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In der Kanzlei befand sich ein junger Staatsanwalt, der für einige Wochen im Gefängnisdienst tätig war. Er hatte die Aufgabe übernommen, den Sträfling Maurizius von der auf dem Gnadenweg verfügten bedingungsweisen Entlassung zu verständigen. »Nehmen Sie an?« fragte der Staatsanwalt, nicht ohne leise Neugier, die sich aber auf den Mann, nicht auf die Antwort bezog. – Maurizius, strammstehend, schluckte Luft. »Welche Bedingung hat man im Auge?« – »Das ist nicht ausdrücklich vermerkt.« – »So könnte mich ein beliebiger Vorwand wieder zum Gefangenen machen?« – »Ich denke, es ist eine Formalität. Wenn Sie sich entsprechend führen . . .« – »Sie wollen sagen, wenn ich den Gerichten keine Unannehmlichkeiten bereite.« – »Ich habe in der Hinsicht keine Instruktionen.« – »Auf welche Frist erstreckt sich die Bedingung?« – »Auf anderthalb Jahre. Genau bezeichnet: ein Jahr fünf Monate. Bis zur Vollendung des zwanzigsten Strafjahres.« – »Es kann also geschehen, wenn ich das Mißfallen der Staatsbehörden errege, daß ich diese siebzehn Monate nachsitzen muß?« – »Theoretisch, ja. Aber wie gesagt, es ist eine Formalität.« – »Und wenn ich mich jetzt weigere, erfolgt dann in siebzehn Monaten die Entlassung bedingungslos?« – »Ohne Zweifel«, erwiderte der junge Staatsanwalt verlegen und etwas ärgerlich. Bei dem Wort von der Weigerung blickte der Vorsteher Pauli verdutzt auf, der hinter ihm stehende Inspektor schüttelte bedächtig den Kopf. »Man will also eine Handhabe gegen mich behalten?« murmelte Maurizius. – »Nehmen Sie an oder nicht?« fragte der Staatsanwalt scharf und deutete auf ein Dokument, das zur Unterschrift auf dem Tisch bereit lag. Den aufgeregten Schreiber hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er erhob sich und starrte Maurizius gierig an. Dieser rührte sich nicht. Seine Backenknochen wurden ziegelrot. Über die eine Schulter lief ein Beben. Er öffnete den Mund, aber er konnte nicht sprechen. Alle sahen ihn an. Auf einmal machte er eine Bewegung, als wolle er hinstürzen. Er hatte aber nur zum Tisch treten wollen, an dessen Kante er sich festhielt. Der Schreiber reichte ihm die Feder. Maurizius tauchte sie ins Tintenfaß, betrachtete sie einen Augenblick verstört, sodann schrieb er seinen Namen auf das Papier, dorthin, wo der Schreiber den Zeigefinger streckte. Ein Atemlaut aus vier Kehlen strich wie leiser Wind durch den Raum. »Morgen früh um acht können Sie abreisen«, sagte der Vorsteher, »um sieben wird Sie der Kammeraufseher zum Einkleiden holen.« – »Ich bitte um die Erlaubnis, meinem Vater telegraphieren zu dürfen«, würgte Maurizius hervor. – Der Staatsanwalt und der Vorsteher tauschten einen bedenklichen Blick. »Es wäre uns lieber, Sie unterließen es«, sagte der Staatsanwalt, »wir möchten alles überflüssige Aufsehen vermeiden.« – »Aber ich werde mich draußen nicht zurechtfinden . . .« – Der Staatsanwalt lächelte. »Das gibt sich. Wenn Sie mal auf dem Bahnhof sind, du lieber Gott . . .« – »Sie können ja Ihrem Vater depeschieren, daß Sie morgen im Lauf des Tages bei ihm sein werden«, schlug Pauli in einer Regung von Mitleid vor, »wir möchten nur nicht, daß er hier erscheint und daß dadurch die Stunde Ihrer Entlassung bekannt wird. Die Zeitungen machen dann sofort eine Sensation daraus.« – Maurizius erwiderte: »Dann verzichte ich lieber.« Der Wärter, der ihn in die Zelle zurückbrachte, der mit dem Trinkergesicht, fragte gnädig: »Na, wie is Ihnen denn zumut?« Als ihn Maurizius entgeistert anstarrte, räusperte er sich und trottete davon.
Um acht Uhr früh . . . Noch fünfzehn Stunden. Wie soll man die durchleben? Er schaut die Mauer an, er schaut die schwarze Ofenröhre an. Er macht ein paar Schritte und sagt sich vor, daß währenddessen Zeit vergangen ist. Er befühlt mit den Händen seine Bartstoppeln und denkt darüber nach, ob er sich heute noch rasieren lassen könnte. Man würde es sicher bewilligen. Es verginge Zeit. Er will es überlegen. Damit vergeht wieder Zeit. Er faßt den Tisch an und trägt ihn zwei Meter nach links. Stellt den Stuhl davor. Warum er es tut, ist ihm unklar. Er setzt sich, schlägt die Rothenburger Chronik auf und liest: 1659, 4. April haben die Burger auf 2 Scheiben in der alten Burg geschossen sind mit Trommel und Pfeifen hinausgezogen eine Corporalschaft. Er rechnet: 1659, das sind zweihundertachtundsechzig Jahre, also werden vierzehn dreiviertel Stunden zu überstehen sein. Wenn man die Lider zudrückt und die Daumen fest an die Schläfen preßt, kommt ein Moment, wo man plötzlich den schnellen Gang der Stunden spürt, er hat das oft erfahren. Heute versagt das Mittel gänzlich. Was ist Geduld? Das Verebben des Blutes. Vergessen, daß man will, das ist Geduld. Unglücklicher Mensch, du willst also wieder? Er steht auf und schleppt den Tisch ans Fenster, dann den Stuhl, nimmt wieder Platz, liest: 29. Juli hat man eine frembte Magd, bey 20 Jahr alt, sampt ihrer Mutter (weil die Tochter auß dem Geheiß ihrer Mutter H. Dan. Rückern, Spital-Caplern, bei dem sie ¾ Jahr gedient, bey 100 Rthl. an Geld gestohlen) an Pranger gestellt und durch den Henker zur Stadt außgeführt und des Lands verwiesen, die Tochter hat erbärmlich geschrieen und geweinet, das schnöde Geld hat wieder hingewollt, wo es ist herkommen, auß dem Krieg, Rücker war Feldprediger bey Bernhard von Weimar. – Entlegene Zeit, verrolltes Rad, längstverseufzter Menschenschmerz.
Er schlägt das Buch zu. Ihm graut plötzlich davor, in die Vergangenheit zu blicken, Vergangenes zu erfahren. Alles Gewesene ist Kerker, das Kommende ist grenzenloser Raum. Aber wo beginnt das Kommende? Erst wenn vierzehneinviertel Stunden wie schwerbeladne Packpferde vorübergekeucht sind, oder jetzt? mit jedem einzelnen Jetzt? Und dieses Jetzt: das, was zwischen Herzschlag und Herzschlag liegt, oder zwischen Sekunde und Sekunde, sechsundachtzigtausendvierhundert Stationen der Ödigkeit und der Verzweiflung jeden Tag. Nun gibt es ja wieder ein Morgen. Er flüstert das Wort mit zaudernden Lippen: morgen. Es ist wie der weißglühende Lichtpunkt, wenn man durch einen Tunnel fährt, langsam, unsäglich langsam breitet er sich aus, dehnt sich der Kreis, mildert sich die Glut, langsam, ganz langsam, trotz der rasenden Geschwindigkeit des Zuges. An das Morgen kettet sich ein andres Morgen, ein drittes, viertes, fünftes, jedes Jetzt wird ein Damals, jedes Ist ein War. Er geht herum, er geht herum. Dreizehneinhalb Stunden. Er geht herum, er geht herum, zwölfeinviertel Stunden. Er zählt seine Schritte. In der grauen Dämmerluft der Zelle hängt ein Gebilde, sieht aus wie eine Blume aus purpurnem Stein. Das Morgen. Kristallnes Morgen. Das unerwartbare, unsinnig beglückende, von unsinniger Bangigkeit umschauerte Morgen . . . Wege. Straßen. Tore. Hinschreiten. Der Himmel: eine unbeschnittene Wölbung. Türme. Bäume. Gärten. Eine Frau . . . Er schlägt die Hände zusammen, Schrecken rinnt durch alle Glieder: eine Frau . . .
Elfeinhalb Stunden. Er wirft sich auf das eiserne Bett und gibt sich der qualvollen Süßigkeit eines Traumes hin, den er mit offenen Augen träumt.
