juristische Exkurs lockte Maurizius nur ein schales Lächeln ab. »Sie irren«, antwortete er, »es war das vollendete Delikt.« Dann, nach einem Aufatmen: »Übrigens, es ist zu sonderbar, das alles . . .« – »Warum sonderbar? Was meinen Sie damit?« – »Ich meine folgendes: die Prozeßakten dürften ungefähr den Umfang eines mehrbändigen Historienwerkes haben, und der Mann, der sozusagen der verantwortliche Redakteur des ganzen Opus war, muß bei jedem nicht gerade obenauf liegenden Faktum seine Unkenntnis zugeben. In dieser Lage sind Sie doch, das können Sie doch nicht leugnen. Verzeihen Sie, ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber vielleicht ziehen Sie von selbst den Schluß daraus, wie es um das Gerichtsverfahren in Wahrheit steht. Die Waage der Justitia, mein Gott . . . es ist kein empfindliches Zünglein, es ist ein grober Hebebaum, der nur ausschlägt, wenn Zentnergewichte die Schale hinunterziehen. Verzeihen Sie, es geht mir nur so durch den Kopf.« – Herr von Andergast entschloß sich, den Ausfall zu ignorieren. »Ich begreife nur nicht, wie Sie davon erfahren haben konnten«, sagte er; »daß die Jahn selbst . . . nein, das läßt sich schwerlich annehmen, dazu braucht man keine besondere Kenntnis dieses komplizierten Charakters . . . Vielleicht gab es Mitwisser? Vielleicht hat man später, nach Abschluß des Prozesses, vielleicht hat man Ihnen da diese Monstrosität einzureden versucht, um . . . nun, um Sie von gewissen Rücksichten abzubringen . . . wie? Denken Sie doch mal nach.« Maurizius schüttelte den Kopf, das schale Lächeln zeigte sich wieder. »Ich habe es von Waremme selbst erfahren«, sagte er. – Herr von Andergast zuckte auf. »Wa–as? Von Waremme selbst? Demnach sprechen Sie von der allerletzten Zeit, und das Geständnis hatte den Zweck, Ihnen zu bedeuten: Gar zuviel verlierst du nicht an ihr, die Statue ist längst in den Kot geschleift . . .« – »Falsch geraten. Es war kein Geständnis.« – »Was denn?« – »Ich erfuhr es auch nicht in der allerletzten Zeit, sondern im zweiten Monat unserer Bekanntschaft, Anfang Januar.« – »Nun versteh ich überhaupt nichts mehr«, entschlüpfte es Herrn von Andergast. Maurizius betrachtete ihn mit seltsam boshaftem Blick. »Das glaub ich gern«, sagte er, griff wieder nach dem Wasserkrug, schenkte ein und leerte das Glas in einem Zug.
»Man kann wenig von alldem verstehen, wenn man den Einfluß nicht in Rechnung zieht, den damals Waremme auf mich hatte«, sprach er weiter, begab sich zu dem eisernen Bett und ließ sich mit Anzeichen von Erschöpfung an dessen unterem Ende nieder. »Es war eine komplette Hörigkeit. Ich sah mit seinen Augen, ich redete mit seinen Worten, ich urteilte wie er, ich trug mich und gab mich wie er. Meine Bildung war ja, an seiner gemessen, ein Haufen Häcksel. Ich hatte alles bloß erschmeckt und zusammengerafft oder für den Brotberuf gelernt. Damit war man ein armseliger Schlucker neben ihm. Andern ging's nicht anders. Alles lag auf Knien vor ihm. Solang man sich in demselben Raum mit ihm befand, war man vollkommen geblendet, vollkommen wehrlos. Einem so superioren Kopf schreibt man unwillkürlich auch eine sittliche Obergerichtsbarkeit zu. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist so. Menschen, die ihre Existenz auf Bildung und Wissen gestellt haben, für die ist das Sittliche nur die Protuberanz des geistigen Sonnenkörpers, wenn ich mich so ausdrücken darf. In jenen Jahren war das besonders stark ausgeprägt. Dadurch entstand um uns junge Leute dieser . . . dieser luftlose Raum, dieses Zerrbild des Unendlichen. Erst viel später, erst in diesem Haus hab ich mir das klargemacht. An Waremme sah ich, oder glaubt ich zu sehen, wohin man gelangen konnte, wenn man . . . na ja, ich hätte mir sagen müssen: Wenn man wer war, aber er ließ es einen nicht fühlen, daß man so wenig war, so ein verspieltes, ehrgeiziges, verschwindeltes Wenig, er demütigte einen nicht, dazu war er ein zu guter Kamerad, bei all seiner Glut und seinem Schwung, es war dieselbe hinreißende Leidenschaft, wenn er Sekt und Kaviar auftischen ließ, als wenn er einen mit Gedichten und Ideen bewirtete, unerschöpflich. Man konnte Nächte und Nächte in seiner Gesellschaft verbringen und wurde nicht müd, von Schlaf war keine Rede. Unfaßlich war der Mensch, ich bin überzeugt, daß solch ein Mensch nur alle hundert Jahre einmal erscheint, genau wie ein Kepler oder ein Schiller, und ich bin gleichzeitig überzeugt, daß er der Teufel war. Ja, schlechthin der Teufel. Stichhaltigere Gründe als ich kann keiner für diese Überzeugung haben. Das Böse, müssen Sie wissen, das wirklich Böse, ist ungeheuer selten auf der Welt, noch seltener als Kepler und Schiller, viel seltener. Nun, ich will Sie nicht langweilen. Sie werden sagen, das sind mystische Faseleien, und der Teufel ist lang genug die letzte Ausrede aller Verdammten gewesen. In dem Jahr, von dem ich spreche, lebte der Geheimrat Bringsmann noch, der Literarhistoriker, ein Mann, den wir alle verehrten, dort traf man jeden Freitag die beste Gesellschaft, und man konnte höchst angenehme und lehrreiche Stunden verbringen. Der Geheimrat war einer der größten Bewunderer Waremmes, in seinem Haus wurde er geradezu gefeiert und auf Händen getragen. Am ersten Freitag des neuen Jahres, es war der Dreikönigstag, hatten sich besonders viele Leute eingefunden, Waremme hatte dem Geheimrat versprochen, den Gorgias vorzulesen, dessen Übersetzung er eben beendigt hatte. Fast alle Professoren und ihre Damen waren gekommen, es war eine illustre Zuhörerschaft. Als ich mit Elli und Anna in den nicht sehr geräumigen Salon trat, hatte die Vorlesung bereits angefangen, und wir fanden sämtliche Stühle besetzt. Von der Vorlesung selbst ist eigentlich nichts zu berichten, nur fiel mir auf, daß sich Waremme, als wir kamen, ein paar Sekunden lang unterbrach und einen zornigen Blick zu uns herübersandte, offenbar, weil wir uns verspätet hatten. Er war in solchen Dingen ungemein pedantisch, das heißt, damals schrieb ich es seiner Pedanterie und seiner Herrschsucht zu, es war aber auch rasende Eitelkeit im Spiel, und man bekam es nachher immer zu fühlen, wenn man diese Eitelkeit gekränkt hatte. Ich weiß nicht mehr, ob meine Frau oder Anna an der Verspätung schuld war, Anna jedenfalls war so nervös darüber, daß sie auf der Stiege auf ihren Kleidsaum trat und dann noch extra eine Verzögerung herbeiführte, weil sie das losgerissene Stück mit Stecknadeln befestigen mußte. Dabei war sie totenbleich vor Aufregung, und ihre Hände zitterten. Waremme wurde mit Beifall und Anerkennung überschüttet, alle drängten sich um ihn, er schien sehr gehoben und noch gesprächiger und anregender als sonst. Ich merkte aber, daß er sowohl mich wie auch Anna geflissentlich schnitt, mit Elli stand er ja ohnehin nicht gut, ich dachte mir noch: das heißt die Rache für einen geringen Verstoß ein wenig zu weit treiben. Unter den Gästen befand sich auch ein junger Heidelberger Professor, der vor kurzem eine Schrift über die Shakespeareschen Sagenstoffe veröffentlicht hatte. Waremme kannte die Arbeit