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Der düstere Eingang der Strafanstalt von Telsbury wird gnädig von einer Gruppe dunkler Fichten verborgen. Die roten Wände haben mit der Zeit ihre grelle Farbe verloren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mitte emporragte, würde ein Wanderer daran vorübergehen, ohne das Gebäude zu bemerken.
Lois hatte das Gefängnis schon zweimal besucht, um Aufträge ihres Chefs dort zu erledigen. Einer seiner Klienten hatte eine Frau wegen Betrugs angezeigt. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden. Es war nun notwendig, ihre Unterschrift unter gewisse Dokumente zu erhalten, um die Aktien, die betrügerischerweise verschoben worden waren, ihrem rechtmäßigen Eigentümer wieder zustellen zu können.
Sie ließ ihren Wagen an der Seite des hohen Straßentors halten, stieg aus und klingelte. Gleich darauf wurde ein Gitter von einem Fenster zurückgeschoben, und die wachsamen Augen des Pförtners richteten sich auf sie. Obwohl er sie wiedererkannte, mußte sie ihm doch erst ihren Passierschein zeigen. Dann schloß er auf und führte sie in einen mit Steinfliesen gepflasterten Raum. Die Einrichtung war sehr einfach, sie bestand nur aus einem Pult mit einem Schreibsessel, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen.
Der Wärter las den Passierschein noch einmal durch und drückte dann auf eine Klingel. Er, die beiden Leute, die ihn ablösten, und der Direktor der Anstalt waren die einzigen Männer, die in diese Mauern kamen. Sein Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf den kleinen Raum und den Torweg, der vom Innenhof durch starke, eiserne Gitter getrennt war.
»Ist es Ihnen nicht unangenehm hierherzukommen, mein Fräulein?« fragte er lächelnd.
»Gefängnisse machen mich immer elend und krank«, sagte sie.
Er nickte.
»Hier drinnen leben sechshundert Frauen, die noch viel matter und kränker sind, als Sie, hoffentlich, jemals in Ihrem Leben sein werden«, erwiderte er zuvorkommend. »Nicht daß ich eine von ihnen zu sehen bekomme – ich öffne ihnen nur das Tor zum Gefängnis und dann sehe ich sie, solange sie hier sind, nicht wieder. Nicht einmal, wenn sie entlassen werden.«
Eine Tür wurde aufgeschlossen, und eine junge Wärterin in gutsitzender blauer Uniform trat ein. Sie grüßte Lois mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie durch eine kleine Stahltür über einen großen Hof, der einsam und verlassen dalag. Danach traten sie durch eine andere Tür und gingen einen langen Gang entlang bis zu dem kleinen Büro des Gefängnisdirektors.
»Guten Morgen, Direktor. Ich möchte gern mit Mrs. Desmond sprechen.« Sie entfaltete ihre Dokumente und legte sie dem grauhaarigen Mann auf den Tisch.
»Sie wird jetzt in ihrer Zelle sein«, sagte er. »Kommen Sie mit, Miss Reddle, ich werde Sie persönlich hinbringen.«
Am Ende des Ganges befand sich eine andere Tür, die in eine große Halle führte. Auf beiden Seiten liefen eiserne Verbindungsgänge, die man über eine breite Mitteltreppe erreichen konnte. Lois schaute in die Höhe, sah die Drahtnetze über ihrem Kopf und schauderte. Sie wußte, daß sie angebracht waren, um zu verhindern, daß diese unglücklichen Frauen sich von oben herabstürzten und ihrem Leben so ein Ende machten.
»Wir sind da«, sagte der Direktor und öffnete die Zellentür.
Fünf Minuten mußte sie mit der eigensinnigen, verbitterten Frau verhandeln, die sich mit weinerlicher Stimme über alles beschwerte und allen Vorwürfe machte. Schließlich trat Lois mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung wieder zu dem Direktor hinaus.
»Gott sei Dank – ich werde nie wieder hierherkommen!« sagte sie, als er die Zelle verschloß.
»Wollen Sie Ihre Anwaltstätigkeit aufgeben?« fragte er scherzend. »Ich habe schon immer gesagt, daß das kein passender Beruf für eine junge Dame ist.«
»Sie überschätzen mich und meine Stellung. Ich bin nur eine einfache Stenotypistin und weiß von dem Gesetz kaum mehr, als daß Stempelmarken auf gewisse Urkunden gehören und an bestimmten Stellen aufgeklebt werden müssen!«
Sie kehrten nicht auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, sondern gingen durch die große Halle in den Hof. Die Organisation der Anstalt war so vorzüglich, daß sich in der kurzen Zeit, die sie in der Zelle verbrachte, der ganze Hof mit grauen Gefangenen gefüllt hatte, die im Kreis umhergingen.