Es gibt, so traumdichtet er, ein Herz in der Welt, das sich nach ihm sehnt. Hildegard, unter fremden Menschen aufgewachsen, erwartet den Tag der Vereinigung mit dem unbekannten Vater. Bis zu ihrem fünfzehnten Jahr hat man seinen Namen nie vor ihr genannt. In ihrem zwölften Jahr hat sie ein scheu geführtes Gespräch zwischen der Pflegemutter und einem würdigen älteren Herrn belauscht, der dem Kind sein Interesse zugewendet hat, seitdem ahnt sie alles. An ihrem fünfzehnten Geburtstag teilt ihr die Pflegemutter, was sie notwendig wissen muß, schonend mit. Sie ist sofort von seiner Schuldlosigkeit überzeugt. Sie spricht darüber nicht, sie hütet sich auch ihrerseits, seiner zu erwähnen, aber in ihrer großen, starken Seele schlägt der Glaube immer tiefere Wurzel, daß er eines Tages gerechtfertigt vor der Welt dastehn wird, und der noch festere Glaube, dem gegenüber alles andere zur Unwichtigkeit herabsinkt, daß er zu ihr kommen und sie zu sich nehmen wird. Sie wird ihn glücklich machen. Sie wird die Erinnerung an alles Erlittene in ihm auslöschen. Es ist, als wische man mit einem nassen Schwamm die Schrift von einer Schiefertafel. Die Pläne, die sie für ihr eigenes Leben faßt, haben keinen andern Inhalt als wie sie ihn für seine Leiden entschädigen kann. Sie wartet auf ihn, sie wartet mit der ganzen Sehnsucht eines kindlichen Gemüts. Sie wartet auf seine Auferstehung . . . Unaufhaltsam spinnt das Hirn den Traum weiter, wirft alle Erfahrung, alle Wahrscheinlichkeit, alle Wirklichkeit über Bord, und was aus dem Urgrund emporsteigt, ist das Einfältige des Kindermenschen, Knabenwünsche und Knabenerwartungen am Tag vor der Weihnachtsbescherung . . . Sie ist jung, keine Kopfhängerin, es wäre verfehlt von ihr, sich in eine Pflegerinnenrolle hineinzuleben, um seinetwillen auf das Glück von Liebe und Ehe zu verzichten, sie wird einen Gatten wählen, der bereit ist, sich gemeinsam mit ihr der Aufgabe zu widmen, dem »Auferstandenen« Heimat und Heim zu schaffen, es werden Kinder da sein, süße blonde Enkelchen, heitere Menschen bevölkern das Haus, am Abend sitzt man zu gemütlicher Unterhaltung gesellt in freundlichen Räumen . . .
Aber wie wird die erste Begegnung sein? Das bisher schattenhaft Hypothetische des Traumgedichts festigt sich zu klar umrissenem Geschehen. Mit souveräner Unbekümmertheit korrigiert die Phantasie die anfängliche Vorstellung, daß Hildegard erst später, vielleicht ein Jahr nach der Vereinigung mit dem Vater, heiraten wird. Aus irgendeinem Grunde, der durchaus gutzuheißen ist, der aber im Dunkel bleibt, entschließt sie sich schon jetzt zu der Verbindung, und der Zufall will es (oder ist eine geheimnisvoll feierliche Absicht dabei im Spiel?), daß die Hochzeit wenige Tage nach seiner Entlassung stattfindet. Ja, es scheint fast, als ob die Entlassung auf solche Weise festlich begangen werden soll. Er kann aber zur Trauung in der Kirche nicht mehr zurechtkommen. Als er das Haus betritt, wo ihn das junge Paar erwartet, sind die Gäste vollzählig versammelt. Sein Erscheinen verursacht beträchtliches Aufsehen. Diener wispern und eilen hin und her. Man nimmt ihm Mantel und Hut ab, weist ihm den Weg, zwei Flügeltüren öffnen sich. Ein mit Herren und Damen gefüllter Saal. Alle Gesichter wenden sich ihm zu. Staunen, Ergriffenheit, Mitleid, Respekt ist in allen Mienen zu lesen. Eine Musikkapelle, die bis zu dem Augenblick gespielt hat, bricht ab, Schweigen entsteht wie auf dem Theater, wenn ein verloren Geglaubter nach vielen Jahren und schweren Schicksalen in den Kreis der Seinen, der Freunde zurückkehrt. Ein Greis mit langem, gelblichem Bart, er hat eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wärter Klakusch, sieht aber sehr aristokratisch aus, geht auf ihn zu, verbeugt sich vor ihm und reicht ihm die Hand. Maurizius bringt kein Wort über die Lippen, er ist zu bewegt. Sein Blick wandert suchend umher: wo ist sie? wo ist Hildegard? Da hört er einen leisen Aufschrei vom Ende des Saals, der ganzen Hochzeitsgesellschaft bemächtigt sich freudige Erregung, inmitten der Gäste bildet sich eine Gasse, eine Gestalt im weißen Brautkleid, mit wehendem Schleier und ausgestreckten Armen, fliegt jubelnd auf ihn zu, er hält sie, er preßt sie an sich, den warmen liebenden Leib fest an seine Brust, das beglückte Gesicht fest an seine Wange . . .Jetzt kann noch alles gut werden. Man kann vergessen. Man ist verwandelt und erneut . . .
Sekunde um Sekunde fällt lautlos in die Ewigkeit wie gelockerte Steine in einen Abgrund. Sie haben achtzehn Jahre und sieben Monate das gleiche getan und liegen in der unfaßbaren, finstern Tiefe unten, ein Haufen Schutt. Der Tag bricht an.
Er verabschiedet sich vom Vorsteher und vom Inspektor, sie reichen ihm die Hand, wünschen ihm Glück auf den Weg, das eiserne Tor fällt hinter ihm ins Schloß, er steht allein in der Sonne. Die Straße krümmt sich nach abwärts, die Füße suchen gerade Fläche, den Ausgleich herzustellen kostet eine gewisse Überlegung. Nachdem er zwanzig Schritte gegangen ist, vermag er sich nur mit Mühe davon zu überzeugen, daß er nicht umkehren muß, das sitzt in den Beinen, der Zwang, umzukehren, er hat dann noch tagelang dagegen anzukämpfen. Es ist zunächst erschreckend, daß man weitergehen kann, weitergehen soll. Nicht minder erschreckend als der dem Körper verfügbare Raum. Als sei man in die Luft geschleudert worden und schlage verzweifelt mit Armen und Beinen um sich. Es kommt zuviel Atem in die Brust. Alles ist ein wenig schwer, das Licht, der Himmel, die ungewohnten Kleider, das harte Leder der Schuhe. Man geht mit gehackten Hampelmann-Schritten. Nach einer kleinen Weile ist man müde, bleibt stehen, schaut sich um, fühlt sich hilflos. Leute starren befremdet. Man lächelt. Sie wenden sich ab, ohne das Lächeln zu erwidern. Man muß eine neutrale Miene für sie finden. Bitte, geh ich hier recht zur Station? Erste Gasse links, zweite rechts. Danke. Aber warum umkehren? Geradeaus, Mensch, geradeaus. Kinder! Da stehen Kinder. Er bleibt gleichfalls stehen, erbleichend. Sie sind sehr klein, diese Kinder. Auffallend zwergenhaft. Und da . . . zwei Frauen. Er muß sich an eine Auslage anlehnen und greift mit den Händen rückwärts, beinahe hätte er die Scheibe zertrümmert. Der Besitzer tritt heraus, faucht ihn zornig an. Überdemütig entschuldigt er sich. Einen Moment lang verspürt er das unsinnige Verlangen, die Frauen anzufassen, ihre Brüste zu betasten, doch rafft er sich zusammen, sein Gesicht wird ernst, fast finster. Von da an, automatisch, wird dieses ernste, fast finstere Gesicht seine Maske, je undurchdringlicher, je heftiger die Eindrücke der sichtbaren Welt auf ihn zustürzen. So geht er durch die Menge, so steht er auf dem Bahnsteig, so lauscht er dem verworrenen Durcheinander der Geräusche, so sitzt er im Abteil des Eisenbahnzugs, mit dem ernsten, fast finsteren, unnahbaren, unbeweglichen Gesicht, die Augen halb geschlossen, die Lippen etwas nach innen gekniffen. Jedesmal, wenn er eine Dame mit kurzem Rock und hellen Seidenstrümpfen sieht, bedeckt sich seine Stirn mit schwacher Röte, und die Nasenflügel beben. Er kennt das nicht. Damals war das nicht. Alles ist anders geworden. Alles ist verwandelt. Sprechen die Menschen noch dieselbe Sprache? Er horcht. Es sind dieselben Worte, jedoch will ihm scheinen, daß sie einen Tonfall und Rhythmus haben, der seinem Ohr nicht mehr vertraut ist. Die Möglichkeit, daß ein Zeitabschnitt wie der, der ihn dem Zusammenhang entrissen hat, nicht nur von Aug und Ohr, sondern auch vom gesamten Organismus als nicht mehr zu überbrückende Kluft empfunden wird, fängt an ihn zu beschäftigen und zu beunruhigen. Ein Gefühl des Mißbehagens stellt sich ein und steigert sich bis zu dem kalter Unwohnlichkeit.
