Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am dritten Tag nach seinem Besuch bei der Generalin verließ Etzel die väterliche Wohnung und die Stadt. Es war der vorletzte Tag der Osterferien, Dienstag. Am Montagabend sagte er zur Rie, er habe mit Thielemann und den beiden Förster-Lörings einen Ausflug nach der Hohen Kanzel verabredet. Sie wollten um sechs Uhr früh aufbrechen und Mittwoch nachmittag zurück sein, die Rie möge ihm Proviant vorbereiten. Es regnete seit dem Mittag; auf die Bemerkung der Rie, daß es wahrscheinlich auch morgen regnen werde, entgegnete er, sie hätten beschlossen, bei jedem Wetter zu marschieren. »Wenn's nach dir ginge, Rie«, sagte er und blinzelte sie schalkhaft an, »müßt ich immer hübsch im Stübchen bleiben, am liebsten hättest du's, wenn du mich ans Stuhlbein anbinden könntest.« In der Tat war sie keine Freundin von »Unternehmungen«; was von der Regelmäßigkeit des durch Wiederholung geheiligten Tageslaufs abwich, war ihr ein Greuel. Aber da Herr von Andergast bereits seine Einwilligung gegeben hatte, mußte sie sich fügen. Es fiel ihr nur auf, daß Etzel, nachdem er seinen Rucksack gepackt hatte, bis in den späten Abend in seinem Zimmer hantierte, Schubladen auf- und zuzog, mit Papieren raschelte und sich dabei ungewöhnlich schweigsam verhielt. Ferner fiel ihr der Umfang des Rucksacks auf, als er am Morgen aus seiner Stube trat. Es war ein Ballen, kaum konnte er ihn auf den Rücken heben, so unmäßig dick und schwer war das Ding. Verwundert fragte sie, wozu er, für den einen Tag, eine solche Menge Sachen mitnehme; er antwortete errötend, es seien Bücher drin, die er sich von den Förster-Lörings ausgeliehen habe und die er ihnen zurückbringe, da er ohnehin bei ihrem Haus vorüber müsse, außerdem ein Mantel, den ihm Robert neulich geborgt. Sein Gesicht verriet, daß er log, die Rie wußte, daß er log, sie wußte es stets, aber sie hatte dessen nicht weiter Arg, war sogar gerührt, als er ihr wegen ihres Frühaufstehens Vorwürfe machte, sie waren am Abend übereingekommen, daß er auf dem Bahnhof frühstücken solle. Sie hatte aber zeigen wollen, welches Opfer sie ihm bringen konnte; daß die Demonstration nicht unbemerkt blieb, verringerte ihr Unbehagen über die regendüstere Morgenstunde. Sie steckte ihm zu dem übrigen Vorrat noch ein Vierteldutzend Butter- und Wurststullen in die Tasche, er dankte, kehrte in der Flurtür noch einmal um und gab ihr einen Schmatz auf die Backe, dann ging er.
An demselben Vormittag trat Herr von Andergast eine Dienstreise nach Limburg an und gab kund, er werde Donnerstag zum Mittagessen wieder zu Hause sein. Als nun Etzel am späten Abend des Mittwoch noch nicht heimgekehrt war, wurde die Rie unruhig. Um elf Uhr nachts entschloß sie sich, mit Förster-Lörings zu telephonieren, Thielemanns hatten kein Telephon in der Wohnung, sonst hätte sie sich an die gewandt, weil sie Robert, der öfter ins Haus kam, besser kannte. Es dauerte ziemlich lange, bis jemand am Apparat antwortete. Ihr Schrecken war nicht klein, als sie erfuhr, die beiden Buben seien zu Hause, lägen längst in ihren Betten und seien weder heute noch gestern über Land gewesen, keine Rede davon. Sie ließ in ihrer Bestürzung die Hörmuschel fallen, eilte in die Mädchenkammer und weckte die Köchin auf, beriet sich mit der, ließ sich am Ende beschwichtigen, konnte aber doch nicht schlafen gehen, sondern wanderte bis halb zwei in der Wohnung herum, schaute alle zehn Minuten zum Fenster hinaus, spähend, horchend, eine Beute gehäufter Angstvorstellungen von allerlei Katastrophen, Verbrechen, Unfällen und Entführungen. Erst als sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, legte sie sich zu Bett, schlief aber trotz aller Gemütsbelastung – es darf um der Wahrheit willen nicht verhehlt werden – einen recht gesunden Schlaf, der sie nicht vor der gewohnten Stunde verließ, eher etwas später. Der Tag und seine vertrauten Forderungen stimmte sie gefaßter, bei jedem Glockensignal im Flur atmete sie erleichtert auf, und obwohl sie jedesmal enttäuscht wurde, erwartete sie die Rückkehr des Knaben zuversichtlich. Erst als sie gegen zehn Uhr das Stubenmädchen zu Thielemanns geschickt hatte und dieses mit demselben Bescheid wiederkam, den schon Förster-Lörings gegeben, stellten sich die Angstbilder von neuem ein, und um ihnen zu entfliehen, zog sie sich an und ging in die Stadt, wo sie einige häusliche Angelegenheiten zu erledigen hatte. Als sie zurückkehrte, war es ein Uhr. Die erste Frage an das Mädchen war: »Ist er da?« Antwort: »Nein.« Ehe sie ihre Bestürzung verbergen konnte, öffnete sich die Flurtür, und Herr von Andergast stand vor ihr. Sie kehrte sich ihm zu, mit verfalteten Händen: »Etzel ist nicht heimgekommen, Herr Baron.« Herr von Andergast reichte dem Mädchen sein kleines Reisenecessaire, Mantel, Hut, sagte obenhin verwundert: »So? das ist merkwürdig«, warf einen forschenden Blick auf das schwammige, blasse Gesicht der Rie und ging in sein Zimmer. Dort, auf dem Schreibtisch, lag unter andern Briefen, die während seiner Abwesenheit gekommen waren, ein Brief von Etzel.
