Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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21

Als die Zellentür geöffnet wurde, erwachte Lois aus einem lähmenden Schlaf; sie erhob sich unsicher und wußte kaum, was sie tat, als sie der Wärterin ins Büro folgte. Sie war müde und abgestumpft von der Anklage, die man gegen sie erhoben hatte. Der Sergeant sagte irgend etwas, und sie hörte auch den Namen der Gräfin. Dann gab ihr jemand die Hand – sie dachte, es sei der Sergeant. Ein junger Mann, den sie nur mit halbem Bewußtsein bemerkt hatte, nahm ihren Arm und führte sie langsam auf die dunkle Straße. Er öffnete den Schlag eines Wagens, und bevor sie wußte, was geschah, hatte sich das Auto schon in Bewegung gesetzt. Sie fühlte eine grenzenlose Abgespanntheit – und schlief wieder ein.

Sie erwachte davon, daß ihr Kopf gegen den Führersitz stieß. Die Dämmerung war schon nahe.

»Wo sind wir?« fragte sie.

Es interessierte sie nicht, wer der Chauffeur war, aber als er sich umwandte, erkannte sie das Gesicht Chesney Prayes.

»Es ist schon alles in Ordnung, Miss Reddle«, sagte er mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigte. »Ich fahre Sie aufs Land.«

Sie zog die Stirn kraus und versuchte sich über die Ereignisse der letzten Nacht klarzuwerden. Als sie sich an ihre Verhaftung erinnerte, wurde sie plötzlich wieder ganz wach. Aber bevor sie weiterfragen konnte, gab er ihr über die Schulter hinweg schon eine Erklärung.

»Lady Moron dachte, es sei besser, wenn Sie diesem Bluthund einmal ein oder zwei Tage aus dem Gesicht kämen. Er hat eine Abneigung gegen Sie, und er ist ein rachsüchtiger Kerl.«

»Mr. Dorn?« fragte sie. »Warum ließ er mich festnehmen? Ich weiß doch gar nicht, wie Braime verletzt wurde.«

»Natürlich wissen Sie es nicht«, sagte er beruhigend. »Aber er hat sich nun eben auf diese Weise gerächt.«

An wem er sich auf diese Weise gerächt hatte, erklärte Chesney nicht, und selbst Lois schien es in ihrem abgespannten Zustand doch etwas unlogisch, daß Michael Dorn sie hatte festnehmen lassen, um sich an Praye oder an der Gräfin zu rächen.

Der Wagen fuhr einen Hügel hinab. Unten sah sie das glitzernde Wasser eines Flusses, der sich in vielen Windungen durch die Gegend schlängelte, den grauen Rauch, der von den kleinen Häusern im Tal aufstieg. Die Straße war schmal und uneben, kaum mehr als ein Feldweg. Sie wunderte sich, warum sie hier entlangfuhren, denn sie erblickte nicht weit entfernt eine breite Chaussee, die fast genau mit ihrer Fahrtrichtung parallel lief.

»Wir sind gleich da.«

Sie erreichten den Ausgang eines Tales. Ihr Weg führte unerwartet in eine dichtbestandene Baumpflanzung, wandte sich dann in rechtem Winkel, kreuzte einen gewöhnlichen Feldweg, und fünf Minuten später sah sie eine lange, graue Mauer, die ein breitgelagertes, mit einem niedrigen Dach gedecktes Gebäude umschloß.

An der anderen Seite des Hauses lief eine Straße entlang, und sie wunderte sich aufs neue, daß sie ihr Ziel nicht auf einem besseren Weg erreicht hatten. Offensichtlich erwartete man sie, denn das unansehnliche Tor wurde aufgestoßen, und sie fuhren in einen schmutzigen Bauernhof ein. Ein halbes Dutzend Hühner gackerte durcheinander, und aus einem zerfallenen Stall hörte man das Grunzen eines Schweines.