In Hanau verläßt er den Zug. Eine Weile treibt er sich in den Straßen herum. Der wolkenlose Himmel glitzert wie flüssige Bleimasse, in der Sonne zu gehen ist außerordentlich erschöpfend, das geile Licht blendet die Augen. Vor dem Laden eines Optikers bleibt er stehen, zögert, geht hinein, verlangt eine Brille. Man legt ihm sechs oder acht mit verschiedenen Gläsern vor. Er wählt eine mit dunklen Gläsern. Sie hat eine Metallfassung. Der Verkäufer empfiehlt Hornfassung, es sei die Mode, sehe eleganter aus. Gut, nickt er und nimmt die Hornbrille, setzt sie gleich auf. Er fühlt sich mit der Brille sicherer, geborgener, das Unbehagen läßt nach. Er schaut in den Spiegel. Lange kann er den Blick nicht von dem blassen Gesicht mit der dunklen Brille abwenden.
Eine Viertelstunde später steht er vor dem Haus in der Marktgasse. Er sucht nach der Wohnung. Eine alte Frau weist ihn zur Holzstiege im Hof. Bangigkeit und Furcht machen das Erklimmen der Treppe zur schweren Arbeit. Das Wort Vater ist etwas Verklungenes. Überbleibsel aus einer Vorwelt. Er empfindet weder Freude noch Erwartung, nur die Furcht davor, daß er Gefühle zeigen soll, die er nicht hat. Er fragt sich, ob diese Gattung von Gefühlen nicht überhaupt in seiner Brust erstorben ist, aber indem er an Hildegard denkt, verneint er die Frage mit leidenschaftlichem Ungestüm. Aber ist »Hildegard« vielleicht nicht bloß eine Idee? Eine von ihm selbst erschaffene leere Form? Figur, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die er sich nur in einer Illusion von Zugehörigkeit einbildet? Zum erstenmal regt sich solcher Zweifel, er stößt ihn entsetzt von sich, als hätte er etwas Heiliges besudelt. (Woher aber eine Zuversicht, für die er nicht die geringste tatsächliche Unterlage besitzt, da er sich doch im Gegenteil sagen muß, daß man alles aufgeboten haben wird, das Kind von jeder äußeren und inneren Verbindung mit ihm abzuschneiden, was bei der ganzen Lage der Dinge auch keine besonderen Schwierigkeiten gehabt haben kann? Die Lösung des Rätsels liegt dort, wo die Menschennatur aufhört, berechenbar zu sein, und von dunklen Urkräften umschlungen in ein Leben hinter dem Leben flüchtet.)
Er zieht an der Klingel. Eine steinerne Minute verstreicht. Im Hof miaut kläglich eine Katze. Schritte hinter der Tür. Brummige Frage, die Tür wird geöffnet, Vater und Sohn stehen voreinander. Der Alte starrt, erstarrt. Sein Gesicht wird zinnoberrot, die Gestalt schwankt nach vorne, die Arme langen nach dem Türpfosten. »Hab's schon gewußt«, bringt er röchelnd hervor, » . . . in der Zeitung gelesen . . . dachte nicht, daß du heut schon . . .« Das übrige erstickt in einem Schluchzen. Es klingt wie heiserer, angestrengter Husten, er bedeckt auch das Gesicht nicht dabei, aus den astigmatischen Augen sickert das Wasser. Leonhart Maurizius bleibt seltsam kühl. Seine Züge bewahren den strengen, beinahe finstern Ausdruck. Warum bin ich nicht gerührt? denkt er, während er den Alten am Arm ins Zimmer geleitet. Er sieht sich um. Die Traurigkeit und Ärmlichkeit der Behausung jagt ihm unbestimmten Schrecken ein. Er hat noch nicht über seine künftigen Lebensbedingungen nachgedacht. Er hat den Vater keineswegs für reich gehalten, er hat zudem im Zuchthaus gehört, daß nicht nur wohlhabende, sondern auch mittelmäßig begüterte Leute in den letzten Jahren durch Entwertung des Geldes völlig verarmt sind; es hat den Anschein, als habe dieses Schicksal auch den Alten getroffen, sonst hätte er kaum seine Zuflucht in einem derartigen Loch suchen müssen. Damit schieben sich, in fliegenden Überlegungen, Existenzprobleme in den Vordergrund, die eine lastende Bedrückung in ihm zu rinnender Angst verflüssigen, es bedeutet, auf Menschen angewiesen sein, sich an Menschen wenden, es heißt, Rede stehen müssen, Gnaden hinnehmen müssen, die zerteilten kleinen Gnaden nach der schändlichen großen, der er die Freiheit verdankt, diesen unsäglich ersehnten Zustand, den er fortwährend an sich wahrzunehmen und zu verwirklichen bemüht ist, ohne über ein dumpfes Wissen von ihm hinauszugelangen, nicht anders als wie man im Schlaf von dem Raum weiß, in dem man schläft. Was er während der Sträflingshaft in all den Jahren an Arbeitslohn erspart, hatte er bis auf fünfzig Mark in großmütiger Wallung dem Gefangenenhilfsdienst überwiesen, eine geringfügige Summe zwar, doch über den Anfang hätte sie ihm geholfen, hier scheint die blanke Not zu walten.
Die Sorge ist grundlos, wie er schon in der nächsten Viertelstunde erfährt. Lange betrachtet ihn der Alte in verlorener Anbetung. Die ledernen Wangen unter den grauen Backenbartbüscheln zucken immer noch, die rechte Hand hält den steifen linken Arm gepackt, zu sprechen vermag er nicht. Leonharts Blick gleitet zum Tisch hinüber, dort liegt eine Unmenge von Papieren, daneben ist die Zeitung aufgeschlagen, auf der inneren Seite prahlt fettgedruckt das Telegramm, das der Welt seine Entlassung verkündigt. Quer darüber steht in ungelenken, großen Buchstaben mit Blaustift geschrieben: Gelobt sei Jesus Christus. Der Blaustift liegt noch auf dem Zeitungsblatt. Das ergreift ihn spontan, eigentlich weit mehr der Blaustift als die vier Worte, es ist etwas Sonderbares um die Dinge, wenn sie in ihrer Ruhe noch einen Abglanz von beseeltem Menschentum an sich haben. Jetzt faßt sich der Alte, er deutet auf die Papiere und sagt so trocken wie möglich: »Das ist dein, das alles ist dein.« Auf diesen Augenblick hat er gewartet seit Jahren und Jahren, von ihm hat er geträumt, nun steht er da wie ein schüchterner Liebhaber, der sich vor Ungeduld verzehrt, der Geliebten das kostbare Geschenk in die Hände zu legen, das für ihn Inbegriff und Ausdruck seiner Liebe ist. Sofort gerät er in eine hastige, beinahe humorige Geschäftigkeit, blättert, erklärt, nennt Ziffern, da ist der Kontoauszug, da sind die monatlichen Bankausweise, da die Zinsenverrechnungen, da ist das Testament, alles vorbereitet, seit heute mittag in tadellose Ordnung gebracht. Leonhart schaut und schaut. »Und du?« fragt er mit einer beredten Gebärde in das Zimmer hinein. Der Alte lacht wie ein beim Mogeln ertappter Kartenspieler. Räuspert sich, hustet, spuckt, kann kein Ende finden mit diebischem Gemecker. Leonhart senkt den Kopf. Von draußen vernimmt er zwischen Weibergekreisch und Autosignalen den langgezogenen Ton eines Waldhorns. Er läßt sich auf den Stuhl nieder, sichtlich müde, und stößt die Frage hervor: »Wo ist Hildegard? Weißt du es?