Er las ihn; keine Miene in seinem Gesicht veränderte sich. Er lehnte sich im Sessel zurück und schaute in die Luft. Eine Fliege schien ihn zu interessieren, die am Plafond hin und her schoß. Nach einer Weile nahm er das Kuvert und besah die Marke. Sie trug den Stadtpoststempel vom Dienstagmorgen. Wieder nach einer Weile nahm er das Hörrohr vom Telephon, ließ sich mit dem Polizeipräsidium verbinden und kündigte dem Polizeipräsidenten seinen Besuch für ein Viertel nach drei an. Während des Mittagessens war er vollkommen schweigsam. Umsonst machte die Rie verschiedene Anläufe, was ihr auf dem Herzen lag, zur Sprache zu bringen; Herr von Andergast schien unempfindlich und durchaus mit seinen Gedanken beschäftigt, genau wie an jedem andern Tag. Aber als er sich vom Tisch erhob, bat er sie in sein Zimmer und forderte sie trocken auf, ihre Wahrnehmungen betreffs Etzels Weggang von Hause zu berichten. Die Disposition ihrer Erzählung litt unter dem abweisenden Blick der veilchenblauen Augen. Es war, als ob sich Herr von Andergast bis zum Überdruß belästigt fühle von den vielen Worten. Den Umstand mit dem voluminösen Rucksack brachte sie wie eine Entdeckung vor, die sie erst in diesem Moment machte, mit »ach, ja« und »richtig« und »wer konnte an so was denken!« Herr von Andergast bestätigte ernsthaft: »Gewiß, wer kann auch immer denken, das ist nicht zu verlangen.« Sie sah ihn perplex an. Ihr Mund verzog sich zum Weinen. Herr von Andergast wünschte die Feststellung, was von Etzels Kleidern, Wäsche und Büchern fehle. Er erwarte darüber am Abend Bescheid. Hiermit bedeutete er die Rie, daß die Audienz zu Ende sei.
Die Unterredung mit dem Polizeipräsidenten, Herrn von Altschul, verlief in kollegialen Formen. Zuerst erstattete er die offizielle Abgängigkeitsanzeige und gab das Signalement. Im weiteren Gespräch, nachdem der Polizeipräsident seine gebührende Teilnahme, ja eine Art Betroffenheit geäußert, ließ Herr von Andergast durchblicken, daß er bei den Maßnahmen der Behörden, Verfolgung und Anhaltung des Flüchtlings, eine gewisse Schonung geübt wissen möchte, auch tunliche Geheimhaltung, zumal was die Mitteilungen an die Presse anlangte. Der Chef der Polizei verstand. Er sagte, er werde entsprechende Befehle erteilen. Die Frage, ob ein Grund vorhanden oder bekannt sei, der den jungen Mann zur Flucht veranlaßt, verneinte Herr von Andergast. (Ich brauche nicht ausdrücklich daraufhinzuweisen, denn es war schon aus dem Verhalten gegen die Rie ersichtlich, daß er des Briefes, den er von Etzel erhalten, mit keiner Silbe erwähnte und daß er entschlossen war, ihn auch ferner nicht zu erwähnen, einfach, als wäre er nicht geschrieben worden.) Ob der Knabe Vorbereitungen getroffen? setzte der Polizeipräsident sein Verhör fort, das, einem solchen Manne gegenüber, nur eine Reihe freundschaftlicher Erkundigungen sein konnte. Wohl nur die unerläßlichen, antwortete Herr von Andergast. Ob er sich einem Hausgenossen eröffnet, einem Kameraden anvertraut habe? Herr von Andergast zuckte die Achseln. Seines Wissens nicht, sagte er, doch werde er nachforschen; bei der Kürze der Zeit habe er sich bis jetzt noch nicht umfassend informieren können. Aber habe denn der Sechzehnjährige die zu seiner Entfernung, einer offenbar auf längere Dauer berechneten Entfernung, erforderlichen Geldmittel gehabt? Auch darüber könne er keine Auskunft geben, antwortete Herr von Andergast, im Grunde handle es sich wohl nur um einen Dummenjungenstreich; allein der angerührte Umstand sei einigermaßen beunruhigend, er verhehle sich das nicht. Bestünde eine Vermutung, wohin sich der Knabe gewendet? Habe er heimliche Beziehungen gehabt? Heimliche Korrespondenz? Habe er einer politischen Jugendgruppe angehört? Nichts dergleichen sei auch nur denkbar, erwiderte Herr von Andergast kühl. Auch keine verwandtschaftlichen Einflüsse, die im verborgenen Macht über ihn erlangt haben könnten? (Der Polizeipräsident kannte natürlich die Familienverhältnisse des Freiherrn und stellte die Frage zaudernd, als bitte er wegen der Indiskretion um Verzeihung.) Herr von Andergast senkte die Lider und erwiderte mit nicht ganz motivierter Schärfe: »Nein, auch das nicht. Auf keinen Fall.