und hatte sich bei der Lektüre über einige unverständige Urteile geärgert; wir hatten erst ein paar Tage vorher darüber gesprochen, namentlich die abfälligen Äußerungen über ›Maß für Maß‹ hatten ihn verdrossen, denn dieses Stück hielt er ganz besonders hoch. Er ließ die Gelegenheit nicht vorübergehn, sich mit dem Verfasser auseinanderzusetzen, und trieb ihn schließlich dermaßen in die Enge, daß der arme Mann nichts mehr zu sagen wußte und vielleicht am liebsten um Absolution gebeten hätte. Die Debatte hatte allgemeine Aufmerksamkeit erregt, alle übrigen Unterhaltungen waren verstummt; berauscht von seinem Erfolg, von den bewundernden Blicken und von einer heimlichen Absicht noch, die ich aber erst später halb und halb durchschaute, riß er die Versammlung durch eine seiner berühmten Bravourleistungen hin. Nach einer scharmanten, kurzen Anrede nämlich trug er aus dem Gedächtnis die ganze Schlußszene des zweiten Aktes vor, das herrliche Gespräch zwischen Angelo und Isabella, wo er ihr das Leben ihres Bruders verspricht, wenn sie sich ihm hingibt. Es ist mir unvergeßlich, mit welchem Ausdruck, mit welcher Gewalt er das brachte und steigerte, wie ein großer Schauspieler, und doch nicht wie ein Schauspieler, wie einer, der es lebt, im Augenblick erlebt. Herr, glaubt mir das, eh gäb ich meinen Leib als meine Seele . . . und wie Angelo antwortet: Von Seele red ich nicht, erzwungene Sünden sind nur gezählt und nicht gerechnet. Und wie sie sagt, daß Frauen wie die Spiegel sind, drin sie sich beschauen und so leicht zerbrechen, wie sie Bilder geben. Und dann ihre leidenschaftliche Empörung: Kleine Ehre, um ihr viel zu traun, und niederträchtige Absicht . . . Täuschung, Täuschung, ich mach dich ruchbar, Angelo! Und wie er antwortet: Wer wird Euch glauben, Isabella? Mein lautrer Ruf, die Strenge meines Lebens, mein Zeugnis wider Euch, mein Rang im Staat wird die Bezichtigung so überwiegen, daß Ihr erstickt in Eurem eignen Wort und der Verleumdung Dunst. Und als er zu der Stelle kam . . . wie heißt es nur . . . seit zwanzig Jahren, seit jenem Tag hab ich die Worte nicht mehr gehört und nicht gelesen, aber keine Zeit kann das wieder auslöschen . . ., als er mit einer Wildheit und einem Flammentrotz, daß es uns alle überlief, zu der Stelle kam: Ich fing es an, und jetzt entzügl ich meiner Sinne Feuer, zeigt Euch gehorsam meiner heißen Lust . . . laßt alle Sprödigkeit und . . . falsche Scham oder so . . . die, was sie heischt, verbannt, und bietet Euern Körper meinem Wunsch . . ., da schrien plötzlich einige Damen im Hintergrund des Zimmers auf, man hörte das Geklirr von Tellern und Metall, Panik entstand, ich schob mich durch das Gedränge, ich gewahrte Anna, die auf den Teppich hingesunken war, im Fallen einen der Serviertische umgeworfen hatte und zwischen Porzellanscherben, verschüttetem Tee und verstreutem Backwerk dalag, mit den Gliedern zuckte und die Augen verdrehte. Das war der erste von den Anfällen, deren Zeuge ich wurde, der zweite ereignete sich sechs oder sieben Monate später in ihrer Wohnung nach dem Auftritt mit Elli. Wir schafften sie ins Schlafzimmer der Hausfrau, auch Waremme bemühte sich um sie, erst nach Stunden war sie so weit, daß man sie heimbringen konnte. Am Abend überredete mich Waremme, mit ihm in eine Weinstube zu gehen, ich ließ mich nicht lange bitten, mir war's, als ob da etwas aufzuklären wäre, was nur er aufklären konnte, denn ich fühlte einen rätselhaften Zusammenhang zwischen der Rezitation und dem, was mit Anna geschehen war. Er