« Der Alte verbirgt seine Enttäuschung, daß Leonhart über das angesammelte Vermögen, denn ein Vermögen ist es doch, so wenig Freude bezeigt, aber da er die Frage beantworten und Leonhart hieraus entnehmen kann, daß er auch dies vorbedacht, somit in jeder Hinsicht für ihn tätig gewesen ist, erfüllt ihn neuerdings der Stolz, wichtig nickend gibt er Auskunft: Das Mädchen sei bis zum Juni vorigen Jahres in einem belgischen Pensionat gewesen, dann habe sie mit mehreren Freundinnen eine Reise nach Paris und Südfrankreich gemacht, seinen Nachforschungen zufolge sei sie musikalisch ungewöhnlich begabt, solle deshalb auch zur Sängerin ausgebildet werden, seit Mitte Mai befinde sie sich auf einem Gut, das einer verheirateten Nichte der Mrs. Caspot gehöre, Kruse hießen die Leute, in Kaiserswerth am Rhein, da solle sie bis zum Herbst bleiben und dann zu einer Gesangslehrerin nach Florenz gehen. Leonhart versinkt in Schweigen. »Ich fahre morgen hin«, sagt er plötzlich. – »Morgen schon?« fragt der Alte, »muß es gleich morgen sein? Wart doch noch.« – »Es muß morgen sein.« Er steht auf. Er ist ruhlos, nervös. Das trübe Halblicht in der Stube irritiert ihn. Er möchte fort. Er deutet an, daß er sich ausstatten muß, es fehlt ihm an allem, er hat nicht einmal ein Hemd außer dem, das er am Leib trägt. Der Alte kichert wieder humorig. Bereits erledigt. Er ist vormittags in einem Frankfurter Warenhaus gewesen. Hat eingekauft. Alles erledigt. Tipptopp. Er stapft zur Tür, die in seine Schlafkammer führt, eine wahrhafte Höhle. Dort liegen auf Bett und Stühlen ausgebreitet: Anzüge, Mäntel, alle Sorten Leibwäsche, Schuhe, Krawatten, Hüte. Er streckt den steifen Arm aus, triumphierend. Es ist der zweite, hohe Glücksmoment des Tages, der ihn zum schenkenden Gott macht. Jetzt faßt Leonhart seine Hand und hält sie eine Weile in der seinen. »Schau dir die Sachen an«, drängt der Alte, »wenn was fehlt, schaffen wir's nach, wenn was nicht paßt, tauschen wir's um.« Er zieht die Pfeife aus der Rocktasche, macht mehrere Versuche, sie zu stopfen, endlich gelingt es. Seine Beine zittern. »Schau nur nach«, wiederholt er und stößt den Sohn mit dem Zeigefinger gegen die Rippen, »will mich derweil 'n bißchen hinsetzen.« Während er sich schwerfällig in die Ecke des Kanapees fallen läßt, geht Leonhart in die Schlafstube, mehr um dem Alten den Gefallen zu tun, als weil es ihn lockt. Doch die Betrachtung all dieser Dinge löst eine Spannung in ihm, es sind Mittel, zwischen sich und der Welt einen Abstand herzustellen, den er braucht. Da sind sogar seidene Hemden und seidene Strümpfe, er befühlt den Stoff, sein Blick fällt auf den Schrank, dessen beide Türen offen stehen, drinnen hängen Anzüge, die er vor neunzehn Jahren getragen, der Frack, der Pelz, ein brauner Sportanzug, es ist wie in einem Haus, wo Reliquien aufbewahrt werden, die an einen Verstorbenen erinnern sollen, in unmotivierter Gedankenverkettung sieht er plötzlich jene Dame mit dem weißen Federhut vor sich, die er am letzten Verhandlungstag in einer der vorderen Zuhörerreihen bemerkt hat und deren Gesicht ihm durch einen gewissen sinnlichen Schmerz aufgefallen ist. Nicht ein einziges Mal in neunzehn Jahren hat er ihrer gedacht oder sie vor sich gesehen, jetzt ist das Bild fast überlebendig, was er als sinnlichen Schmerz daran empfindet, macht es ganz besonders deutlich, er gewahrt auch die kleine Narbe auf der Oberlippe und die Kamee an ihrem Halse. Es ist ihm, als müsse er sofort auf die Straße hinunter, wenn er das Haus verläßt, muß er ihr begegnen, er tritt wieder in die Wohnstube hinaus, will dem Vater sagen, daß er doch noch fortgehn will, aber der alte Mann kauert friedlich im Kanapeewinkel, die ausgegangene Pfeife in der Hand, das Kinn auf die Brust herabgesunken. Die grauen Backenbartbüschel sehen aus wie aufgeklebtes Moos, die Beule auf dem Kopf gleicht einer kleinen Glühbirne. Er schläft. Aber so still. Leonhart Maurizius beugt sich zu ihm herab, um nach dem Atem zu horchen, etwas in der Haltung scheint ihm nicht geheuer. Nein, es ist kein Schlaf. Der alte Mann ist tot.
Durch das Ereignis zu äußerer Betätigung gezwungen, wird Maurizius seiner Unbeholfenheit und dessen, was als Hemmung zwischen ihm und den Menschen liegt, drückend inne. Gespräch mit dem Arzt, amtliche Todesanzeige, Transport der Leiche, Verhandlung wegen des Grabes, Bestattungszeremonien, Beschaffung von Geld und alle damit verbundenen Förmlichkeiten, Besuche beim Notar, Besprechung mit dem Hauseigentümer, Erklärungen, Abgabe von Unterschriften, lauter Leidens- und Qualwege. Dazu die Zeitungsleute, die ihn aufgespürt haben, vor denen er flieht und sich verbirgt. Erst am sechsten Tag kann er abreisen. Er übernachtet in Köln. Um elf Uhr vormittags ist er in Kaiserswerth und fragt nach der Familie Kruse. Er wird zu einem Landhaus dicht am Rheinufer gewiesen. Er fährt hin, läutet an einem hohen Gartentor. Ein ältliche Frau erscheint: er möchte Frau Kruse sprechen. In welcher Angelegenheit? In einer privaten, persönlichen. Wen sie melden dürfe? Kunsthändler Markmann aus Frankfurt. Er ist so totenbleich, sein Wesen so verstört, daß die Person ihn argwöhnisch mustert. Sie verschwindet. Er wartet. Seine Kehle ist sandtrocken, er muß fortwährend Schluckbewegungen machen. Eine riesige Dogge trabt lässig über den Rasen, stutzt, schaut ihn durchdringend an, knurrt, verbleibt in Wächterstellung. Die Frau kommt zurück, bedauert, die Dame ist ausgegangen, er möge sein Anliegen schriftlich vorbringen. Er wendet ein, daß er abreisen muß. Achselzucken. Er fragt, mit törichter Dringlichkeit, die Verdacht erwecken muß, ob die Dame nach Tisch anzutreffen ist, was ihn herführe, sei von Wichtigkeit. Unbestimmte Antwort. Schon zum Gehen entschlossen, kehrt er noch einmal um, und wider Willen, obwohl er im selben Augenblick erkennt, daß es eine Dummheit ist, durch die er seine Absicht entschleiert, fragt er: »Wohnt Fräulein Körner hier?