« Er griff nach seinem Hut, erhob sich und sagte: »Der Personenbeschreibung ist noch etwas hinzuzufügen. Mein Sohn ist sehr kurzsichtig. In einem Grad, daß er Gesichter erst auf zehn Schritt Distanz unterscheidet. Da der Zustand in den letzten Jahren stationär geblieben ist, hat der Arzt von der Benutzung einer Brille vorläufig abgeraten. Aber das Gebrechen, denke ich, wird seine Anhaltung erleichtern.«
»Ich denke auch«, erwiderte der Polizeichef, legte den Notizblock beiseite und erhob sich gleichfalls. Er blieb nachdenklich, als ihn der Oberstaatsanwalt verlassen hatte. Männer dieses Berufes haben eine außerordentliche Witterung für die Vollständigkeit oder Lückenhaftigkeit von Aussagen, für das geringste Verschweigen, den kaum wahrnehmbaren Vorbehalt. Er konnte sich dem Eindruck nicht entziehen, daß Herr von Andergast es an voller Aufrichtigkeit habe fehlen lassen und für nötig befunden habe, wichtige Einzelheiten zu verschleiern. Doch sagte er sich, daß er sich darum nicht zu kümmern brauche. Wenn er aber der Meinung gewesen war, es werde nicht schwer sein, des Flüchtlings habhaft zu werden und ihn dem Vater wieder zuzuführen, so hatte er sich gründlich geirrt. Der behördliche Apparat spielte mit der gewohnten Präzision, die Bahnhofswachen wurden benachrichtigt, sämtliche Polizeistellen, Grenzämter, Gendarmeriestationen in Tätigkeit gesetzt, nur die öffentliche Bekanntmachung unterblieb. Aber auch die hätte vermutlich keinen bessern Erfolg gehabt. Der Knabe war wie vom Erdboden verschwunden.
Der mehrmals erwähnte Brief Etzels war nicht danach angetan, Herrn von Andergast mild zu stimmen. Er war als Vater tief verletzt, in seiner Autorität beleidigt und fühlte sich als Mann, als Mensch, als vertrauender Freund (denn so weit ging seine Selbsttäuschung, daß er sich durchaus als Freund des Sohnes betrachtet hatte) schmählich hintergangen und auf listige Weise um die Frucht dieses von ihm so großmütig gewährten Vertrauens betrogen. Zum Lachen schon der erste Satz: »Ich kann nicht länger bei Dir bleiben; wenn ich Dein Haus verlasse, ist es kein leichtfertiger Entschluß, ich habe gewissenhaft damit gerungen.« Ei, er hat gerungen; das Haus verlassen; Entschluß; was berechtigt, was befähigt dich, Entschlüsse zu fassen, naseweiser Bengel? Wer hat dich gelehrt, zu urteilen, woher kommt dir, was das Gewissen fordert oder verbietet, wer hat dich um Gründe gefragt? Dann das: »Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht. Dagegen bin ich wehrlos, daß Du meine Jugend verachtest, aber vielleicht kann ich das Ziel erreichen, das ich mir setze, und so Dich zwingen, meine Person zu achten, trotz ihrer Jugend.« Dreistigkeit. Man ist durch vielfachen Einblick in die Weltdinge davor behütet, in den banalen Jammer der Eltern zu verfallen, die sich über Undank der Kinder beklagen, obschon man sich nicht fürchtet, für passé zu gelten, wenn man feststellt, daß sie an taktloser Überschätzung dessen, was sie tun und sind und wollen, ihresgleichen suchen; aber die Tonart: »Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht«, erregte schließlich doch den Zweifel, ob man es am Ende nicht an wirksamer Züchtigung habe fehlen lassen, wie gering das erzieherische Ansehen von derlei Maßregeln auch sein mochte. Dann die Krönung: »Seit ich von dem Schicksal und dem Prozeß des Leonhart Maurizius weiß und dem Anteil, den Du an seiner Verurteilung hast, ist keine Ruhe mehr in mir, da muß die Wahrheit an den Tag, ich will die Wahrheit finden . . .« Ein Satz, der bei all seiner törichten Anmaßung nur mitleidiges Achselzucken zuließ.
