Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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15

Sie hatte ihren Schreck bald überwunden und sprang aus dem Bett. Besser der Gefahr offen ins Auge sehen, als in Ungewißheit schweben. Alle Furcht war von ihr gewichen – sie wollte Dorn gegenübertreten und von ihm die Wahrheit erfahren. Schnell hatte sie sich angezogen, lief zur Tür, drehte den Schlüssel geräuschlos um und eilte die dunkle Treppe hinab.

Als sie auf dem Treppenabsatz stand, lag ihr die Tür des Salons gegenüber. Sie zögerte nicht und öffnete. Das Zimmer lag im Dunkeln. Sie faßte nach dem Schalter und drehte das Licht an. Aber der Raum war leer, nichts rührte sich, nur das musikalische Ticken der französischen Uhr auf dem Kamin unterbrach die Stille. Von Michael Dorn oder seinem unbekannten Begleiter konnte sie keine Spur entdecken. Sie starrte erschrocken um sich, dann hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich und fuhr herum.

»Was gibt es hier?«

Es war die Stimme der Gräfin, die in demselben Stockwerk wie Lois schlief.

»Drehen Sie doch das Licht an der Treppe an«, sagte sie ruhig.

Lois tat es und erblickte die Gräfin oben an der Treppe, die in einen weiten Hermelinmantel eingehüllt war. Sie schien nicht im mindesten erstaunt zu sein.

»Ich glaubte, unten Stimmen zu hören und ging herunter.«

»Aber es ist niemand hier – Sie müssen sich geirrt haben. Ich fürchte, Sie sind nervös geworden. Ich wachte auf, als Sie Ihre Tür aufmachten. Was für ein Geräusch haben Sie denn gehört? Fenster und Fensterläden sind doch fest verschlossen, und alle Tische und Stühle stehen genauso da wie vorher.«

»Ich hörte jemand sprechen«, sagte Lois.

»Es ist besser, daß Sie jetzt zu Bett gehen, mein Kind.«

Sie klopfte Lois mit ihrer großen Hand beruhigend auf die Schulter, und das Mädchen folgte ihr, ging die Treppe wieder hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.

 

Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück herunterging, fühlte sie sich sehr elend. Lizzy war durch ihre Freundin gewarnt und erwähnte bei Tisch nichts von ihrem nächtlichen Erlebnis. Lois geleitete sie zur Haustür und kam in den Speisesaal zurück. Ein Diener räumte eben unter Braimes Aufsicht den Tisch ab.

»Die Gräfin sagte mir, daß Sie in der Nacht jemand sprechen hörten«, erklärte der Butler, als der Diener das Zimmer verlassen hatte.

»Ja – es ist aber auch möglich, daß ich geträumt habe oder mir nur einbildete, die Stimme der Gräfin im Salon gehört zu haben.«

»Lady Moron war vorige Nacht nicht im Salon«, antwortete er zu ihrer größten Überraschung.

Sie starrte ihn groß an.

»Die Gräfin ging zur Bibliothek, also können Sie es von Ihrem Zimmer aus nicht gehört haben.«

Die Bibliothek! Also war das Mikrophon dort angebracht. Während sie auf dem Treppenabsatz mit Lady Moron sprach, war Michael Dorn mit seinem Gehilfen in der Bibliothek gewesen, die im Erdgeschoß auf der Rückseite des Hauses lag. Sie war jetzt dankbar, daß sie ihn nicht getroffen hatte, während diese wachsame Frau im Hause umherging.

»Ich glaubte, Sie zu hören, als Sie Ihre Türe öffneten«, fuhr Braime fort. »Ich wollte gerade nach unten kommen, als ich bemerkte, daß die Gräfin aufstand. Übrigens wird sie nicht vor ein Uhr herunterkommen. Sie hat zwei Freunde zum Mittagessen eingeladen. Lady Moron wünscht, daß Sie die Briefe allein beantworten, die nicht den Vermerk ›Persönlich‹ tragen.«

Lois war mitten in dieser Beschäftigung, als der junge Lord Moron in den Salon kam. Er war sehr nervös und aufgeregt.

»Guten Morgen, Miss Reddle«, sagte er und sah sie scharf an. »Nun, fühlen Sie sich wohl?«

»Nicht besonders«, lächelte Lois.

