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Der alte Mackenzie ging in Lizzys Küche, um mehr Kaffee zu kochen. Da hörte er draußen ein Klopfen.
»Es ist jemand an der Tür, Fräulein«, rief er Lizzy zu, »seien Sie doch so gut und öffnen Sie für mich.«
Lizzy hatte sich inzwischen frischgemacht und sah wieder schmuck und niedlich aus. Sie eilte die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und riß die Tür auf. Zuerst erkannte sie den Herrn nicht, der vor ihr stand; aber dann war sie vor Schreck fast sprachlos.
»Ich möchte Miss Reddle sprechen«, sagte Mr. Shaddles.
Lizzy trat verwirrt zur Seite und folgte dem Anwalt die Treppe hinauf. Die Tür zu Mackenzies Wohnung stand offen, und als sie in das Zimmer traten, wurde es plötzlich still. Mr. Shaddles schaute von einem zum anderen und lächelte.
Lois, die neben ihrer Mutter an dem Tisch saß, stand erstaunt auf.
»Mr. Shaddles –«
Er nickte. Auf einmal wurde ihr klar, daß er zu den Leuten gehören mußte, die der Unterstaatssekretär damals erwähnt hatte.
»Sie waren es also –«
»Ja, gnädiges Fräulein, ich war es. Wir sind seit Jahrhunderten die Advokaten der Morons, und so habe auch ich mich bemüht, die Interessen der Familie wahrzunehmen. Niemand kennt bis jetzt die Zusammenhänge – bis jetzt. Aber es ist keine lange Geschichte, die ich zu erzählen habe – gestatten Sie?« Er wandte sich an Mrs. Pinder. Sie nickte.
»Der verstorbene Graf von Moron heiratete zweimal«, begann Shaddles. »Aus erster Ehe stammte sein Sohn William. Selwyn, der heute abend hier weilt, ist der Sohn der zweiten Frau. William war ein hochbegabter, ehrenhafter junger Mann, der in einem Hochländerregiment diente. Er war etwas romantisch veranlagt, und als er Mary Pinder traf, war es natürlich –«
»Mary Pinder?« rief Lois. Aber Shaddles überhörte die Unterbrechung. »– daß er sich in sie verliebte. Mary Pinder war damals ein schönes Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Er liebte es, Fußtouren zu machen, und kam auch durch Hereford, und zwar nicht unter seinem eigenen Namen Viscount Craman, sondern als Mr. Pinder. Dies war der Mädchenname seiner Mutter. Er traf Mary mehrere Male, ohne ihr zu sagen, wer er war, und heiratete sie mit besonderer Erlaubnis unter dem Namen Pinder. Er wollte ihr seinen Stand und seine Würde erst nach der Hochzeit enthüllen.
Sie hatten etwa einen Monat zusammengelebt, als er unerwartet nach Hause gerufen wurde, weil sein Vater schwer erkrankt war. Als er in Schottland ankam, fand er den Grafen sterbend. Er erlag einem schweren Scharlachfieber. Es war ein grausames Schicksal, daß William angesteckt wurde und zwei Tage nach seinem Vater starb. Er hinterließ eine Witwe, die nicht wußte, wer er in Wirklichkeit war und wo er sich aufhielt.
Auf dem Sterbebett erzählte er seiner Stiefmutter, der jetzigen Gräfin Moron, daß er sich verheiratet hatte, und bat sie, nach seiner Frau zu schicken. Sie tat es nicht, besonders als sie erfuhr, daß seine Frau nicht wußte, wer er war und wo er wohnte. Erst einige Zeit später ging die Gräfin nach Hereford, um die Witwe ausfindig zu machen. Mrs. Pinder lebte bei einer exzentrischen Frau, die etwas verrückt war. Sie hatte schon oft gedroht, Selbstmord zu verüben, und es traf sich, daß sie gerade an dem Morgen, an dem Lady Moron in Hereford ankam, Gift nahm. Die Gräfin ging in das Haus, um ihre Neugierde nach der Frau ihres Stiefsohnes zu befriedigen. Als sie in das Zimmer trat, fand sie die tote Frau. Auf dem Tisch lag ein Brief, der die Gründe des Selbstmordes erklärte.
Lady Moron war eine Frau von raschem Entschluß. Hier fand sie eine günstige Gelegenheit, einen möglichen Anspruch auf die Familiengüter der Morons für immer zu beseitigen. Auf dem Tisch lagen auch Juwelen und Geld verstreut. Sie nahm alles an sich und ging damit in das Zimmer der jungen Frau. Sie vermutete wenigstens, daß es ihr Zimmer war, da sie Williams Fotografie auf dem Kamin stehen sah. Es ist übrigens dieselbe Fotografie, die später in Lois' Zimmer geschmuggelt wurde, um festzustellen, ob sie ihren Vater kannte. Gräfin Moron legte die Juwelen und das Gift in einen kleinen Kasten, verschloß ihn und nahm nicht nur den Schlüssel, sondern auch den Brief mit sich, der Mrs. Pinders Unschuld und die Schuld der Gräfin Moron bewiesen hätte, wenn ihre Handlungsweise bekannt geworden wäre.