Der vollständige Brief lautete:
»Teurer Papa. Ich kann nicht länger bei Dir bleiben; wenn ich Dein Haus verlasse, ist es kein leichtfertiger Entschluß, ich habe gewissenhaft damit gerungen. Ich bitte Dich von Herzen, in dem, was ich tue, nicht Mangel an Ehrfurcht zu erblicken; was ich Dir schuldig bin, ist mir bewußt. Aber wir haben keinen Weg zueinander, es ist aussichtslos für mich, einen zu suchen. Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles zwischen uns steht. Dagegen bin ich wehrlos, daß Du meine Jugend verachtest; aber vielleicht kann ich das Ziel erreichen, das ich mir setze und so Dich zwingen, meine Person zu achten, trotz ihrer Jugend. Gedanken erzeugen Gedanken, sagt man, aber die Wahrheit ist außerhalb, und man muß sie sich erarbeiten wie ein Werk, glaub ich. Ohne Hebel kann man Schweres nicht heben, ein Name ist für mich Hebel geworden: Seit ich von dem Schicksal und dem Prozeß des Leonhart Maurizius weiß und dem Anteil, den Du an seiner Verurteilung hast, ist keine Ruhe mehr in mir, da muß die Wahrheit an den Tag, ich will die Wahrheit finden. Eine große Bitte noch, ich traue mich kaum, sie niederzuschreiben, trau mich auch nicht zu hoffen, daß Du sie erfüllst: Verfolge mich nicht, laß mich nicht verfolgen, laß mich frei, ich kann nicht sagen für wie lange, sei mein Gegner nicht in dieser Sache. Dein Sohn Etzel.«
Reizend, war Herrn von Andergasts sarkastische Betrachtung, neben allem andern möchte er sich noch den Luxus meiner stillschweigenden Billigung leisten; aber man gehe zur Tagesordnung über, so peinlich und verdrießlich die Geschichte auch ist; daß ich es nicht voraussah und mich überrumpeln ließ und nun dastehe wie der Narr eines Narren, doppelter Narr, ist mein Fehler, ich muß mich an den Gedanken gewöhnen, von einem Lausbuben genasführt worden zu sein.
Der Brief war zu vergessen. Die Erinnerung an ihn erregte ein Gefühl, wie wenn man mit einem spitzen Stein im Stiefel herumgeht und keine Möglichkeit hat, die schmerzende Störung mit Anstand zu beseitigen. Aber es war nicht so einfach zu vergessen. Es hatte Herrn von Andergast widerstrebt, sich der großartigen Machtmittel des Staates wegen eines »Dummenjungenstreiches« zu bedienen. Er konnte sich nicht entschließen, in dieser Flucht etwas anderes zu sehen als eine Albernheit, deren angegebene Beweggründe er ignorierte. Über die Beweggründe nachzudenken, hielt er durchaus für entwürdigend. Er hatte die Gabe, seine Gedanken von einem Gegenstand abzuhalten, mit dem er sich nicht beschäftigen wollte. Es war eine Frage der Selbstbeherrschung. Mit dem Vergehen der Tage jedoch und als die getroffenen Anstalten trotz ihrer erprobten Vortrefflichkeit ergebnislos blieben, rückte der »Dummejungenstreich« in ein neues Licht, erzwang sich zum mindesten eine ihm nicht zukommende Beachtung, und damit war eine Unbehaglichkeit verbunden, wie wenn man auf eine Uhr blickt, von der man unzählige Male in mechanischer Lässigkeit die Zeit abgelesen hat, und man bemerkt plötzlich, daß auf dem Zifferblatt die Zeiger fehlen. Dazu kam das jammervolle Wesen der Rie: Klage, Frage, Vorwurf, Verwunderung, alles stumm, lästig-scheu, enervierend in der Wiederholung. Dazu kam die Notwendigkeit, nach verschiedenen Seiten telephonische Auskünfte zu erteilen, an den Rektor des Gymnasiums, den Ordinarius Dr. Raff (welchen er bei dieser Gelegenheit, aufmerksam gemacht durch einen rückhältig verlegenen Ton, für den nächsten Sonntag um seinen Besuch bat), an allerlei Bekannte, die von der rätselhaften Entweichung des Knaben gehört hatten und sich neugierig-teilnehmende Nachfrage nicht versagen konnten. Es war ganz ärgerlich unbequem, so sehr, daß Herr von Andergast den Plan ins Auge faßte, Urlaub zu nehmen und für einige Wochen zu verreisen. Aber der Plan blieb unausgeführt.