»Um diese Zeit machen sich die Gefangenen immer Bewegung«, erklärte der Direktor. »Ich dachte, Sie würden es vielleicht gern einmal sehen.«
Lois war von Mitleid erfüllt, und ihr Herz lehnte sich gegen das Gesetz auf, das diese Frauen zu anonymen Nummern erniedrigte. Die einfachen Kattunkleider und die weißen Hauben erschienen ihr häßlich, und dieser Anblick stimmte sie traurig. Kummer und namenlose Furcht packten sie. Jedes Alter war hier vertreten, sie sah junge Mädchen und alte, verstockte Frauen. Auf jedem Gesicht las Lois den unleugbaren Stempel des Ungewöhnlichen. Als sich dieser gespenstische Kreis langsam an ihr vorüberbewegte, sah sie wilde und schlaue, aber auch ermattete und in ihrem Kummer ergreifende Gesichter. Trübe Augen starrten gedankenlos vor sich hin, dunkle Augen blitzten boshaft auf, sorglose Blicke streiften Lois oberflächlich. Die sich vorwärts schiebenden Frauen erschienen ihr unheimlich und unwirklich.
Beinahe der ganze gräßliche Kreis war an ihr vorübergegangen, als sie eine große stattliche Gestalt wahrnahm, die nicht in diese grauenvolle Umgebung zu gehören schien. Die Frau ging aufrecht, mit erhobenem Kopf, und ihre ruhigen Augen sahen geradeaus. Sie mochte zwischen Vierzig und Fünfzig sein. Ihre feingeschnittenen Züge waren nicht gefurcht, aber ihr Haar war weiß. Eine göttliche Ruhe strahlte von ihr aus.
»Was tut denn diese Frau hier?« fragte Lois, bevor sie sich bewußt wurde, daß sie eine Frage gestellt hatte, die kein Besucher an einen Gefängnisbeamten richten darf.
Direktor Stannard antwortete ihr nicht. Er beobachtete die Gestalt auch, als sie näher kam. Einen Augenblick ruhten die Augen der Frau ernst auf dem jungen Mädchen, aber nur eine Sekunde lang, so lange, wie eine Frau von Haltung das Gesicht einer Fremden anschauen würde. Dann war sie vorübergegangen.
»Es tut mir leid, daß ich Sie gefragt habe«, sagte sie, als sie an der Seite des Direktors durch das Gitter in sein Büro ging.
»Schon viele haben dieselbe Frage gestellt«, entgegnete er, »und haben auch keine Antwort erhalten. Es verstößt gegen die Gefängnisregeln, den Namen irgendeiner Gefangenen zu verraten. Das wissen Sie wohl. Aber merkwürdig –«
Er schaute sich um und nahm ein aufgeschlagenes Buch von einem Seitenbrett herunter. Es war ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr das Buch. Sie las den Titel: »Fawleys Kriminalfälle.«
»Mary Pinder«, sagte er kurz, und sie entdeckte, daß das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo das Kapitel mit diesem Namen begann. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade, bevor Sie kamen, den Fall nachgelesen habe. Ich bin alle Einzelheiten durchgegangen, um zu sehen, ob mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich ebenso verwundert über diese Frau bin wie Sie.« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme, als ob er irgendwelche Horcher fürchtete.
Sie schaute wieder auf die Überschrift: »Mary Pinder. Begangenes Verbrechen: Mord.« Sie war sehr erstaunt.
»Eine Mörderin?« fragte sie ungläubig.
Der Direktor nickte.
