Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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20

»Das wäre also erledigt«, sagte Michael traurig, als er die Polizeistation mit dem Sergeanten wieder verließ. »Ich fasse jetzt einen richtigen Dieb, Lighton, wenn meine Schlußfolgerungen richtig sind. Ich ließ mir einen Brief vom Justizministerium schicken, der heute nachmittag an meine Adresse aufgegeben wurde.«

»Glauben Sie, daß man Ihren Briefkasten beraubt?« fragte Lighton.

Der Detektiv antwortete erst, als sie in einem Auto saßen.

»Wir wollen nicht Briefdiebstahl, sondern Briefverzögerung sagen. Ich kam nämlich dahinter, daß alle Briefe meines Nachrichtenagenten und meines Freundes bei der Regierung stets ohne jeden Grund mit Verspätung ankamen. Ich beschäftigte mich mit der Sache und merkte, daß ich von beiden Stellen Briefe in blauen Umschlägen erhielt.«

»Wie geht es Braime?« fragte der Sergeant.

»Besser«, war die kurze Antwort. »Ich habe ihn heute abend gesprochen – das wird er sein Leben lang nicht vergessen.« Er lachte leise vor sich hin, obwohl sein Herz schmerzte, als er an das bestürzte und empörte Mädchen dachte, das zu dieser Stunde in der großen und luftigen Frauenzelle einer Polizeistation saß.

Der Wagen hielt vor den Hiles Mansions, und der Fahrstuhlführer brachte sie zu Dorns hübscher Wohnung. Zwei oder drei Briefe lagen in seinem Briefkasten. Er nahm sie heraus, prüfte sie, ging dann wieder auf den Treppenflur hinaus und klingelte nach dem Fahrstuhl.

»Haben Sie die Briefe heraufgebracht?« fragte er.

»Ja, Sir!«

»Wann kamen sie an?«

»Um halb zehn.«

»Heute nachmittag um halb vier wurde ein Brief in einem blauen Umschlag an mich abgesandt – er befindet sich nicht unter meiner Post. Wie kommt das?«

Der Fahrstuhlführer schaute beiseite.

»Ich weiß es nicht.« Er vermied Michaels Blick ängstlich. »Ich bringe die Briefe herauf, sobald sie kommen, und werfe sie dann in den Kasten.«

»Sie haben von neun Uhr abends bis neun Uhr morgens Dienst, das stimmt doch?«

»Jawohl, Sir!«

»Sie haben also die Morgen- und Abendpost zu besorgen. Wie kommt es, daß alle Briefe, die blaue Umschläge haben, mich stets vierundzwanzig Stunden später erreichen, als sie es eigentlich sollten?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Dann sagen Sie es wenigstens diesem Herrn hier – er ist ein Detektiv von Scotland Yard –, und sagen Sie es ihm schnell und ohne alle Umschweife, sonst werden Sie diese Nacht nicht sehr bequem schlafen.«

Eine Zeitlang wehrte sich der Mann noch und widersprach, aber plötzlich wurde er klein.

»Ich habe eine Frau und vier Kinder«, jammerte er. »Und meine Militärpension werde ich auch verlieren –«

»Sie werden nichts verlieren, wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen. Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, meine Briefe aufzuhalten?«

»Ein Herr – ich kenne nicht einmal seinen Namen. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll, kann ich Ihnen den Namen nicht sagen. Er gibt mir zwei Pfund die Woche, damit ich alle Briefe in blauen Umschlägen aufhalte, auch alle amtlichen Schreiben, die an Sie kommen. Ich habe sie niemals gestohlen, ich habe sie immer wieder in Ihren Briefkasten gelegt –«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Dorn kurz. »Sie verschwenden nur Ihre Lunge, wenn Sie mir das alles erzählen. Wer hat Ihnen diesen Auftrag gegeben?«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich ihn nicht kenne, Sir. Ich traf ihn eines Abends in einer Wirtschaft. Er beschwatzte mich, bis ich auf die Sache einging. Ich wünschte, ich hätte ihn nie gesehen.«