bestellte eine Flasche Champagner und trank sie allein aus, dann eine zweite, rauchte dabei eine Zigarette nach der andern; um mein verstörtes Gesicht und die gestammelten Vermutungen, die ich von Zeit zu Zeit von mir gab, kümmerte er sich nicht. Es war schon Mitternacht vorüber, wir waren die letzten Gäste in dem Lokal, da sagt er plötzlich, indem er sich mit der Faust an die Stirn hämmert: Barbar, der ich bin, jammervoller Dummkopf, daran nicht zu denken, es mußte ja wie ein heimtückischer Schlag aus dem Hinterhalt auf sie wirken, wo hatt ich um Himmels willen den Verstand, daß mir das passieren konnte! Ich mache große Augen. Etwas dämmert mir. Ich wußte, daß Anna eine krankhafte Antipathie gegen alles Theater, sogar gegen alle schauspielerischen Darbietungen hatte, aber es konnte doch unmöglich zu einer solchen Nervenkatastrophe führen, wenn im geselligen Kreis ein Waremme eine wunderbare dramatische Szene vortrug. Ich bemerke etwas dem Ähnliches zu Waremme, er packt mich über den Tisch hinüber beim Handgelenk, sein Gesicht wird käseweiß, er flüstert: bei Gott, nein, aber es gibt da eine schreckliche Ähnlichkeit, das Leben hat sich den infernalischen Spaß erlaubt, ihr einen Angelo in den Weg zu stellen, der sich nicht mit der frechen Forderung begnügte, sondern seinen Wunsch gleich in die Tat umsetzte, Sie begreifen . . . Ob ich begriff! Ich begriff so gut, daß ich von dem Augenblick nur noch das begriff, nur noch das im Hirn hielt, so unausdenklich es war; ich hatte das Gefühl . . . aber wozu sprech ich da von Gefühlen, die Welt war auf einmal eine Jauchegrube. Waremme sah aus wie ein Gespenst, er sagte, ich solle mit ihm nach Hause kommen, er könne hier nicht reden, er könne nicht allein sein, die Geschichte habe ihn zu stark hergenommen, alles sei wieder in Fluß geraten, er müsse sich einem Freunde mitteilen, zu lange habe er's für sich behalten, es zersprenge ihm die Seele. Und dergleichen mehr. Ich begleitete ihn also in seine Wohnung, er tischte Schnäpse auf, trank eine Viertelflasche Kognak und schilderte unter unablässigem Auf- und Abmarschieren die näheren Umstände, wobei er immer nur von Angelo und Isabella sprach. Ich hatte von der Liebhaberaufführung in Köln gehört, bei der sich Anna hervorgetan, ich wußte aber nicht, daß Waremme dabei als künstlerischer Berater mitgewirkt hatte; er erwähnte dies nur flüchtig, als sei es von keinem Belang. Man hatte ein altfranzösisches Schäferstück mit alter Musik einstudiert. Anna gab die Rolle eines als Pierrot verkleideten Edelfräuleins. Nach der Vorstellung ließ sich nun dieser Mensch . . . dieser mysteriöse Angelo bei ihr in der Garderobe melden, in einer Sache von unaufschiebbarer Wichtigkeit, ließ er sagen. Sie empfing ihn. Es war schon ziemlich spät. Anna hatte nach ihrer Gewohnheit sehr lang zum Umkleiden gebraucht, die Theaterarbeiter hatten sich entfernt, die Damen und Herren, die im Stück mitgespielt, waren gleichfalls weggegangen, das Dienstmädchen, das Anna nach Hause begleiten sollte, wartete vor der Bühnentüre, sie war also mit diesem Angelo, der ihr freilich nicht ganz fremd war, wie ich nach allem schließen konnte, in dem verödeten Haus allein, zwischen einem öden Hof und einem verödeten Korridor . . . Es fiel mir auf, wie meisterhaft er trotz seiner leidenschaftlichen Gemütswallung die Örtlichkeit, die Situation zeichnete, beinahe mit literarischer Finesse . . . warum der Besucher gerade diese Zeit für eine so niederschmetternde Kunde gewählt hatte, weiß ich nicht, es war ja alles so