»Das ist ein merkwürdiges Haus«, murmelte er dann. »Man hört alle möglichen Geräusche – in all diesen alten Häusern spukt es ein bißchen. Sind Sie nicht gestört worden – hat niemand laut auf der Straße gesprochen?«

»Nein, ich bin nicht gestört worden«, sagte sie, und er atmete erleichtert auf.

»Da bin ich sehr froh – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich in Ihr Zimmer gehe und alles mitnehme, was ich noch brauche? Aber bitte erwähnen Sie es der Gräfin gegenüber nicht, sonst denkt sie wieder, ich sei ein vergeßlicher Mensch, und macht mir eine große Szene deswegen!«

Lois versprach es, und er eilte aus dem Raum. Als sie nach oben ging, um sich für das Mittagessen umzuziehen, schaute sie zu dem Thronhimmel hinauf und sah, daß der Lautsprecher und die Drähte entfernt waren; sie hatte es auch nicht anders erwartet. Sie hätte sich sogar darüber amüsiert, wenn ihr nicht klar gewesen wäre, daß eine schreckliche Gefahr über ihr schwebte. Sie war sich bewußt, daß die Drohung irgendwie mit der Gräfin und ihrem Freund zusammenhing.

»Lois Reddle schwebt in großer Gefahr!« Sie zitterte, als sie sich an diese Worte erinnerte. Zweimal war sie in der letzten Woche mit knapper Not dem Tod entgangen. Die Unglücksfälle hatten sich nicht zufällig ereignet, das stand jetzt fest. Aber wer konnte ihr nur nach dem Leben trachten? Und was hatte die Fotografie des jungen Offiziers mit ihr zu tun?

In einem Punkt war sie schon zu einem Entschluß gekommen und hatte das auch Lizzy am Morgen mitgeteilt, während sie sich ankleideten. Sie wollte dieses Haus verlassen und lieber eine Weile ohne Stellung sein.

Lady Moron erschien kurz vor dem Mittagessen im Salon, sah die Briefe durch und gab ihre Unterschrift, wo es notwendig war.

Dann teilte ihr Lois ihre Absicht mit. Zu ihrer Überraschung war die große Frau nicht im mindesten erstaunt oder empört darüber.

»Als ich Sie heute morgen sah, fürchtete ich schon, daß das kommen würde. Und ich kann es Ihnen auch nicht übelnehmen, Miss Reddle. Sie haben hier Schreckliches erlebt, obgleich ich annehme, daß die Störung, die Sie letzte Nacht hatten, nur in Ihrer Einbildung bestand.«

Lois sagte nichts.

»Wann wollen Sie gehen? Ich nehme an, so bald wie möglich? Nun gut, ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich fühle, daß ich zum Teil dafür verantwortlich bin. Ich werde Ihnen ein Monatsgehalt auszahlen, und Sie können mich morgen verlassen.«

 

Die beiden Gäste waren Chesney Praye und ein anderer Mann, den Lois noch nicht gesehen, von dem sie aber durch den jungen Grafen schon viel gehört hatte. Nach diesem Zusammentreffen fühlte sie den dringenden Wunsch, ihn nicht mehr treffen zu müssen. Er war ein Mann von fünfzig Jahren, hatte einen kahlen Kopf, ein rotes, aufgedunsenes Gesicht, eine blaurote, unförmige Nase und einen immer offenen Mund. Wenn sie ihm auf der Straße und nicht in dieser vornehmen Umgebung begegnet wäre, hätte sie ihn für einen typischen Trinker gehalten. Diese Bezeichnung war auch in jeder Weise gerechtfertigt. Sein Anzug war alt und an den Nähten aufgeschlissen, und die Fingernägel hatte er nur oberflächlich gereinigt.

»Ich möchte Ihnen Dr. Tappatt vorstellen!«

Das war also der berühmte Doktor! Er machte aber wenig Eindruck auf sie.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, mein liebes Fräulein, ich freue mich wirklich sehr«, sagte er mit erheuchelter Herzlichkeit. Ein schwacher Duft von Whisky und Knoblauch strömte von ihm aus, wenn er sprach. »Sie sind doch die junge Dame, von der Mylady gesprochen hat? Sie hören Stimmen – das ist ein schlechtes Zeichen.« Er lachte. »Wirklich ein sehr schlechtes Zeichen, mein liebes Fräulein. Da haben wir's ja schon, nicht wahr, Chesney?«

Lois sah, wie der Butler das Glas dieses merkwürdigen Menschen mit Wein füllte, und als sie wieder hinsah, war es leer. Offenbar war Braime, wenn er nicht bereits diese Eigenheiten des Gastes kannte, sorgsam darauf eingedrillt, denn er versorgte ihn, ohne zu fragen.