»Kommt er wegen der Briefe hierher?«

»Ja, er kam auch heute morgen, nachdem die Post hier war. Aber ich habe ihm den blauen Brief nicht gegeben, weil ich ihn noch nicht hatte. Der Postbeamte mußte ihn übersehen haben, er kam eine Viertelstunde später nochmals zurück und gab ihn mir.«

»Den blauen Brief? Welchen blauen Brief?« fragte Michael schnell.

»Er liegt unten«, winselte der unzuverlässige Portier der Hiles Mansions.

»Ich werde jetzt mit Ihnen hinunterfahren und ihn holen.«

In den Eingangsflur war ein kleiner Raum eingebaut, der dem Portier als Büro diente. Unter einer Schreibunterlage zog er zwei blaue Briefe heraus.

Den ersten erkannte Michael als den Brief wieder, den er selbst geschrieben hatte, den zweiten öffnete er schnell und las. Lighton sah, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Er steckte den Brief rasch in seine Tasche und wandte sich zu dem erschrockenen Portier.

»Was ist sonst noch gekommen? Heraus damit, schnell!«

Ohne ein Wort langte der Mann in die Tasche eines Rockes, der an der Wand hing, und nahm ein Telegramm heraus, das allem Anschein nach geöffnet und wieder geschlossen worden war. Michael las es wuterfüllt.

»Zum Teufel mit diesem Kerl«, sagte er, rannte aus der Halle und sprang in die nächste leere Taxe, die er sah.

Zehn Minuten später war er bei seiner Garage, und gleich darauf fuhr ein großer, schwarzer Wagen mit Blitzgeschwindigkeit aus London hinaus.

Es schlug Mitternacht von der Dorfkirche von Telsbury, als das Auto vor dem Gefängnis hielt. Michael Dorn sprang heraus und drückte auf die Klingel.

»Der Direktor schläft schon, Sir.«

»Ich muß ihn sofort sprechen. Es geht um Leben und Tod. Geben sie ihm meine Karte.« Er steckte sie durch das Gitter und wartete ungeduldig, bis er eingelassen und zum Haus des Direktors geführt wurde, der ihn im Pyjama und Schlafrock in seinem kleinen Arbeitszimmer erwartete.

»Mrs. Pinder ist um zehn Uhr fortgefahren. Hatten Sie denn nicht den Wagen geschickt?«

»Nein, ich wußte gar nichts von ihrer Entlassung. Der Brief vom Justizministerium, der mich davon unterrichten sollte, ist aufgehalten worden. Zehn Uhr? Wer holte sie ab?«

»Ich weiß es nicht, ich dachte, Sie wären es. Ich sah den Wagen und kümmerte mich nicht weiter darum.«

»Wissen Sie, welchen Weg er nahm?«

»Sie fuhren in der Richtung nach London. Es war ein kleiner Wagen – ein Buick, denke ich. Ist sie nicht angekommen?«

Michael schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht in London.«

Es war keine Zeit zu verlieren. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr in höchster Eile die London Road entlang. Am Telsbury-Kreuzweg befand sich eine Tankstelle, und er wußte, daß dort jemand im Rückgebäude schlief. Es dauerte einige Zeit, bis er auf sein Klopfen eine Antwort erhielt, aber dann bekam er eine wertvolle Information.