»Wir sind angekommen«, sagte er, brachte den Wagen zum Stehen und sprang heraus. Das Mädchen schaute sich erstaunt um und sah ein langes, heruntergekommenes Bauernhaus. Von den Fenstern, die man von hier sehen konnte, waren nur zwei gesäubert, die anderen starrten von jahrealtem Schmutz. Links erhob sich eine niedrige, höhlenartige, düstere Scheune, deren Tore halb zerbrochen in den rostigen Angeln hingen und sich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr bewegen ließen. Sie war leer, nur ein alter, verrosteter Pflug und das Gestell eines zerbrochenen Bauernwagens ohne Räder standen auf der Tenne. Überall sah man schlimmsten Verfall, und obwohl sie das Gebäude nur oberflächlich betrachtete, bemerkte sie, daß das eine Ende des Daches fast keine Ziegel mehr trug.

»Dies ist doch nicht etwa der Landsitz von Lady Moron?« fragte sie.

»Nein, es ist ein kleines Besitztum, das einem unserer Freunde ich meine einem ihrer Freunde gehört. Sie haben doch Dr. Tappatt bei ihr getroffen?«

»Dr. Tappatt?« Sie runzelte die Stirn. Das war der merkwürdige, unsaubere Arzt mit der großen Nase, der im Palais am Chester Square am Essen teilgenommen hatte.

»Ist er hier?« fragte sie, unangenehm berührt. Der letzte, mit dem sie einen Tag zusammen verbringen wollte, war dieser Mann.

»Ja – er ist hier. Er ist kein schlechter Mensch – ich kenne ihn von Indien her, und ich glaube, daß er Ihnen auch ganz gut gefallen wird.«

Offensichtlich waren sie von der Rückseite zu dem Gehöft gekommen, denn das einzig sichtbare Tor, das ins Haus führte, war verschlossen und verriegelt.

Er klopfte einige Male, bis eine Frau mit einer häßlichen, harten Stimme fragte, wer da sei. Kurz darauf wurden die verrosteten Riegel zurückgeschoben, und eine große, hagere Frau erschien in der Türöffnung. Sie trug ein verblichenes Kattunkleid, ihr Gesicht war bleich und abstoßend. »Kommen Sie herein, Sir«, sagte sie und trat in den dunklen Korridor.

In dem Haus roch es muffig und schlecht. Der alte Teppich auf dem Boden war so dünn, daß ihre Schritte hohl klangen.

»Der Doktor ist hier.« Die Frau wischte sich die Hände mechanisch an ihrer schwarzen Schürze ab und führte sie in einen Raum, der an den Vorplatz stieß.

Das Zimmer war so schmutzig wie das ganze Haus. Auf einem Sofa schlief zusammengekauert ein Mann, der in einen alten Schlafrock gehüllt war. Ein übler Geruch von Rauch und Whisky lag über dem Raum und schreckte Lois zurück.

Chesney ging hinter ihr her und rüttelte den Schlafenden auf.

»Wach auf!« sagte er barsch. »Es ist jemand gekommen, der dich sprechen will.«

Tappatt fuhr in die Höhe. Wenn er schon am hellen Tag am Chester Square unleidlich war, so war er jetzt unausstehlich.

»Was ist los?« brummte er. Er stand langsam auf und reckte sich. »Ich bin müde; ich sagte dir doch, daß ich schlafen will. Du hast mir versprochen, eher zu kommen. Sie schläft, und ich wette, daß sie diese Nacht ein besseres Bett hatte als in den letzten zwanzig Jahren.«

»Halt den Mund, verdammter Kerl!« sagte Chesney leise zu ihm. »Miss Reddle ist hier.«

Der Doktor blinzelte, dann erkannte er das Mädchen.

»Hallo – freue mich, Sie zu sehen, Fräulein. Schade, daß Sie mich so überraschen, aber ich war schon die ganze Nacht auf – war beschäftigt mit einem Patienten –« Er sprach das letzte Wort besonders laut aus, als ob er ihm durch die Betonung mehr Überzeugungskraft geben könnte.

»Nun hör mal zu, Tappatt. Es ist ein Haftbefehl gegen die Dame erlassen worden, aber es ist uns gelungen, sie aus dem Polizeirevier zu befreien. Sie soll ein paar Tage hierbleiben, bis Lady Moron die Sache in Ordnung bringen kann.«

Lois erschrak.

»Was – ein Haftbefehl gegen mich?« fragte sie entsetzt. »Sie sagten mir doch, daß Dorn kein Recht hatte, mich festzunehmen?«

Er lächelte und gab ihr ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.