Der junge Lord Moron erschien auch bei Tisch, aber er war in gedrückter Stimmung und schwieg. Sein Gesicht hatte er so wenig wie möglich verbunden.

»Wie, Sie hatten einen Unfall? Waren Sie bei einer Eisenbahnkatastrophe dabei?« fragte der Doktor. »Eure Lordschaft sollten sich etwas mehr in acht nehmen!«

»Ich war bei keinem Eisenbahnunglück!« sagte Selwyn trotzig. Offenbar kannte er den Doktor gut. Lois hatte das Gefühl, daß er sich vor ihm fürchte. Sie sah ihn ein paarmal verstohlen zu dem unsauberen Mann hinüberblicken.

»Da ist ja noch jemand, der Stimmen hört, nicht wahr? Sind Eure Lordschaft nicht von einem Hund verfolgt worden, einem kleinen, netten, schwarzen Hund, der mit dem Schwanz wedelte?«

»Nein«, sagte Lord Moron entschieden. Er wurde erst rot, dann weiß. »So etwas habe ich niemals gesagt. Ich bin vollkommen sicher – ich weiß genau, was ich tue. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, Dr. Tappatt!«

Für Lois Reddle war es eine in jeder Beziehung sehr unangenehme Mahlzeit. Der düstere Widerwille des jungen Moron, die ruhige Gleichgültigkeit seiner Mutter, die rohen Späße Chesney Prayes und die Gegenwart des Arztes, der, wenn er nicht trank, sich mit seinen wunderbaren Kuren rühmte, die er in Indien ausgeführt hatte – dies alles erweckte in ihr den Eindruck des Gespenstischen und Unwirklichen. Dr. Tappatt sprach sie nur noch einmal an.

»Ich habe gehört, Sie hätten versucht, sich vom Balkon herunterzustürzen. Mein liebes Fräulein, das ist schlimm – das –.« Unsicher wandte er ihr sein tierisches Gesicht zu und sah sie mit blutunterlaufenen Augen böse an.

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Lady Moron. »Der Balkon stürzte unter Miss Reddle ein – es hat doch niemand gesagt, daß sie selbst den Versuch machte, sich auf die Straße zu stürzen.«

»Das war doch auch nur ein Witz«, lachte der Doktor. Er ließ sich durch die Gräfin nicht im mindesten einschüchtern und schob dem aufmerksamen Braime wieder sein Glas hin. »Das ist ein guter Wein, Mylady, ein feiner, voller, kräftiger Wein mit einem großen Bouquet. Vermutlich Romani-Conti?«

»Clos de Vougeot«, verbesserte ihn Lady Moron.

»Der Unterschied zwischen den Weinen von Vougeot und Vosne ist nur gering«, sagte der Weinkenner. »Für gewöhnlich ziehe ich Conti vor, aber Mylady haben mich bekehrt.«

Das Essen dauerte ziemlich lange, und Lois wünschte sehnlichst, daß es vorüber wäre. Endlich erhob sich die Gräfin und trat zu ihrem Sohn.

»Wenn du heute abend zum Essen kommst, dann sei so gut und nimm den letzten Rest dieses lächerlichen Pflasters vom Gesicht. Ich möchte, daß du wie ein Gentleman aussiehst und nicht wie ein Preisboxer.« Sie überlegte sich jedes Wort. »Sonst bin ich vielleicht gezwungen, Dr. Tappatt um Rat zu fragen.«

Lord Moron zuckte bei den letzten Worten zusammen und murmelte eine Entgegnung, die Lois aber nicht verstehen konnte. Sie war froh, als die Gräfin sie aufforderte, in der Bibliothek zu arbeiten. Sie hatte vorher nur einen kurzen Blick in diesen Raum werfen können und war begierig, das Zimmer näher kennenzulernen, in dem die Gräfin so viele Stunden mit ihren Legespielen zubrachte. Aber vor allem wollte sie das versteckte Mikrophon entdecken, das Lord Moron dort angebracht hatte.