»Ich sah den Wagen vorbeifahren. Er fuhr nach Süden, auf Letchford zu.«

»Nicht auf der London Road?«

»Nein, er wendete hier um. Kurz bevor ich mich schlafen legte, sah ich das Schlußlicht vor dem Hügel.«

Michael Dorn stieg wieder ein und legte die fünfzehn Meilen von Telsbury nach Letchford in genau fünfzehn Minuten zurück. Hier hatte er wieder Glück. Ein Polizist hatte den Wagen gesehen, der westwärts gefahren war. Aber dann kam er an einen Punkt, an dem sich vier Straßen kreuzten, und er konnte nicht herausfinden, welche Richtung der unbekannte Chauffeur eingeschlagen hatte. Auf keinen Fall waren sie nach London gefahren. Er fuhr erfolglos die eine Straße entlang, nahm dann seinen Weg über das Feld, um die zweite abzuschneiden, aber er traf niemand, der ihm die geringste Auskunft geben konnte.

Um vier Uhr morgens hielt er wieder vor dem Polizeirevier von Chelsea und stieg langsam die Stufen zu dem Dienstzimmer hinauf.

»Hallo, Mr. Dorn!« sagte der Sergeant. »Der Inspektor hat die ganze Nacht nach Ihnen gefragt wegen dieses Falles.«

»Was gibt es denn?« fragte Michael müde.

»Das geht mit dem Teufel zu! Die Gräfin gibt an, das Mädchen sei nicht in dem Zimmer gewesen, als Braime verletzt wurde. Wir haben eine vollständige schriftliche Aussage von ihr, und der Inspektor sagte, daß er Ihnen etwas sagen wird, was Sie nicht so schnell vergessen werden!«

Dorns Lippen zogen sich wütend zusammen.

»Wenn er sich untersteht, irgend etwas Nennenswertes zu sagen, werde ich den Dienst quittieren! Aber immerhin, Sie können sie jetzt freilassen. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen.«

»Sie freilassen!« lachte der Sergeant. »Da kommen Sie ein bißchen spät! Sie ist schon um zwei Uhr morgens wieder entlassen worden.«

Der Detektiv fuhr zusammen.

»Um zwei Uhr morgens?« wiederholte er leise. »Ging sie allein weg?«

»Nein, ein Herr holte sie mit einem blauen Buickwagen ab.«

Michael wankte einen Schritt rückwärts, sein Gesicht war erschöpft und verstört, und er schien plötzlich gealtert zu sein.

»Der Mann, der das Mädchen befreite, hat wahrscheinlich Beihilfe an einem Mord geleistet!« sagte er. »Erzählen Sie das dem Inspektor, wenn Sie ihn sehen!«

Dann wandte er sich um und verließ den Raum.

Das Büro des Staatsanwalts wurde erst morgens um zehn Uhr geöffnet, und Michael Dorn wartete dort. Er war verstaubt, unrasiert, und sein Gesicht sah grimmig aus.

»Hallo, Dorn – was ist Ihnen denn passiert?« fragte der Beamte.

In wenigen Worten erklärte der Detektiv die Lage.

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf.

»Wir können nichts tun. Wir haben nicht den Beweis, den wir brauchen, und können infolgedessen keine Anklage erheben. Wir haben Ihnen in Anbetracht der seltsamen Umstände dieses Falles freie Hand gelassen, aber ich kann keinen Haftbefehl ausstellen, bevor Sie mir nicht den positiven und unumstößlichen Beweis beibringen.«

Dorn biß sich auf die Lippen.

»Wenn man in früheren Zeiten einen Mann nicht dazu bringen konnte, die Wahrheit zu sagen – was tat man da, Sir Charles?«

»Nun ja, man goß ein wenig kochendes Öl auf ihn! Damals war die Untersuchung von Verbrechen etwas leichter als heute!«

»Sie war nicht leichter.« Michael schüttelte den Kopf. »Ich werde die Wahrheit erfahren. Ich bringe heraus, wohin sie diese beiden Frauen gebracht haben! Und die Streckfolter und die Daumenschrauben sollen ein Kinderspiel sein im Vergleich zu den Mitteln, die ich gegen sie anwenden werde! Ich erfahre die Wahrheit – und wenn ich Chesney Praye Glied um Glied ausreißen müßte!«

 


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