Die Generalin hatte am Freitagnachmittag mit der Rie telephoniert und von ihr alles erfahren. Am Abend rief sie ihren Sohn an. Herr von Andergast wartete auf den Anruf. Er hatte seine Mutter im Verdacht der Vorschubleistung. Da nicht anzunehmen war, daß der Junge ohne einen Pfennig Geld das Weite gesucht hatte und die Großmutter für ihn die nächste war, an die er sich wenden konnte, was bei ihrer oft bewiesenen Nachgiebigkeit ziemlich sicheren Erfolg versprach, erschien der Verdacht von vornherein wie halbe Gewißheit. Die Generalin sagte mit zitternder Stimme, sie sei krank, könne sich nicht aus dem Haus rühren, habe ihn vergeblich im Amt angerufen, er möge gleich, denselben Abend noch, zu ihr kommen. Herr von Andergast bestellte ein Taxi und fuhr hinaus. Nachdem er fünf Minuten scheinbar ganz harmlos mit ihr gesprochen, hatte er bereits das Geständnis von ihr, daß sie Etzel dreihundert Mark gegeben. Die spielende Sicherheit, mit der er es zuwege gebracht, bestürzte sie, offenen Mundes schaute sie ihn an, wehrlos. Sie lag im Bett, eine Atlasdecke umhüllte ihre zarte Gestalt, das kleine Köpfchen ruhte elegisch auf den gestickten Kissen. Herr von Andergast seinerseits bewahrte die höflichste Miene von der Welt. Er hatte ein elfenbeinernes Papiermesser vom Nachttisch genommen, hielt es zwischen den Zeigefingern beider Hände, und in seinem Gesicht war keinerlei Gemütsbewegung zu entdecken. Seine Taktik lief ohne Zweifel darauf hinaus, alles durch Schweigen auszudrücken, was mit Worten zu sagen, vielleicht widerlegbaren, vielleicht anfechtbaren, er verschmähte. Er kannte das Gewicht und die Wirkung seines Schweigens in solchen Fällen und wußte es zu berechnen wie ein Artillerieoffizier die Flugbahn und den Einschlagspunkt einer Sprenggranate. Was er erwartete, trat ein. Die Generalin verlor die Contenance, Zorn verdunkelte ihr Auge, sie bäumte sich gegen die Tortur, die ihr seine vieldeutige, verbindliche Stummheit verursachte, und rief ihm zu, er selber habe es mit dem Kind verdorben, er selber trage die Schuld, er und sein Kasernenregiment, das Bübchen sei wohl auf und davon gelaufen, um . . . na, um vielleicht zu seiner Mutter zu gehen und sich . . . ja, was denn . . . mein Gott, ein bißchen, ein klein bißchen verwöhnen zu lassen. Vielleicht habe ihm das gefehlt, gerade das, ein bißchen verwöhnt zu werden. Herr von Andergast blickte interessiert empor. »Ei sieh doch, Mama«, sagte er kühl verwundert, »das erste, was ich höre. Wer hätte an so etwas gedacht! Nie wäre ich auf die Idee verfallen. Wie kommst du darauf? Ist es eine bloße Mutmaßung von dir oder hast du einen bestimmten Anhalt? Wie sollte er denn erfahren haben . . . sonderbar . . . da wäre ja der verwerflichste Verrat im Spiel . . . hast du etwa Verbindungen angeknüpft? Ich meine, ist dir Näheres über . . . über ihren Aufenthalt bekannt?«
Sein veilchenblauer Blick ruhte mit eiserner Gelassenheit auf dem Gesicht der alten Frau, deren erschrockene Kinderaugen, wie zwei Küken, die einen Habicht über sich wissen, zu flüchten trachteten. Sie machte eine abwehrende Bewegung. »O nein«, versicherte sie hastig seufzend, mit einem Ausdruck von Bedauern, der zu echt klang, als daß Herr von Andergast an ihren Worten hätte zweifeln können, »woher denn! Wie sollt ich denn! Es ist dir und deinem System gelungen, allen um dich herum die Augen zu verbinden und den Mund zu verstopfen. Wer soll sich denn trauen, auch wenn er was wüßte! Manchmal, Wolf, frag ich mich, ob du überhaupt noch ein lebendiger Mensch bist, mit einem Herzen im Leibe, wie andere Leute. Du machst einem angst. Du kommst in ein Zimmer, und schon wird einem angst.« Herr von Andergast stand lächelnd auf. »Ich hoffe, deine Unpäßlichkeit ist nur vorübergehend, liebe Mama«, sagte er in einem Ton zwischen schonender Fürsorge und müder Gelangweiltheit, »ich werde Nanny jedenfalls bitten, mich morgen zu benachrichtigen, wie es dir geht und was der Arzt verordnet hat . . .« Er wollte abschiednehmend ihre Hand küssen, doch sie, verletzt von seinem hochmütigen Ausweichen, bis zur Entrüstung gereizt durch seine unerschütterliche Ruhe, herrschte ihn an: »Bleib! Nicht so geschwind! So geschwind sind wir nicht fertig. Wo ist Etzel? Wo ist er, dein Sohn? Du weißt es nicht? Und ich soll's wissen? Mir mutest du zu, daß ich mit ihm im Einverständnis bin? Ich hab's ihm ja gesagt, genau so. Ich kenne meine Pappenheimer. Nun, was soll geschehn? Was willst du tun? Natürlich deine Polizeihunde auf ihn hetzen. Ihn noch bockiger machen. Das ist ja euer A und O, die Polizei. Hast du denn eine Ahnung, was das für ein Junge ist? Was der in sich hat, was mit dem los ist? Nein, nichts weißt du, nichts, nichts, nichts, von ihm nichts, von keinem Menschen was. Hast du doch auch die arme Sophia wie einen Hund hinausgejagt in die Welt und ihren . . . ihren Liebhaber zum Meineid getrieben, so daß ihm nichts übrigblieb, als sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Und wenn auch alles nach Recht und Ehrenvorschrift zugegangen ist, korrekt wie beim Parademarsch . . . naja, ich sage nichts, ich sage nichts, zuweilen verbrennt's mir halt die Seele, wenn ich so liege und drüber nachdenke.