« Die Frau gerät in Verlegenheit, betrachtet ihn noch forschender als früher, entgegnet, das könne sie nicht sagen, und schlägt das Tor zu. Es ist klar, daß sie bestimmten Weisungen folgt. Es unterliegt also auch keinem Zweifel, daß man seinen Besuch erwartet und Vorkehrungen dagegen getroffen hat. Ihn dünkt, als werde er von einem Fenster des Hauses aus beobachtet. Er sieht, wie sich ein Vorhang bewegt. Er hat es dunkel geahnt, er hat die Ahnung in sich nicht nähren wollen, er hat die Gedanken rundherum davon abgehalten wie Schmeißfliegen, die um etwas Süßes schwärmen, jetzt wird es langsam Gewißheit: man will ihm den Weg zu seinem Kind verrammeln. Und wenn einmal ein solcher Plan besteht, wenn man den Mut, die Unmenschlichkeit aufgebracht hat, ihn überhaupt ins Auge zu fassen, dann ist auch zu erwarten, daß man ihn mit unerbittlicher Konsequenz durchführen wird. Man läßt sich da nicht erst auf Versuche und Verhandlungen ein, sondern man geht aufs Ganze, und was an der Pforte so schnöd begonnen, kann keinen versöhnlichen Fortgang hoffen lassen. Was soll er tun? was soll er um Gottes willen tun? Weiß Hildegard, daß er wieder der Welt zurückgegeben ist? Weiß sie überhaupt von seiner Existenz? Vielleicht hält sie ihn für tot. Vielleicht ist ihr nicht einmal sein Name bekannt. Was hat ihn berechtigt, an sie als an ein ihm gehörendes Wesen zu denken? Besitzt er überhaupt irgendwelche Rechte auf sie, außer denen, die er sich in wirklichkeitsentfremdeten Träumen angemaßt? Wenn sie jedoch von ihm weiß und mit Gewalt verhindert wird, ihn zu sehen? Eine Maßregel, die allerdings auf die Dauer erfolglos bliebe. Was soll er tun, was soll er tun? Er geht in der Allee gegenüber der Villa auf und ab, Gedanken, schauriger und tobender, als sie je sein Hirn zermartert haben, kann er nicht beschwichtigen, nicht wegtun. Nach zwei Stunden fährt er nach Düsseldorf zurück. In seinem Hotel angelangt, telephoniert er. Hier Villa Kruse. – Hier Viktor Markmann, wünscht die Dame des Hauses zu sprechen. – Sie ist am Apparat, worum handelt es sich? – Es handelt sich um eine Zusammenkunft mit Fräulein Körner. – Fräulein Körner ist verreist. – Verreist? Seit wann? Wohin? – Darüber können wir keine Auskunft geben. – Ich habe eine Botschaft an sie, eine dringende, unaufschiebbare. – Von wem? – Von einem ihr sehr nahestehenden Menschen. – Wir wissen von keinem Menschen, der ihr nahesteht und geheimnisvolle Botschaften zu senden hat. Vielleicht erklären Sie sich deutlicher. – Es ist unmöglich hier. – Tut mir leid, aber . . . nennen Sie den Namen des Betreffenden. – Pause. – Endlich, halberstickten Tons: Maurizius. – Darf ich Ihre Adresse erfahren? – Parkhotel. – Sie werden in einer Stunde einen Brief bekommen. – Er wartet in der Halle. Genau eine Stunde später händigt man ihm einen Brief ein. Er lautet: »In Voraussicht dessen, was eingetreten ist, haben wir Hildegard vor drei Tagen zu guten Freunden ins Ausland geschickt. Wir hätten es weder vor uns selbst, noch, bei ihrem zarten Naturell und ihrem sehr empfindlichen Gemütsleben, vor ihr verantworten können, wenn wir sie einer Störung und fortlaufenden Beunruhigung ausgesetzt hätten, die wahrscheinlich ihre ganze Zukunft gefährdet, wenn nicht vernichtet hätte. Das muß der Mann am ehesten begreifen, in dessen Auftrag Sie sich an uns wenden, und es muß das Gesetz seines Verhaltens sein. Stets war es die Hauptsorge der Erzieher des lieben Kindes, es nicht mit einem Wissen zu beschweren, das ihm das Leben von vornherein verdunkelt hätte. Diese Pflicht haben wir mitübernommen und müssen ihr auch weiterhin gehorchen. Sie ist für alle Beteiligten eine Selbstverständlichkeit. Kruse und Frau.« Maurizius erhebt sich wie aus einem Loch, zerknüllt das Papier in der Faust, fällt ohnmächtig nieder. Einige Gäste bemühen sich um ihn, als man ihn in sein Zimmer schaffen will, erlangt er das Bewußtsein wieder. Daß ihm das Bewußtsein nicht dient und ihn nicht freut, ist eine Sache für sich
Der Vorsatz Anna Jahn, verehelichte Duvernon, zu sehen und ein Zusammensein mit ihr herbeizuführen, konnte nur in einem Geist entstehen, dessen Verhältnis zur Umwelt der natürlichen Maße beraubt ist. Augenloses Verlangen, sich an Gewesenes anzuklammern; verflackernde Hoffnung, von dort aus einen Weg zu Hildegard zu finden, eine Vertröstung, eine Frist, nicht das zugeschlagene Tor, nicht die endgültige Absage, nicht das »Pack dich, Gezeichneter«, sondern vielleicht ein Menschenwort, ein zur Besinnung gekommenes Herz, ein Empfängliches und Empfangendes, Hinüberweisen ins Lichtere des Daseins, so weit verirrte er sich noch immer, der unheilbare »Romantiker«, in die verklärten Sphären, wo Ausgleich ist und Geschwisterschaft der Seelen. Und dann dieses noch; es kann und darf nicht sein, wie es ist, und deshalb ist es nicht. Das, was ist, leugnen, es nicht sehen wollen, das andere erzwingen und ertrotzen, wider alle Vernunft, im Sturmlauf gegen die Mauer. Das vergewaltigende Sinnliche, das keine Wahrheit annimmt, kein Andersgewordensein erkennt und Möglichkeiten vortäuscht, wo es keine mehr gibt. Solche müssen erfahren, schwer erfahren, wieder und wieder durch die Erfahrung aufs Haupt geschlagen werden. So reiste er am nächsten Tag nach Echternach bei Trier, hart an der luxemburgischen Grenze, nahm in einem geringen Gasthof Quartier und schrieb an Anna Duvernon, unter dem Namen Markmann, aber so, daß sie wissen mußte, wer sich darunter verbarg, er sei für einige Stunden hier und müsse sie sprechen, sie möge Ort und Zeit bestimmen. Die Duvernonschen Ziegeleiwerke lagen eine Viertelstunde vom Ort, das Wohnhaus befand sich in geringer Entfernung davon, wie man ihm mitgeteilt hatte, er schickte den Brief durch einen Boten hin, dem er einschärfte, ihn der Dame selbst zu übergeben. Das war um drei Uhr. Um halb fünf fuhr ein kleiner Opelwagen vor dem Gasthof vor, er sah vom Fenster aus, wie eine Frau ausstieg und rasch ins Haus eilte. Er blieb wie gelähmt am Fenster stehen, und als es an der Tür pochte, gehorchten die Lippen nicht, um herein zu sagen. Da war die Besucherin schon im Zimmer, gehetzt atmend, fahlen Gesichts, mit dunklen stumpfen Augen unruhig um sich schauend. Sie trug ein blaues Kleid, gelben Staubmantel, kleinen gelben Hut, darüber einen blauen Schleier, also das Allgemeinste nur, von Duft und Glanz war nichts mehr da, nichts von dem Seltenen, Einmaligen, das spannt und quält, beschäftigt und beglückt, eben weil es selten, weil es einmalig ist, alles ein wenig verfettet oder ein wenig vertrocknet oder in den Linien da und dort verschoben, ein wenig nur, doch eben das Wenige bedeutete Zerstörung. Wie die Haut welk geworden, war auch in der Haltung und im Blick was Welkes, das unvergleichlich Fragile der Neunzehnjährigen hatte sich in etwas kränklich Gebrechliches verwandelt, das seelenhaft Leidende in das Wohlhäbig-Wehleidige, das in gegebenen, bürgerlichen Sicherheiten gedeiht. Äußerer Anschein, der schon alles verriet, alles Folgende fürchten ließ, jede Unterhaltung überflüssig machte, aber Maurizius wünschte nicht zu sehen, was er doch mit unheimlicher Schärfe wahrnahm; er hatte sich langsam umgedreht und stand, mit hängenden Armen, erschüttert da. Jetzt weinen können, dachte er, jetzt hinknien und weinen. Alles sagen, alles fragen, alles vergessen und weinen, weinen, weinen.