sonderbar zweideutig, genug, er brachte die Nachricht, daß ihr Bruder Erich in einem Gefecht in Südwestafrika gefallen war, das Telegramm war am nämlichen Tag eingetroffen. Diesen Bruder hatte sie vor allen Menschen am meisten geliebt. Vielleicht war er der einzige Mensch, den sie überhaupt geliebt hatte. Es war eine sehr tiefe und ein klein wenig dunkle Beziehung. Es läßt sich denken, wie eine so unerwartete Mitteilung auf sie wirkte. Ob er, dieser Angelo, speziell mit der Botschaft beauftragt war und was ihn dazu legitimierte, darüber äußerte sich Waremme nicht, nur daß er sie zu trösten, zu beschwichtigen getrachtet. Es bleibt nicht bei den Tröstungen, er wirft sozusagen die Maske ab, er wird stürmisch, eine so verführerische Gelegenheit findet sich nicht so bald wieder, ihre Weigerung achtet er für nichts, ihr Widerstand reizt ihn zum äußersten, und so fällt sie ihm zum Opfer. Während Waremme erzählt, ist mir zumut, als müßt ich mich auf der Stelle aufmachen und die ganze Erde nach der Bestie absuchen, um sie totzuschlagen, er aber hat sich in solchen Schmerz hineingesteigert, daß er, kaum zu Ende, sich auf den Lehnstuhl wirft und in ein schauerlich heulendes Weinen ausbricht. Nachdem er sich beruhigt hat, verläßt er das Zimmer, ich höre ihn in seinem Badezimmer hantieren; er hat sich unter die Dusche gestellt und kommt nach einer Viertelstunde in einem eleganten Schlafanzug zurück. Merkwürdig. Auch daß er sich plötzlich gefaßt und überlegen zeigt und mich aufmerksam macht, die geringste Achtlosigkeit, die ich Anna gegenüber beginge, könne eine schwere Schädigung ihrer Gesundheit im Gefolge haben. Außer ihm sei ich jetzt der einzige Mitwisser des traurigen Geheimnisses. Das binde und verpflichte uns gegenseitig. Ihm habe sich Anna in einem Moment letzter Verzweiflung anvertraut, wo sie bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte, es sei ihm gelungen, sie aufzurichten, gewisse moralische Vorurteile und Velleitäten in ihr zu zerstreuen, der Missetäter hatte sich inzwischen aus dem Staub gemacht, hundert Gründe, die ihn verhinderten, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Objektiv betrachtet sei es ja nicht viel anders gewesen, als wenn ein Mensch von einem toll gewordenen Gaul niedergestoßen und blutend von der Unfallstätte getragen wird, subjektiv freilich, hier schien ihn die Erinnerung von neuem zu überwältigen, und seine Stimme vibrierte, subjektiv, das heiße, wenn man die verletzliche Zartheit eines hohen Phantasie- und Herzensbildes dagegenhalte, könne man sich so leicht nicht abfinden, ihm jedenfalls liege es wie tragische Last auf der Seele, und nur, weil er sich so sehr als Freund fühle und weil er wisse, daß einzig Freundschaft der Boden sei, in dem die beschädigte Wurzel frische Säfte gewinnen könne, nur darum lasse er nicht von ihr. Das klang eigentümlich tendenziös oder warnend. Zum Schluß umfing er mich liebreich und sagte, so töricht sei er nicht, mich zu einem Schweigegelöbnis zu zwingen, dazu halte er zuviel von meiner Vernunft und Delikatesse, Ehrenwort und dergleichen, das gelte ihm nichts, der Zwang ergebe sich aus der Situation, die mache jedes plumpe Zupacken zum Frevel, die Fragilität dieser äußerst wunderbaren Frauensperson verlange Zurückhaltung, schon um ihretwillen müßten wir uns als Verbündete betrachten, zu ihrem Schutz Verbündete. Ich reichte ihm die Hand, ich war nicht fähig zu sprechen, ich entsinne mich nicht mehr, wie ich auf die Straße und nach Hause kam, mein Hirn war wie ausgebrannt . . .«