« Mit ihren letzten Worten lenkte sie erschrocken ein, da sie das Erbleichen des Sohnes bemerkte. Sie hatte sich hinreißen lassen, der Kummer um Etzel, vieles Zurückgedrängte von Jahren hatte Gewalt über ihr entzündliches Gemüt erlangt, unbesonnen hatte sie die Decke von vergangenem Unheil weggezogen und auf den Punkt gedeutet, der, vom andern Geschehen abgelöst, allerdings wie untilgbares Verschulden aussah. Aber dahinter lag ein Leben, lagen Schicksale. Sie bereute ihre Worte, kaum daß sie ihr entschlüpft, schlug die Hände vor die Augen und schluchzte leise. In der Tat war das Gesicht Wolf von Andergasts so weiß geworden wie ein Stück Gips. Er hob langsam die linke Hand und zerknüllte den grauen Kinnbart, die Zungenspitze näßte rasch die Lippen, die geröteten Lider senkten sich bis auf einen dünnen Spalt, und er sagte, sehr leise: »Schön, Mama. Ich habe nicht im Sinn, deine romanhaften Vorstellungen zu berichtigen. Habe künftig die Güte, jede Anspielung auf meine Person und meine Vergangenheit zu unterlassen, wenn du Wert darauflegst, daß der sporadische Verkehr zwischen uns fortbestehen soll.« Eine echt Andergastsche »Schrankenrede«.
Die alte Frau bereute, bereute. Aber was fruchtete das! Die Menschen, die sich aus Übereilung mit ihrer Zunge verfehlen, geraten dadurch in eine weit üblere Situation als diejenigen, die sie mit gutem Grund wegen ihrer Handlungen anklagen. Wenn sie nur ein Gramm Unrecht tun, verschaffen sie dem andern gleich einen Zentner Vorteil, und ihnen bleibt Beschämung und Reue (denen sich die Generalin ausgiebig überließ).
Am nächsten Morgen zog Herr von Andergast die Rie nochmals ins Verhör. Die Worte der Generalin: »Er wird zu seiner Mutter gehen«, wollten ihm nicht aus dem Kopf. Da die alte Dame glaubhaft genug beteuert hatte, sich jeder Einflüsterung enthalten zu haben, konnte nur die Rie in ihrer Beschränktheit schuldig geworden sein; aber woher hatte sie ihre Wissenschaft bezogen? Daß der Junge nicht zu seiner Mutter gehen konnte, lag am Tage; die französische Grenze konnte er schwerlich passieren, außerdem war nicht anzunehmen, so romantisch-abstrus auch das Unterfangen war, daß gerade der ausdrücklich bezeichnete Grund seiner Flucht eine Lüge war. So sah die Sache nicht aus, und das war nicht die Art des Jungen. Dennoch wollte Herr von Andergast den zufällig aufgefangenen Faden nicht wieder fallen lassen, war es auch nur, um seine Leute kennenzulernen; nach seiner Meinung hatte jeder Mensch, der unbescholtenste, der unangreifbarste noch, einen Winkel in der Seele, wo der Keim zum Verbrechen saß, weshalb man sie nie ganz kannte. Und was die Frau anging, die beunruhigenderweise ihr Domizil gewechselt hatte und der es seit einiger Zeit beliebte, ihn Etzels wegen mit Zuschriften zu behelligen, so war nicht abzuschätzen, zu welchen vertragswidrigen Mitteln sie in ihrer plötzlich erwachten sogenannten Sehnsucht nach dem Jungen greifen würde. Er entbot also die Rie zu sich.
Sie war viel zu zerknirscht von seiner unerbittlichen Dringlichkeit, um zu leugnen, daß sie die Kenntnis von dem veränderten Aufenthalt der Frau aus dem Poststempel des letzten Briefes geschöpft, und gab unter Tränen zu, mit Etzel darüber gesprochen zu haben, sie habe sich nichts Böses dabei gedacht. Herr von Andergast sagte: »Ich betrachte Ihr Vorgehen als Vertrauensbruch; wenn ich keine Konsequenzen daraus ziehe, haben Sie es nur dem Umstand zu verdanken, daß Sie so lange in meinem Hause sind.« Es blieb ihm von dieser Unterredung ein bitterer Geschmack zurück, ihm war, als kehre das »System« seine Stacheln gegen ihn selber, als säßen seine Spione ihm selber auf den Fersen, als würden seine Kreaturen zu Verrätern. Ärgerliches Intermezzo das Ganze, so hatte es zunächst ausgesehen: ein junger Mensch mit einer überspannten Idee im Hirn entwischt aus dem väterlichen Haus, man fängt ihn wieder ein und stellt ihn für eine Weile kalt, was sonst? Indessen, es war anders, es war, vielleicht, ein wenig anders. Aber wie? wodurch? was war denn das »Andere«, Vertrackte, Quere, Verstimmende?
