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Lois Reddle war nicht gerade froh gestimmt, als sie an die Rückkehr in das Palais am Chester Square dachte. Aber noch weniger wollte sie ihr Wort brechen, das sie der Gräfin gegeben hatte, obwohl sie diese Frau jetzt zu hassen begann. Sie unterhielt sich darüber mit Lizzy, als sie vor ihrer Haustür in der Charlotte Street standen.
»Wir wollen lieber hier bleiben«, drängte Lizzy. »Auf keinen Fall gehen wir jetzt schon zurück. Selwyn bekommen wir doch nicht zu sehen – und dann denke doch an das, was Mike dir sagte.«
»Was Mr. Dorn sagt, ist mir gleichgültig«, erwiderte Lois ruhig. »Wir müssen zurückgehen, Lizzy – ich habe es versprochen.«
Lizzy murrte.
»Ach, du mit deiner Ehrbarkeit und deinem Worthalten – ich bekomme Kopfschmerzen davon! Aber wir wollen doch wenigstens jetzt noch nicht gehen. Die Frau hat dir doch ausdrücklich gesagt, daß du ausbleiben und sogar ins Theater gehen könntest. Warum beeilst du dich denn so?
Lois zögerte.
»Wir gehen jetzt zurück«, sagte sie dann bestimmt.
Sie schaute über die Straße. Ein Müßiggänger stand mit dem Rücken gegen ein Schaufenstergitter gelehnt, aber sie sah sofort, daß es nicht Dorn sein konnte. Sobald sie der Oxford Street zugingen, kam Leben in den Mann. Er folgte den beiden langsam im Schatten der Häuser, und als Lois sich umsah, entdeckte sie, daß er hinter ihnen herkam.
»Wir wollen auf die rechte Seite hinübergehen«, sagte sie. »Ich glaube, wir werden beobachtet.«
»Wir wollen uns lieber an die Hauptstraße halten«, meinte die kluge Lizzy. »Wenn schon jemand hinter uns herkommt, ist es besser, daß wir dort gehen.«
Sie kamen zur Oxford Street und gingen quer über die Straße, aber der Schatten folgte ihnen in gewisser Entfernung.
»Wir versuchen es in der Regent's Street«, schlug Lizzy vor. »Wenn wir ein Stück entlanggegangen sind, kreuzen wir die Straße und gehen wieder auf die andere Seite. Wenn er uns dann noch folgt, wissen wir sicher, daß er es auf uns abgesehen hat.«
Als sie ihren Plan durchgeführt hatten, stand es außer jedem Zweifel, daß man ihnen folgte. Sie stiegen deshalb in einen Autobus, der nach dem Westen fuhr. Lois sah, daß der Mann eine Taxe anrief, die neben dem Autobus herfuhr.
»Wenn ich wüßte, daß es Mike ist, würde ich zurückgehen und ihm einmal ganz gehörig die Meinung sagen«, grollte Lizzy.
»Er ist es gewiß nicht«, beschwichtigte sie Lois. »Mr. Dorn ist nicht so groß und sieht auch besser aus.«
Sie verließen den Autobus in der Nähe der Victoria Street, und als sie über die Straße eilten, sahen sie, daß auch das Mietauto anhielt und der Mann ausstieg. Er machte nie den Versuch, sie zu überholen, und zeigte auch nicht die leiseste Neigung, sich ihnen zu nähern. Wenn sie langsam gingen, tat er dasselbe, wenn sie sich beeilten, beschleunigte er ebenfalls seine Schritte.
Plötzlich sah Lois Michael Dorn vor sich. Er stand mitten auf dem Gehsteig, und es war unmöglich, an ihm vorüberzugehen.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Miss Reddle. Sie gehen doch nicht zu Lady Moron zurück?«
»Ich bin eben dabei, das zu tun«, sagte Lois ruhig.
»Sie werden es nicht tun«, erwiderte er entschieden. »Miss Reddle, ich habe Ihnen so manchen Dienst erwiesen, ich würde es gern sehen, wenn Sie auch einmal etwas für mich täten.« Er schien um Worte verlegen zu sein. »Ich habe ein persönliches Interesse daran. Ich vermute zwar, daß Sie mich nicht leiden können – aber immerhin, ich habe Sie gern.«
»Danke schön«, entgegnete sie kurz.
»Sie können ruhig sarkastisch sein – ich kümmere mich nicht darum. Ich sage Ihnen einfach die nackte Wahrheit. Ich verehre Sie, wie nur irgendein anständiger Mann ein Mädchen von Ihrem Charakter und Ihrer –«
»Schönheit«, ergänzte Lizzy, die interessiert zuhörte.
»Anmut – das ist das richtige Wort«, sagte Dorn und lächelte schwach.
»Und gerade weil ich mich persönlich so für Sie interessiere und Sie gern habe – ich fühle, daß meine Ausdrücke nicht richtig sind und meine Worte Sie nicht überzeugen, aber ich bin Damen gegenüber immer verlegen –, jedenfalls will ich, daß Sie in die Charlotte Street zurückgehen.«
Lois schüttelte den Kopf.
»Wohin ich gehe, kann Ihnen sehr gleichgültig sein!«
»Ich habe das größte Interesse daran, daß Sie in Ihre Wohnung in die Charlotte Street zurückkehren!«
»Obwohl oder gerade weil Sie es gesagt haben, werde ich diese Nacht im Haus der Lady Moron bleiben. Morgen werden Miss Smith und ich wieder in die Charlotte Street gehen.«
»Sie gehen heute abend noch zurück!« sagte er fast schroff.
Sie reckte sich empört auf.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie kühl.
»Ich meine genau das, was ich eben gesagt habe. Ich will nicht, daß Sie noch eine Nacht in diesem schrecklichen Haus zubringen. Lassen Sie sich doch davon überzeugen, Miss Reddle«, fuhr er sanfter fort. »Sie müssen sich nicht einbilden, daß es eine Laune von mir wäre oder daß ich irgendein ungerechtes Vorurteil gegen Lady Moron oder ihren Sohn hätte. Ich bitte Sie nur, heute abend nicht zum Chester Square zu gehen.«
»Können Sie mir irgendeinen Grund dafür angeben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie müssen mir vertrauen und glauben, daß ich sehr triftige Gründe habe, wenn ich sie Ihnen im Augenblick auch nicht sagen kann. Sehen Sie denn das nicht selbst ein?«
»Nein«, erwiderte sie. »Es sind mehrere Unglücksfälle vorgekommen – meinen Sie etwa, daß Lady Moron daran schuld ist?«
»Ich meine gar nichts.«
»Dann gute Nacht.« Sie wollte weitergehen, aber er vertrat ihr den Weg. Er mußte der dunklen Gestalt im Hintergrund ein Zeichen gegeben haben, denn plötzlich kam der große Mann auf sie zu.
»Dies ist Sergeant Lighton von der Kriminalpolizei«, sagte er kurz. Dann zeigte er auf das Mädchen. »Dies ist Lois Reddle – ich beschuldige sie des versuchten Mordes an John Braime!«
Das Mädchen hörte die Worte und war wie vom Donner getroffen.
»Wessen beschuldigen Sie mich?« fragte sie erschrocken. »Aber Mr. Dorn –«
Der Detektiv winkte stumm, und der große Mann nahm Lois höflich am Arm. Eine halbe Stunde nachdem sich das Gefängnistor vor Mrs. Pinder geöffnet hatte, schloß sich die Tür einer Polizeizelle hinter ihrer Tochter.