»Aber das ist doch unmöglich!«
»Lesen Sie den Fall.«
Sie schaute in das Buch:
Mary Pinder – verurteilt wegen Mordes vor dem Schwurgericht zu Hereford. Das Urteil lautete auf Tod, wurde später aber in zwanzigjährige Kerkerstrafe umgewandelt. Hier haben wir den typischen Fall eines Raubmordes. Die Pinder lebte mit einem jungen Mann zusammen, der allem Anschein nach ihr Gatte war. Dieser verschwand einige Zeit vor dem Verbrechen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mittel zurückließ. Ihre Wirtin, Mrs. Curtain, war eine reiche Witwe, deren exzentrische Launen beinahe an Geisteskrankheit grenzten. Sie verwahrte große Summen und viel alten Schmuck in ihrem Haus. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, annoncierte die Pinder um eine Stellung. Eine Frau, die sie in dem Haus aufsuchen wollte, fand die Haustür geöffnet. Nachdem sie verschiedentlich geklopft und keine Antwort erhalten hatte, trat sie ein. Sie bemerkte, daß eine der Zimmertüren offenstand, und als sie in den Raum schaute, sah sie zu ihrem größten Schrecken, daß Mrs. Curtain auf dem Boden lag und anscheinend einen Anfall hatte. Sie eilte sofort zu einem Polizisten, der aber nur feststellen konnte, daß die Frau tot war. Die Schubladen eines alten Sekretärs waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut; auch ein Schmuckstück war darunter. Da man Verdacht hatte, wurde das Zimmer der Mieterin, die das Haus kurz vor der Entdeckung verlassen hatte, in ihrer Abwesenheit durchsucht. Man fand dort in einem verschlossenen Kasten eine Flasche Zyankali und viele Juwelen. Die Verteidigung machte geltend, daß die Verstorbene schon mehrmals versucht hatte, Selbstmord zu verüben, und daß man nicht beweisen konnte, daß die Pinder das Gift gekauft hatte, das in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurde. Die Pinder selbst lehnte es ab, über sich und ihren Mann irgendwelche Aussagen zu machen. Ein Trauschein wurde nicht gefunden. Der Richter Darson leitete als Vorsitzender die Verhandlung ihres Falles. Sie wurde verurteilt. Man nimmt an, daß die Pinder, die dringend Geld brauchte, einer plötzlichen Versuchung unterlag, Zyankali in den Tee der Frau goß und darauf deren Schreibtisch plünderte. Der Fall zeigt keine außergewöhnlichen Züge mit Ausnahme der Weigerung der Gefangenen, sich zu verteidigen.
Lois las den Bericht zweimal durch.
»Ich kann es trotzdem nicht glauben – es ist unfaßbar. Sie wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt – aber sicher wird sie doch begnadigt? Gibt es denn keinen Straferlaß wegen guter Führung?«
»Unglücklicherweise machte sie zwei Versuche auszubrechen, und so wurde ihr die gute Führung von früher gestrichen. Es ist sehr schade, denn sie ist eine wohlhabende Frau. Ihr Onkel, der erst fünf Jahre nach ihrer Verurteilung erfuhr, daß sie im Gefängnis war, hinterließ ihr ein großes Vermögen. Sie hat uns niemals gesagt, wer sie war. Er besuchte sie ein paar Wochen vor seinem Tode hier, und wir wurden davon auch nicht klüger. Wir konnten nur feststellen, daß er einer ihrer Verwandten mütterlicherseits war.«
Lois sah wieder auf das Buch.
»Diese wundervolle Frau soll eine Mörderin sein?«
Er nickte.
»Ja – es ist merkwürdig, aber selbst Leute, die vollkommen unschuldig aussehen, begehen böse Verbrechen. Ich bin seit zwanzig Jahren hier auf meinem Posten – ich habe alle Illusionen verloren.«
»Aber wenn man doch davon überzeugt war, daß sie eine Mörderin sei, warum hat man sie denn nicht –«
Sie konnte es nicht über sich bringen, »aufgehängt« zu sagen.
Der Direktor sah sie an.
»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wichtiger Grund sogar –«
Lois war einen Augenblick erstaunt, aber plötzlich wurde es ihr klar. Sie verstand.
»Ja, das Baby wurde hier in diesem Gefängnis geboren. Es war das entzückendste kleine Mädchen, das ich jemals gesehen habe ein wirklich schönes Kind. Es tat mir furchtbar leid, als es aus dem Gefängnis gebracht werden mußte, das arme kleine Ding!«
»Es wußte von nichts, vielleicht weiß es heute noch nicht –« Lois' Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein, ich glaube nicht, daß die Kleine es erfahren hat«, fuhr der Direktor fort. »Sie wurde von einer Nachbarin der Mrs. Pinder adoptiert, die stets an ihre Unschuld glaubte. Wenn ich aber vorher sagte, das arme, kleine Mädchen, dann dachte ich an die dumme Kinderpflegerin, durch deren Nachlässigkeit sich das Kind den Arm an einer Flasche mit kochendem Wasser verbrannte. Es hat eine recht ansehnliche Brandnarbe gegeben, ich erinnere mich deutlich daran. Es blieb eine sternförmige Narbe nahe des Ellenbogens zurück – der Knopf der Heißwasserflasche war so geformt.«
Lois Reddle hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden. Der Direktor stellte das Buch in das Fach zurück und wandte ihr den Rücken zu. Mit Aufbietung aller Energie riß sie sich zusammen.
»Wissen Sie – können Sie sich an den Namen des Kindes erinnern?« fragte sie leise.
»Ja, denn es war ein ganz ungewöhnlicher Name, ich werde ihn nicht vergessen: Lois Margeritta!«