Jedoch Anna Duvernon war so weit von solchen Regungen entfernt wie davon, sie zu begreifen. Ihre Stimme war so leise, daß es fast nur ein Zischen war, als sie sagte: »Sie können natürlich nicht bleiben, ich bin hergekommen, weil . . . es muß ja verhindert werden, daß . . . Ein Glück, daß Sie nicht den richtigen Namen . . . auch so ist es noch riskant genug. Wie konnten Sie nur . . . Ich bin derartigen Aufregungen nicht gewachsen. Von der Entlassung habe ich in der Zeitung gelesen. Daß Sie hierher . . . das konnte ich nicht voraussehen. Was . . . handelt es sich um was Bestimmtes? Sagen Sie es rasch, ich muß gleich wieder fort. Unten hab ich gesagt, es ist ein Geschäftsfreund meines Mannes, mit dem ich etwas verabreden soll.« – Maurizius nahm die Brille ab und blickte die Frau schweigend an. Sie senkte die Augen, legte die Stirn in harte Falten. »Es hat ja keinen Zweck«, murmelte sie unwillig und etwas bedrückt. – »Es scheint so«, gab er zu, ohne den strengen Blick von ihr abzulassen, »es hat vielleicht keinen Zweck.« – »Ich habe mit der Vergangenheit gebrochen«, fuhr sie in ihrer zischelnden Manier fort und spähte bisweilen ängstlich nach den Türen links und rechts. »Sie wissen nicht . . . Noch vor ein paar Jahren . . . aber wozu in den entsetzlichen Erinnerungen wühlen. Das Gebet hat mir geholfen. Man muß die moralische Kraft haben, sich von der Vergangenheit zu befreien. Und dann . . . ich habe Kinder . . . das Leben . . . die Pflicht . . . zuoberst steht die Pflicht . . . wenn man das einmal erkannt hat . . . Sie verstehen . . . – »Ja. Gewiß«, sagte Maurizius. Was ist das? grübelte er betroffen, was redet sie? hör ich das alles wirklich oder bild ich mir's nur ein? Was für ein Mensch ist denn das? »Ich darf Sie wohl nicht bitten, einige Minuten Platz zu nehmen?« fragte er scheu, »es wäre da einiges . . .« – »O Gott, nein«, wehrte sie erschrocken ab, doch sichtlich durch seinen Ton und sein ganzes Wesen von einer Angst befreit, die bis jetzt auf ihr gelastet und die hektische Fahrigkeit in ihr erzeugt hatte. Der Krampf ließ nach, obschon ihr das Beisammensein mit dem Mann noch immer äußerst peinigend war. Offenbar hatte sie eine stürmische Auseinandersetzung erwartet, Ergüsse, Bedrängung, Inquisition, Forderung, Friedensbruch, Gefährdung aller Bestände, die Angst hatte sie hergejagt, das Fürchterliche abzuwenden war mehr eine entsetzte Zwangsbewegung gewesen als Wille oder Plan, nun sah sie mit dem weiblichen Instinkt, der eine schützende Position schneller, gewahrt und ausnützt als eine bedrohliche verteidigt, daß sie von diesem Menschen nichts zu fürchten hatte, das machte sie sofort in einer dünkelhaften Weise sicher. Da war keine Gewissensunruhe, keine aufrüttelnde Erinnerung mehr, höchstens ein vages Flattern zerrissener Bilder, irgend etwas Zerstampftes und Verwestes, von jeder intelligiblen Kraft entleert, von keinem Blutstrom mehr getragen, gedächtnislos, als ob wer Fremdes erlebt hätte, aufbewahrt im Magazin entlegener Jahre, nicht mehr wahr, nicht mehr da, verkalkt, gestockt, geronnen. »Es ist wegen Hildegard«, begann Maurizius, »ich wollte Sie um Rat und Beistand ersuchen . . . ich war dort in Kaiserswerth bei jenen Leuten . . . man hat mich nicht einmal vorgelassen . . . das Kind ist fortgeschafft worden . . .« Anna Duvernon hob die Schultern in die Höhe: eine Gebärde, als hätte er hunderttausend Mark von ihr verlangt. »Damit hab ich absolut nichts zu tun«, fiel sie ihm hastig ins Wort. – »Ich könnte mit allem andern abschließen, der eine Anspruch bleibt offen«, bemerkte er finster. – »Sie wenden sich aber an die falsche Adresse. Darüber hat der Vormund zu bestimmen. Ich habe mich seit Jahren zurückgezogen. Die Verantwortung war zu groß.« – Maurizius hatte während der Strafzeit die Gewohnheit angenommen, den, der zu ihm sprach, aufmerksam zu betrachten und, wenn der andere zu sprechen aufgehört hatte, ihn noch sekundenlang stumm anzuschauen, bevor er seinerseits mit melancholisch abirrendem Blick und einer gewissen Bemühung, als müßte er sich durch eine Wand hindurch verständlich machen, zu reden anfing. »Verantwortungen werden immer dann zu groß, wenn man sich ihnen entziehen will«, gab er zurück. – Das Aphorisma ging über die Fassungsgabe der Dame Duvernon. Sie hörte nicht die Bitterkeit heraus, sondern nur die Resignation. Plötzlich deutete sie alles, was er sagte, zum Guten, d. h. zu ihren Gunsten aus, vielleicht weil sie bis jetzt so leichtes Spiel gehabt und weil ihr der Mensch so entlegen schien wie seine Sache. Denn es war in keiner Weise mehr »ihre Sache«, nichts, was mit ihm zusammenhing, sie wunderte sich sogar, daß es einmal, in ferner Zeit, »ihre Sache« gewesen war. Es sah aus, als begreife er ihren Standpunkt, infolgedessen fand sie ihr Bleiben nicht länger für notwendig und suchte nach einem schicklichen Vorwand, sich zu verabschieden. Es war kein Wagnis mehr. Was wie schweres Unheil begonnen und sie aus dick umkrusteter Ruhe aufgescheucht, endete zu ihrer unsäglichen Erleichterung wie ein harmloser Zwischenfall, das erfüllte sie mit einer Art von Dankbarkeit, ein Prozeß, so primitiv wie die Habsucht einer alten Bäuerin oder wie die Berechnungen eines abergläubischen Spielers. »Man muß das Leben nehmen, wie es ist«, sagte sie mit einem Anflug von Wärme, der allerdings zu schwach war, um die trostlose Plattheit des Gemeinplatzes zu mildern, »man kämpft eben, nicht wahr? mit Selbstvertrauen besiegt man die Schwierigkeiten. Selbstvertrauen und Gottvertrauen, beides ist nötig. Wir haben ja auch schlimme Zeiten hinter uns. Wer diesen Krieg nicht durchgemacht hat . . . aber sehen Sie, so furchtbar es war, mir hat es geholfen. Es hat mich moralisch gefestigt. Nicht bloß moralisch, auch für die Nerven war es heilsam. Eine richtige Kur. Früher war ich so anfällig . . . Ein unbedachtes Wort von irgendeinem Menschen konnte wie Gift auf mich wirken. Jetzt . . . Es ist nämlich das: wenn das ganze Volk, wenn die Menschheit leidet, vergißt der einzelne seine egoistischen Interessen, man wird demütiger, kleiner, nicht wahr?« – »Natürlich. Das versteh ich ausgezeichnet.« (Was ist das? grübelte Maurizius in hohler Verwunderung, was spricht sie da? Was ist das denn? Was will sie denn? Warum spricht sie überhaupt? Was soll denn das alles?) – »Nun muß ich gehen. Habe mich ohnehin schon verspätet. Wir haben Gäste . . . Leben Sie wohl.« Zögerndes Heben der Hand. Maurizius schien es nicht zu sehen. Er verbeugte sich pagodenhaft. Worauf Anna Duvernon hinzufügen zu sollen glaubte: »Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und Schöne.« – Das war nun doch wie ein Stoß ins Genick. Alles Gute und Schöne, prächtig, prächtig, wo befinden wir uns eigentlich, hochgesinnte Gönnerin? Seine Stimme sagte in tonlosem Hohn: »Ich danke Ihnen.« Da war sie fort.
Alleingeblieben drückt Maurizius beide Hände mit verflochtenen Fingern an die Stirn. So steht er eine Weile starr. Barmherziger Himmel, fährt es ihm durch den Kopf, sie ist ja dumm! schlechtweg dumm. Abgründig dumm. Schönheit, Seele (oder was Seele zu sein schien), Anmut, Reiz, dämonische Verdunkelung, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, alles nur mit dünnem Pinsel aufgetragene Deckfarbe, die Jahre haben sie weggewaschen und den kahlen Urgrund bloßgelegt, die Natur hat ihre eigene Lüge enthüllt, nichts von Herz, keine Schicksalsdurchdringung, kein Strahl aus höherer Welt, nur Papeterie, nur Attrappe, nur dumm, dumm wie die Stehngebliebenen, wie die vielen Gestorbenen des Lebens, die den eigenen Geistes- und Herzenstod nicht erkennen, dumm wie ein Gespenst . . . Und weswegen alles! deswegen! barmherziger Gott, deswegen Opferung und Martyrium, deswegen Marter und Zermalmung, deswegen neunzehn Jahre Grab . . . Er legt sich bäuchlings auf den Bretterboden, ganz flach, auch das Gesicht preßt er hin. Über der linken Braue spürt er kühl den Kopf eines Nagels. Es ist eine Wollust, den kühlen eisernen Nagel zu fühlen, es wäre angenehm, wenn sich der Nagel im Holz umdrehte und sich mit der Spitze in sein Gehirn bohrte.
Die Zeit, wohltätig verdeckend oder grausam entblößend, hat eine souveräne Manier, was dem menschlichen Auge als unlösliche Verstrickung und geheimnisvolle Tiefe erscheint, in der Kümmerlichkeit der richtigen Maße und Bezüge aufzuzeigen. Die ursprüngliche Simplizität der Dinge wird, bei Klärung des trüben Gegenwartswesens, nur von der Simplizität der Schicksale übertroffen. Daran ändert auch die Wortzauberei eines Waremme nichts. Die sich vor Gott zu rechtfertigen oder ihre verworrenen Wege zu kommentieren wähnen, indem sie das Einfache der Welt in ein grandioses Mysterium umdichten, die sind die wahren Verdammten, denn sie können vor sich selber nicht gerettet werden. Im Fall der Anna Jahn-Duvernon ist freilich eines in Betracht zu ziehen. In ihr war offenbar das Wunder der Jugend zu einer solchen Herrlichkeit erblüht, daß es wie ein großes Kunstwerk vielerlei Deutungen zuließ, vielerlei Gestaltungen annahm und für jeden wirklich zu sein schien, was er darin suchte oder hineinlegte. Dann übten die Jahre ihre Zerstörung aus, was übrigblieb, war die Wunderlosigkeit, Asche in gewissem Sinn, Gestorbenes, doch ein Weib, nicht schlechter als tausend andre und wohl auch nicht dümmer als tausend andre.