Wie Sie wissen, wurde Mary Pinder angeklagt, zum Tode verurteilt und dann zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe begnadigt. Im Gefängnis kam ihre kleine Tochter zur Welt, und eine befreundete Nachbarin nahm sich des Kindes an. Aber aus irgendeinem Grund wurde in den Zeitungen verbreitet, daß das Kind der Hereford-Mörderin gestorben sei. Dieser Umstand beruhigte die Gräfin. Sie machte keine Anstrengungen mehr, die Wahrheit der Geschichte nachzuprüfen, bis sie eines Tages zufällig erfuhr, daß Lois Reddle das Kind der Mrs. Pinder sei. Wie sie zu dieser Kenntnis kam, habe ich nicht herausfinden können.
Vor vielen Jahren erhielt ich die überzeugende Mitteilung, daß William verheiratet gewesen war und auf dem Totenbett nach seiner Frau geschickt hatte. Ich sah ihn gleich nach seinem Tod und entdeckte einen goldenen Trauring an seinem kleinen Finger, der aber bei der Beerdigung bereits entfernt worden war. Ich war davon überzeugt, daß das Mädchen, die Erbin seines Titels, am Leben sein müsse, und suchte nach ihr. Schließlich fand ich heraus, daß sie in Leith tätig war, und brachte sie nach London in meine Kanzlei, so daß ich sie stets bewachen konnte. Für alle Fälle engagierte ich aber noch den tüchtigsten Detektiv zu ihrem Schutz.
Gelegentlich entdeckte ich, daß die Gräfin irgendeine dunkle Ahnung hatte, wer sie war, und ich muß bekennen, daß ich zögerte, meine Einwilligung zu geben, als sie das Mädchen in ihrem Haus als Sekretärin anstellen wollte. Ich beriet mich erst lange mit Mr. Dorn, bevor ich meine Zustimmung gab. Ich teilte meinen Verdacht den Gerichten mit, und es wurde ein besonders befähigter Polizeibeamter, Sergeant Braime, als Diener in den Haushalt der Gräfin geschmuggelt, um herauszufinden, ob sie töricht genug war, den Brief der Selbstmörderin aufzubewahren.«
Er machte eine Pause und sprach erst nach einiger Zeit weiter.
»Als mir Miss Smith Mr. Dorns Brief zeigte, wurde Mr. Wills von mir nach Gallows Farm gesandt. Er rief mich heute abend an, daß er den Wagen verfolgt habe, in dem Mrs. Pinder von Gallows Farm entführt wurde, und daß Mrs. Pinder, Mr. Chesney Praye und Dr. Tappatt in Morons Estate angekommen seien. Daraufhin benachrichtigte ich Scotland Yard. Bevor ich hierherkam, erfuhr ich noch, daß Praye und Tappatt verhaftet wurden, als sie vor dem Portal von Morons Estate in ein Auto steigen wollten, um damit zu fliehen.
Die Gräfin Moron hat man nicht mehr verhaften können. Sie erschoß sich in dem Augenblick, als die Polizeibeamten in ihr Zimmer drangen. Auf dem Tisch fanden sie den Brief der Selbstmörderin von Hereford und einen Schlüssel –«
»Ich bin in einer unglücklichen Lage, meine liebe Lizzy«, sagte Selwyn traurig. »Ich bin kein Lord, aber ich vermute, daß ich noch eine Art von Moron bin. Sie könnten mich auch einen unnützen Moron nennen.«
»Seien Sie nicht albern, Selwyn. Natürlich ist es ein großer Unterschied«, sagte Lizzy. »Aber wenn Sie mich gefragt hätten, als Sie noch ein wirklicher Lord waren und ich eine Stenotypistin – ich bin jetzt auch noch eine –, so hätte ich doch nicht zugeben können, daß Sie Ihre Karriere ruinierten. Aber wie die Dinge jetzt liegen –«
Sie gingen zusammen auf einem ruhigen Seitenweg durch den Park.
»Wir wollen hier gehen«, schlug Lizzy vor. »Hier führt ein schöner Weg durch die Rhododendronsträucher, und es kommt niemand vorbei. Ich weiß auch eine idyllische, versteckte Bank. Um diese Zeit des Morgens ist kein Mensch dort. Wir können uns hinsetzen und plaudern –«
»Das ist das Sonderbarste an dem Fall«, sagte Michael, der an demselben Morgen auch einen Spaziergang mit einer jungen Dame im Park machte.
»Glauben Sie«, meinte Lois, Gräfin von Moron. »Ich kenne viele Dinge, die merkwürdiger sind. Heute morgen erhielt ich zum Beispiel eine Rechnung von Mr. Shaddles über ein Pfund und sechs Schilling für die Reparatur seines alten Fordwagens.«
»Hat er Ihnen denn keine andere Rechnung geschickt?« fragte Michael erstaunt. »Was für ein Mann! Die ganze Sache hat mindestens zehntausend Pfund gekostet; den größten Teil davon hat er an mich bezahlt.«
»Finden Sie, daß Ihre Dienste richtig belohnt wurden?«
»Ich fühle mich belohnt genug, wenn Sie, Comtesse, mir freundlichst danken.«
»Habe ich Ihnen noch nicht gedankt?« fragte sie mit schelmischer Verwunderung. »Und bitte, sagen Sie doch nicht Comtesse zu mir – das vertrage ich nicht. Ich werde meinen Dank – nein, jetzt noch nicht.«
Sie schwiegen, bis sie an das Ende eines schmalen Weges gekommen waren.
»Wir wollen hier entlanggehen«, sagte Lois dann. »Ich erinnere mich an eine schöne Partie in diesem Teil des Parks. Es steht eine lauschige Bank dort, und um diese Zeit des Morgens . . .«