Es war ein schöner Raum, nicht allzu hoch, aber langgestreckt. Er reichte von der Wand des Empfangszimmers vorn im Haus bis zu einem kleinen Abstellraum, der den häßlichen Hof auf der Rückseite des Gebäudes verdeckte. Alle Wände waren mit Bücherschränken verstellt, außerdem befand sich noch ungefähr ein Dutzend Aktenschränkchen hier, in denen die Gräfin alle Andenken aufhob, die sie im Laufe ihres langen Lebens gesammelt hatte: Theaterprogramme, Zeitungsausschnitte und Briefe. Die meisten Menschen hätten keinen Wert darauf gelegt, solche Papiere aufzuheben, aber Lady Moron war eine methodische Frau und scheute davor zurück, irgend etwas zu vernichten. Das erzählte sie auch Lois, als sie ihr den Raum zeigte.

Als Lois wieder allein war, untersuchte sie die ganze Bibliothek sorgfältig, ohne jedoch das verborgene Mikrophon oder die Drahtleitung zu entdecken. Sie fand, daß eine Abteilung eines Bücherschranks durch eine mit feinem Drahtgewebe überzogene Sicherheitstür verschlossen war. Sie konnte aber deutlich die Titel der Bücher sehen und war überrascht über diese Vorsichtsmaßregeln, die die Lektüre dieser Bücher verhindern sollten. Die Bücher waren von der unschuldigsten Art, und sie nahm an, daß es vielleicht früher anders gewesen war.

Als sie ihre Arbeit beendet hatte, ging sie an den Schränken entlang, betrachtete die Bücher, nahm eins nach dem anderen heraus und durchblätterte es, um sich zu unterrichten.

Plötzlich kam Braime herein, und sie sah sofort, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen war. Sein Gesicht zuckte. Offenbar war er furchtbar erregt, aber es gelang ihm, sich zu fassen.

»Würden Sie bitte in den Speisesaal gehen, Fräulein? Dort ist ein Herr, der Sie sprechen möchte.«

»Ein Herr? Wer ist es denn?«

»Ich kenne seinen Namen nicht. Aber wenn er noch nicht dort sein sollte, so warten Sie bitte auf ihn.«

»Aber wer ist es denn, Braime? Hat er Ihnen seinen Namen nicht genannt?«

»Nein, gnädiges Fräulein.« Seine Hände zitterten, und in seinen Augen lag ein ganz fremder Ausdruck.

»Im Speisesaal?« fragte sie noch einmal, als sie hinausging.

»Jawohl, Fräulein.«

Sie schaute sich noch einmal um und war erstaunt, daß er ihr nicht folgte. Der Speisesaal war leer, sie fand dort nur ihre Zofe. Das Mädchen staubte ab und wunderte sich, daß Lois hereinkam.

»Braime sagte, daß mich ein Herr sprechen wolle.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nichts von einem Herrn, Fräulein. Aber ich weiß etwas anderes«, sagte sie böse. »Braime ist kein anständiger Mensch. Ich habe ihn gerade dabei ertappt, wie er aus dem Schlafzimmer der Gräfin kam, und ich will es ihr nachher sagen. Er ist ein hinterlistiger Schnüffler –«

»Bitte, sehen Sie nach, wer mich sprechen möchte. Vielleicht wartet der Herr in der Halle.«

Die Zofe ging hinaus und kam bald wieder zurück.

»Es ist niemand da, Fräulein. Der Diener sagte, daß kein Besuch gekommen ist, seit Dr. Tappatt fortging. Mr. Praye ist mit der Gräfin im Salon.«

Was sollte das bedeuten? Lois runzelte die Stirn. Braime hatte sie nur aus dem Raum entfernen wollen! Sie eilte zur Bibliothek zurück und öffnete die geschlossene Tür.

»Braime –«, begann sie und hielt plötzlich entsetzt ein.

Der Butler lag still und bewegungslos in der Mitte des Fußbodens auf dem Rücken. Sein kreidebleiches Gesicht war verzerrt und seine Lippen verkrampft.

 


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