Er hatte sich vorgenommen, Herrn von Altschul anzurufen, um zu fragen, ob man bereits eine Spur des Ausreißers gefunden habe. Er unterließ es. Jedesmal, wenn er den Hörer vom Apparat nehmen wollte, preßte er wie von Widerwillen erfaßt die Lippen zusammen und saß eine Zeitlang in finsterem Nachdenken vor seinem Schreibtisch.
Mit Vorbedacht stimmte sich Herr von Andergast gegenüber Camill Raff auf den Ton der Kordialität. Er drückte ihm in einer Art die Hand, als habe er ein vertrauliches Beisammensein mit ihm längst gewünscht und setze diese Gesinnung auch bei dem andern voraus. In Wirklichkeit sah er in ihm bloß einen kleinen Schullehrer, trotz des Rufes, der über ihn ging; manche machten viel Aufhebens von seinem Geist und seiner Bildung, aber Herr von Andergast nahm es nicht an, er schätzte die Schullehrer gering, und zwar von allen Kategorien, er verbarg es sorgfältig, aber es war in ihm, vielleicht war es ein feudalistisches Überbleibsel oder der Umstand, daß starken Persönlichkeiten oft eine gewisse Unduldsamkeit gegen das allgemein Erfahrbare, den allgemein zugänglichen, daher verdünnten Wissensstoff anhaftet. Camill Raff war jedenfalls von dem freundlichen Empfang überrascht. Er kannte Herrn von Andergast nur von dessen sozusagen amtlichen Besuchen im Gymnasium her. Es gehörte zu seinen Gepflogenheiten, sich zwei-, dreimal in jedem Semester beim Ordinarius nach den Fortschritten des Sohnes zu erkundigen. Camill Raff war immer froh gewesen, wenn dieses Gespräch, dürr und feierlich, wie es sich abspielte, mit guter Manier überstanden war. Nun saß da ein liebenswürdiger Herr, der scharmant zu plaudern wußte. Leute in kleinen Verhältnissen lassen sich durch das artige Entgegenkommen eines sozial höher Gestellten stets bestricken, da nützt ihnen keine Philosophie und kein demokratischer Stolz. Dr. Raff war viel zu gescheit, um das nicht zu wissen, und war auf der Hut. Trotzdem unterlag er dem Zauber des ihm an Menschenkenntnis und Gewandtheit freilich unendlich überlegenen Mannes und bemerkte die Falle nicht, die ihm Herr von Andergast legte; denn dieser hatte einige Ursache zu dem Verdacht (auch hier Verdacht, auf allen Wegen Verdacht, das Netz ging aus den Maschen, überall treulose Subalterne), daß der Einfluß, den Camill Raff auf Etzel geübt, nicht ausschließlich edukativ gewesen sei, daß ein schädliches, vielleicht sogar schuldvolles Tolerieren verderblicher Neigungen gewaltet habe.
Camill Raff seinerseits hatte auch einen bestimmten intriganten Anreiz. Er hatte ja eine ziemlich genaue Kenntnis und eine noch bessere Vorstellung von Etzels Person und Wesen, und er sagte sich: dieser Vater hat vermutlich keinen rechten Begriff von seinem Kind; wenn jemand ihm den Begriff geben kann, bin ich es, und ich will es auf eine Weise tun, die er nicht so schnell vergessen wird. Zweierlei bewegte ihn dabei: erstens eine der Eitelkeit verwandte Regung, die in einem solchen Fall auch dem lautersten Berichterstatter nicht fremd ist, zweitens das Bedürfnis, den Druck, den Herr von Andergast ungeachtet aller Freundlichkeit auf ihn ausübte, durch Selbstentfaltung zu mildern. So – jeder in seinem besonderen Interessenspiel – agierten sie scheinbar in schönstem Frieden gegeneinander. Raff erzählte, wie er Etzel vor anderthalb Jahren in der Ferienkolonie im Odenwald kennengelernt, wie ausnehmend ihm der Knabe gefallen habe, so daß er, als er im gleichen Herbst an das hiesige Gymnasium berufen worden, sich über die glückliche Fügung gefreut habe, die ihn zu seinem Schüler gemacht.