Er bricht wieder auf von Echternach. Er nimmt am Bahnhofsschalter eine Karte nach Mainz. Er übernachtet dort und fährt am andern Tag nach Basel. Er wohnt in einem Zimmer, das Ausblick auf den Rhein gewährt. Der Strom erscheint ihm nun wie ein Unglückszeuge, der ihn beharrlich verfolgt; er packt eilig und fährt nach Zürich, Er kauft Bücher in einer Buchhandlung, ist aber zu unstet, sie zu lesen. Er mietet ein Motorboot und fährt auf den See, es ist ihm zu eng, zu klein, zu gedrängt. Er spricht mit dem Portier, mit dem Zimmermädchen, mit dem Kellner, mit irgendeinem Gast, das heißt er drischt leeres Stroh. Er sieht interessant aus, hat gute Haltung, ist gut angezogen, man schließt auf einen Gelehrten, einen Schriftsteller, man beachtet ihn, manche suchen Anknüpfung, aber das ernste, fast finstere Gesicht mit der dunklen Brille bildet ein unübersteigliches Hindernis. Am liebsten spricht er mit Kindern, auf öffentlichen Plätzen, wo Kinder spielen, setzt er sich bisweilen auf eine Bank und wartet, bis eines sich ihm nähert, dann redet er es in zärtlichem Ton und mit leiser Stimme an, stellt Fragen, streicht ihm vorsichtig über die Haare, aber in der Regel nimmt er dann wahr, daß die Erwachsenen mißtrauisch werden, da erhebt er sich und geht davon. In manchen Stunden wird ihm der Lärm der Stadt zur Tortur, in manchen wieder beruhigt es ihn, wenn er halb getrieben sich durch Menschenmassen bewegt. Stampfen und Rattern von Maschinen erträgt er leichter als Glockengeläut, Stimmengetöse zieht er dem Klang einer einzelnen Stimme vor. Die einzelne Stimme zwingt ihn zur Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit spannt nach und nach seine Kopfnerven zum Zerreißen. Des Nachts liegt er meistens schlaflos, doch sind es nicht böse Gedanken, die ihn wachhalten, es ist ein Zustand Sich-selbst-nicht-Spürens, Sich-selbst-nicht-Besitzens, der ihn in eine lethargische Verwunderung versetzt, so daß er das Gefühl hat, das sei bereits Schlaf und zum richtigen Schlaf dürfe es nicht kommen, damit er sich nicht noch mehr entgleite. Er befühlt dann Teile seines Körpers mit der Hand, Schenkel, Arme, Hüften, und das tut ihm gut, so ist er wenigstens dieser Teile gewiß. Die Betten sind ihm zu weich, er kann sich lange nicht an das flaumige Versinken gewöhnen, häufig schlägt er das Lager auf dem Sofa auf und hüllt sich in die Reisedecke, um Rauhes am Leib zu spüren. Manchmal denkt er an Arbeit, aber wozu soll er arbeiten, was könnte es fruchten. Es ist alles so folgenlos. Es ist keine Verbindung da. Er gehört nicht dazu. Nicht nur folgenlos ist, was er tut und beginnt, sondern zugleich in einer aufreibenden Weise widerruflich. Ob er links oder rechts in eine Straße biegt, ob er englische oder ägyptische Zigaretten kauft, ob er anordnet, daß man um sechs oder um acht Uhr früh an seine Tür klopfe, ob er gelbe oder schwarze Schuhe anzieht, ob er dreihundert oder tausend Franken auf der Bank verlangt: es ist sofort in der aufreibendsten Weise widerruflich. Er könnte immer auch das andere tun, das Gegenteil, das Nebendran. Nichts ist wichtig. Alles kann im selben Augenblick zurückgenommen werden, ohne Bedauern, ohne Folge. Nun verhält es sich ja so, daß die Gnade, überhaupt die Möglichkeit des Lebens in der Widerruflichkeit besteht. Ihm aber wurde, in der Blüte der Existenz, das Gefühl der Widerruflichkeit geraubt, unwiderruflich ist er verdammt worden, unwiderruflich hat er die Strafe verbüßt, unwiderruflich soll er weiterleben, das ist aber nicht möglich; unter dem Druck des Unwiderruflichen kann man nicht leben, daher erzwingt sein Wille die kleinen, gemeinen, zerstückten, das Lebensgesetz aufhebenden Widerruflichkeiten, rachsüchtige Reaktion der Natur. So wird er ein Losgelassener, ein Gesetzloser, vogelfrei vor dem eigenen Bewußtsein. Er grübelt unablässig darüber nach, wie man dem ein Ende machen kann, es ist ein Zwiespalt, der sich an der Grenze des Wahnsinns bewegt, bisweilen blitzt ihm ein rettender Gedanke auf, er glaubt einen Weg zu sehen, dorthin, wo er nicht widerrufen kann und wo die schicksalhafte Unwiderruflichkeit zu einer schicksallosen wird. Es wäre ein Weg, zum Gesetz zurückzufinden, zum höchsten, das keinen Sterblichen verstößt, dazu müßte er schon ein Ahasver sein.
Er packt wieder, reist ins Gebirge. Wandert über Pässe, durch Täler, nächtigt in weltverlorenen Gasthäusern, abseits vom Schwarm der Bummler und Touristen. Keine Landschaft spricht zu ihm, keine Wiese duftet ihm, Wald, Schneegipfel, nichts zwingt den Blick empor. Er fühlt nicht Schauer, nicht Freude, nicht Neugier, nicht Lockung. Er setzt sich wieder in die Eisenbahn. Fährt, fährt, fährt, logiert in irgendeinem Hotel, packt abends aus, packt morgens ein, fährt, fährt, fährt. Eine Stadt. Wieder eine Stadt. Dome, Brunnen, Denkmäler, Säulenhallen. Es macht keinen Eindruck. Es könnte ein mäßig interessantes Bilderbuch sein. Die Säle im Pitti, Tizian und Tintoretto in Venedig, die Pinakotheken in München. Nichts. Einstmals hat es ihn hingerissen. Es war Farbe, Seele, Kern des Daseins. Die Apostel von Dürer: langweilige alte Männer. Das Figürchen in Kassel, nach dem er sich gesehnt: eine mit Schimmel überzogene Bronze. Nichts regt sich in ihm. Die Dinge, die Werke, die Welt: gemordet. Alles rückt beständig weiter weg. Er gewahrt das Gruppenhafte der Menschen, das Schichten- und Massenhafte. Einrichtungen. Die unheimliche Distanz befähigt ihn, Wandlungen festzustellen, die dem Einbezogenen entgehen. Nicht bloß die Sprache hat sich verändert, ihre Modulation, die Bedeutung der Worte, auch die Gesichter haben nicht mehr denselben Ausdruck wie vor zwanzig Jahren; der Unzufriedene zeigt eine andere Unzufriedenheit, der Erstaunte ein anderes Erstaunen, der Zornige einen andern Zorn. Die Augen sind starrer, aufgerissener, schleierloser, das Lachen klingt krampfiger, der Gang ist zielgieriger, die Haltung der meisten Männer hat etwas vom Jäger mit der Flinte im Anschlag. So war es damals nicht. Das Ganze ist nach einer andern Richtung gelenkt, gehorcht neuen Bindungs- und Bewegungsgesetzen. Sie haben eine andere Haut, andern Wuchs, anderes Tempo, Mittel der Verständigung, die er noch nicht kennt, Arten der Liebe und Arten des Hasses, durch die er sich ausgeschieden findet wie ein Fremdkörper, Tänze und Lustbarkeiten, bei denen ihm manchmal zumut ist wie Gulliver in Brobdignag. Die alten Leute dauern ihn, die jungen flößen ihm einen sonderbaren Schrecken ein; als kleiner Bub hat er ein ähnliches Gefühl gehabt, als er zum erstenmal in einer öffentlichen Badeanstalt war und sich nackt ausziehen sollte. Gulliver in Brobdignag, oder besser noch Bergmann, der im Schacht vergessen worden ist und fünfhundert Jahre in Nacht und Starrkrampf zugebracht hat. Wenn er wieder an die Oberwelt gelangt, ist er unter Millionen Menschen beispiellos allein und weiß von Himmel, Luft und Erde die Vokabeln nicht mehr.