Er habe sich viel mit dem Jungen beschäftigt, namentlich im letzten Halbjahr, seit er in der Obersekunda sitze und er, Raff, Ordinarius der Klasse sei. Herr von Andergast beugte sich ein wenig vor, die Hände waren auf den übereinandergeschlagenen Knien gekreuzt, Haltung und Miene drückten eine höfliche Wißbegierde aus, die Camill Raff schmeichelte und ihn zu einer gründlichen Charakteranalyse verlockte, voller Feinheit, voller Sympathie, voll der geheimen Tendenz, dem Vater unerwartet Neues über den Sohn zu sagen. Er spricht von der wasserklaren Durchsichtigkeit von Etzels Natur. Es ist nicht eine Durchsichtigkeit im gewöhnlichen Sinn, nicht, was man gemeinhin Offenheit nennt. Offen, nein, offen ist Etzel keineswegs, zwar nicht verschlossen, eher umkapselt, mit vielen Hüllen versehen. Was Camill Raff mit der Durchsichtigkeit meint, betrifft das innere Material, das Einleuchtende der Gesamtwirkung, eine eigene Art seelischer Ordnung. Es stimmt immer alles. Man hat im Umgang mit ihm immer das angenehme Gefühl: stimmt. Nur so kann es sein, so macht man, so sagt man das und das, so verhält man sich gegen einen Freundschaftsdienst, gegen eine Beleidigung, so in der Verlegenheit, im Zorn, so und nur so, weil man eben so und nur so ist, weil man die Gabe hat, zu sein, was man ist, und nicht zu scheinen braucht, was man sein möchte: ein Vorzug, der so selten ist, daß nur wenig Menschen seine Seltenheit begreifen, obwohl die meisten unaufhörlich davon reden. Es gehört allerdings dazu eine ganz bestimmte Sorte Mut. Aber Mut ist ja in solchen Fällen nur eine Tempofrage. Manches im Leben ist nur Ergebnis des Tempos, was wir als Frucht sittlicher Anlage betrachten. Camill Raff hat bisweilen bei den Knaben die Schnelligkeit der Reaktionen verglichen. Er hat gefunden, daß langsame Seelen (die ja in elastischen, in raschen Leibern wohnen können) eher zum Schlechten neigen als die feurigen, die geschwinden. Was ist zum Beispiel Gerechtigkeitsliebe anderes, die Äußerung davon anderes als eine blitzartige Zündung im Gehirn, glühend aufeinanderprallende Assoziationen der Phantasie? Er hat Etzel bei Streitigkeiten mit Kameraden beobachtet; bei ihren Spielen; in Situationen, wo es auf Anständigkeit, Verschwiegenheit, Hilfsbereitschaft, Ritterlichkeit ankam; er war jedesmal erstaunt über die Richtigkeit, die Kraft, mit der er sich in jedem Konflikt stellte, sich selbst und andere. Einmal hatten sie in der Klasse dem Mathematikprofessor einen garstigen Streich gespielt. Dieser Herr ist ein Liebhaber von Süßigkeiten, in seiner Manteltasche steckt fast immer eine Tüte mit Bonbons, die Jungen wußten es natürlich und mischten ihm eines Tages heftig abführende Zuckerplätzchen in den Vorrat. Thielemann war der Anstifter. Der Professor kam am nächsten Morgen wütend in die Stunde, erklärte, sich mit der Ausfindigmachung des Schuldigen nicht weiter befassen zu wollen, alle seien schuld, daher begnüge er sich damit, einen einzigen zur Verantwortung zu ziehen und zu bestrafen, dem Betreffenden stehe es frei, sich der Strafe zu entziehen, wenn er den wahren Schuldigen nenne. So griff er aufs Geratewohl einen heraus, verlangte von dem ein Geständnis, das, wie sich denken läßt, nicht erfolgte, und diktierte ihm eine recht harte Strafe. Das Verfahren erregte Etzels Zorn, er konnte es nicht aushalten, daß ein Unschuldiger – und der wirklich Angeklagte war zufällig der Unbeteiligtste an dem Anschlag – für den Schuldigen büßen sollte, er erhob sich und bezichtigte sich selber. Er habe es getan, er sei zu bestrafen. Das machte einen starken Eindruck auf die Klasse, die Jungens wollten es nicht zulassen, Widerspruch entstand, es brach eine förmliche kleine Revolte aus; glücklicherweise besaß der Professor Besonnenheit genug, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, das Verhör, das er mit Etzel vornahm, war etwas lau, er verließ das Klassenzimmer, um sich, wie er sagte, mit dem Ordinarius zu beraten; Camill Raff suchte ihn zu beschwichtigen und sorgte dafür, daß die Sache im Sand verlief, auch um den Mann selbst zu schonen und ihn vor noch mehr Lächerlichkeit zu bewahren. Nachher hatte er eine lange Auseinandersetzung mit Etzel. Während er dies Gespräch schildert, huscht ein undeutbares Lächeln über sein hübsches, melancholisches Gesicht, ein fast spitzbübisches Lächeln. »Ich hatte große Mühe, ihn mir vom Leib zu halten mit seiner possierlichen Entrüstung, mit seiner unverschämten Kaltblütigkeit, von den Menschen das zu fordern, was sie eigentlich von Rechts und Vernunfts wegen aus sich selber tun müssen, um nicht unaufhörlich Verwirrung und Plage in die Welt zu bringen«, sagt Camill Raff; »das war ungefähr der Sinn, ich gebe es etwas komplizierter wieder, doch das war der Sinn: die Leute sollen folgerichtig handeln: wer ein Geschäft betreibt, soll das Geschäft verstehen, ein Richter soll nur urteilen, wenn nicht der Schatten eines Zweifels an der Schuld besteht. Ich mußte ihm erwidern: mein Lieber, das sind Selbstverständlichkeiten, an denen schon Heroen und Heilige verblutet sind.«