Eines Tages fährt er von Hannover nach Berlin. Sein Gegenüber im Abteil ist eine sympathisch aussehende Dame von etwa dreißig Jahren. Sie ist geschmackvoll gekleidet, ihr Betragen ist zurückhaltend, sie hat eigentümlich weiche Züge, eigentümlich verhängten Blick, ein eigentümlich spöttisches, dabei gütiges Lächeln um den weichen Mund. Am anziehendsten sind ihm ihre Hände, die sich fortwährend ganz langsam bewegen, bald indem sie sich falten, bald indem sie aneinander entlanggleiten, bald indem sie eine Zigarette anzünden, bald indem sie, bei gekreuzten Armen, auf den Ellbogen ruhen. Darin verkündet sich etwas wie Wunsch und Lebenslast. Es sind weiche, weiße Hände mit geraden zugespitzten Fingern. Er kann nicht aufhören, sie zu betrachten, zu studieren, und die junge Frau lächelt ihr spöttisch-gütiges Lächeln. Sie geraten ins Gespräch. Obwohl keinerlei Mitteilung von irgendwelchem Belang geschieht, spüren beide an den Worten des andern sofort die Einsamkeit heraus, in der sich jeder von ihnen befindet. Die Frau scheint aber stärker berührt, Ahnung des Ungeheuern geht ihr auf, ohne Zweifel besitzt sie tiefen Instinkt. Sie wird schweigsamer, je näher man ans Ziel kommt, eine schwermütige Lässigkeit drückt sich in ihrem Wesen aus, so als ob sie schlaftrunken mit halbem Leib über einem Abgrund hinge und es ihr ziemlich gleichgültig, vielleicht sogar angenehm wäre, wenn sie hinunterstürzte. Maurizius versteht, mehr mit den Sinnen als mit dem Kopf, sein Herz schwillt in den Hals empor, auch er wird wortkarg, sie schauen einander an, stumm, groß, scheu, lange, lange Minuten, sein Gesicht ist totenbleich, ihres hat den schmerzlich-gespannten Ernst eines Menschen, der noch nicht erraten kann, auch nicht wissen will, ob er gezüchtigt oder geliebkost werden wird. Sie verlassen zusammen den Zug, sie gehen Seite an Seite zur Autohaltestelle, ohne Verabredung steigen sie beide in den Wagen, die Frau nennt eine Straße in Halensee, schweigend fahren sie den weiten Weg. Die Frau bemerkt, daß Maurizius zuweilen zittert, dann schaut sie still vor sich hin und lächelt. Sie hat eine kleine Wohnung dort in Halensee, zwei Zimmer im vierten Stock, behaglich, ordentlich, mit einem Anhauch von Luxus sogar, Blumen und Büchern. Was mag sie für eine Frau sein? Geschieden? kinderlos? vom Schicksal gewürgt? in eine letzte Zuflucht gedrängt? Er erfährt es nicht, ist nicht neugierig danach, so wie sie keine Lust hat zu erfahren, was sich in den nächsten Stunden mit ihr ereignen wird. Keinesfalls gehört sie zu den »Gestorbenen«, das ist ganz sicher, lebendig steht sie da, in einer Art von Hochherzigkeit, weich, spöttisch, achtlos, manche Frauen haben das, wenn sie mit ihren Hoffnungen am Ende sind (mit halbem Leib »über dem Abgrund«), dieses süße Phlegma, das von einer gelösten Seele zeugt. Sie bereitet Tee, deckt den Tisch, ermuntert ihren Gast zum Zugreifen, und da sie plötzlich bei der Anrede stockt, nennt er seinen Namen, den wahren Namen. Sie denkt nach, schaut ihn an, denkt wieder nach. Er sagt: Ich bin der und der. Zehn Worte. Inhalt: zwanzig Jahre. Sie schaut ihn an. Um den weichen Mund zuckt es, sie kämpft sichtlich mit der Angst, daß er jedes Gefühl mißdeuten wird, das sie kundgibt, aber auch jedes, und das ist eine wundervolle Zartheit, so läßt sie sich vor ihm auf die Knie nieder, faßt nach seiner Hand und drückt, ehrfürchtig fast, ihre Lippen darauf. Lieber, großer Gott, denkt er, sonst nichts, und sitzt da, ohne Atem, ohne Blick, ohne Laut. Die Frau ist namenlos für ihn, wie schön, daß sie keinen Namen hat, es erhebt sie über alle andern Menschen. Herr, erlöse mich von meinem Namen, betet er inbrünstig. Arme umschlingen ihn. Ein Körper rankt sich an ihm empor. An ihm, an ihm . . . empor! Könnte er doch etwas tun, um zu danken. Er hat keinen Dank, er hat keine Gabe. Plötzlich ist er allein. Wo ist sie hin? Offenbar hat sie ihn verlassen. Alles ist zu Ende, sie wird nie wiederkommen. Er erhebt sich hoffnungslos, schaut sich um, horcht, betritt das andere Zimmer, da liegt sie im Bette und wartet auf ihn, ihre Augen strahlen in erschütternder Glut. Es kann nicht Wirklichkeit sein, es ist alles ein Traum. Das Licht im Zimmer erlischt. Sie liegen beieinander. Flüstern und Verstummen. Regungslosigkeit. Flüstern und Verstummen. Stunden vergehen. Ein heiseres Aufschluchzen, hart, verzweifelt. Das ist er. Die Namenlose will trösten. Nein, kein Trost, kein Trost. Das Geschlecht ist gemordet. Man hat also, es ist erwiesen, nicht mehr teil an der Welt. Auch das Geschlecht ist gemordet.
Als der Tag vor den Fenstern aufschimmert, erhebt sich Maurizius, kleidet sich hastig an; die Frau ist eingeschlummert und hört nicht, wie er sich entfernt. Mit seiner Reisetasche in der Hand (das große Gepäck liegt noch im Bahnhof) geht er durch die Straßen, die Morgenluft erfrischt ihn. Er sucht ein Hotel auf und schläft bis zum Abend. Erwacht, fühlt er sich sonderbar wohl, nimmt ein Bad, bestellt eine reichliche Mahlzeit. Gegen neun Uhr fährt er zur Bahn, löst eine Karte erster Klasse nach Leipzig; in Leipzig entschließt er sich, mit dem Nachtzug weiter nach Süden zu fahren. Ein bestimmtes Ziel hat er nicht im Sinn, er nennt irgendeine Stadt, weil ein Ziel angegeben werden muß. Er ist allein im Abteil. Er liest Zeitungen, schlägt ein Buch auf und legt es wieder beiseite. Er schließt die Augen und hört sein Blut in den Adern fließen. Nach einer langen Zeit öffnet er die Augen wieder, holt einen Apfel aus der Reisetasche, schält ihn sorgfältig, zerschneidet ihn und ißt mit großem Genuß an dem Kühlen und Saftigen der Frucht. Es ist etwas Gehobenes in ihm, etwas wie Unternehmungslust. Er lehnt den Kopf an die Fensterscheibe, aus der dicken Finsternis draußen platzen bisweilen Lichter auf wie Raketen. Er erhebt sich, zündet eine Zigarette an, leise pfeifend begibt er sich in den Korridor des Wagens. Er zieht das Fenster herunter. Schwarze Landschaft, mattleuchtender Himmel; hinter Nebeln ein paar unsinnig ferne Sterne. Die Konturen von Hügeln treten klar hervor. Der Zug, mit asthmatisch keuchender Maschine, klimmt einen Hang empor, in der Tiefe rauscht Wasser. Er wirft die Zigarette weg, sie fällt schräg ins Bodenlose; er kann den glimmenden Punkt ziemlich lang verfolgen. Leise pfeifend geht er zur Waggontür, drückt den Hebel nieder, stößt die Tür auf; kalte Nachtluft prallt her; der Zug rattert über einen hochgebauten, brüstungslosen Viadukt, hart am Rande. Unmittelbar unter den Füßen ist eine Schlucht. Er hält sich an der rußigen Eisenstange fest, steigt die Trittstufen hinunter, schaut forschend, mit leichter Neugier, in die unbekannte Tiefe. Es ist ihm zumut, als sei die Welt plötzlich umgekehrt, der Sternenhimmel unten. Unangenehmer Gedanke, daß seine Hände an der rußigen Eisenstange schmutzig werden. Lächerlicherweise erwägt er sogar, noch einmal zurück zu gehen und sich die Hände zu waschen. Vom benachbarten Fenster des folgenden Wagens bemerkt ihn der Schaffner; der Mann ist vor Wut und Entsetzen außer sich, hebt die Fäuste, reißt am Fensterriemen, schreit mit offenem Mund, Maurizius hört es nicht, er sieht nur den weitaufgerissenen Mund mit zwei Reihen von Raubtierzähnen. Er nickt gleichgültig. Er tut den Schritt in den leeren Raum hinaus. Höchste Zeit, noch wenige Meter, und der Zug hat den Viadukt passiert. Er tut den Schritt, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Es ist der Schritt in die große, in die wirkliche Unwiderruflichkeit.