»Hat die Frau das Zimmer für Miss Reddle fertiggemacht? Sie ist sehr müde und möchte gern schlafen.«

»Sicher, sicher!« murmelte der Doktor. Er versuchte, aus einer Flasche einzuschenken, aber zu seiner unangenehmen Überraschung war die Flasche fast leer, es kamen nur noch ein paar Tropfen heraus. »Ich muß etwas trinken«, brummte er. »Das Fieber hat mich wieder gepackt.«

»Mr. Praye, mir ist die Lage nicht ganz klar. Warum bin ich hier? Wo liegt dieses Gehöft?« fragte Lois.

»In der Nähe von Nottingham«, antwortete Chesney. »Und um Himmels willen, verlassen Sie das Haus bloß nicht! Das könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Aber es ist ja alles in Ordnung – Sie brauchen nur ein paar Tage hier zu bleiben; ich versichere Ihnen, daß kein Grund zur Beunruhigung vorhanden ist.«

Er sah nach der Uhr und wurde ungeduldig.

»Ist das Zimmer für Miss Reddle fertig?« fragte er jetzt scharf.

Der Doktor ging hinaus, den Gang entlang und stieg eine schmale Treppe empor. Oben auf dem Absatz schloß er eine Tür auf.

»Hier ist das Zimmer.«

»Aber ich bin nicht müde, Mr. Praye – tatsächlich, ich war noch niemals so wach. Ich würde lieber aufbleiben. Könnte ich vielleicht etwas Tee bekommen?«

»Sie können alles bekommen, was Sie wünschen, mein Kind«, sagte der Doktor höflich. »Wo steckt denn bloß diese Frau? He, Sie!« Er brüllte die Treppe hinunter. »Bringen Sie dieser Dame etwas Tee – und zwar schnell, so schnell wie möglich!«

Lois ging in das Schlafzimmer. Es war nur ärmlich, aber sauber möbliert, und sie hatte den Eindruck, daß alle Einrichtungsgegenstände erst in letzter Minute dorthin gekommen waren.

»Dieses Zimmer hatten wir eigentlich für die andere fertiggemacht«, sagte Tappatt, »aber als ich hörte, daß die junge Dame kommen würde –«

Chesney Praye sah ihn scharf an, und er schwieg.

Die andere – schon zweimal hatte er eine Person erwähnt, die bereits hier sein sollte.

»Die andere Tür führt zu einem Badezimmer«, erklärte der Doktor. »Es ist der netteste kleine Landsitz, den Sie finden können.«

Er schloß die Tür hinter ihr und drehte leise den Schlüssel um. Die beiden Männer gingen zusammen die Treppe hinunter. Als sie allein in dem Zimmer des Doktors waren, fragte Chesney Praye: »Wo ist Mrs. Pinder?«

»Die ist gut aufgehoben«, sagte der andere nachlässig.

»Sie ist aber doch nicht hier in der Nähe des Mädchens?«

»Nein, im anderen Flügel – mit der kann man leicht umgehen. Zwanzig Jahre Gefängnisdisziplin brechen den Eigenwillen. Die wird keine großen Schwierigkeiten machen!«

»Was hast du ihr denn gesagt?«

»Die Geschichte, die du mir erzähltest, daß jemand hinter ihr her ist und sie sich hier ein oder zwei Tage aufhalten soll. Meine Haushälterin wird schon nach ihr sehen, sie hat früher eine meiner Anstalten in Indien betreut.«

Chesney sah wieder auf die Uhr.

»Es sind vier Meilen bis zum Whitcomb-Flugplatz – du kannst mich dorthin fahren.«

»Warum nimmst du denn nicht das Auto?«

»Weil ich nicht will, daß der Wagen gesehen wird, du Dummkopf! Beeile dich gefälligst!«

Fünf Minuten später war ein starkknochiges Pony an einen alten Dogcart angeschirrt. Das blaue Auto brachten sie in einen Schuppen und schlossen die Tür zu. Dann fuhren sie die Straße nach Whitcomb entlang, so schnell das alte Tier nur laufen konnte. Eine Viertelstunde vor dem Flugplatz stieg Chesney ab.

»Die beiden Frauen dürfen einander nicht begegnen –«

»Das werden sie auch nicht«, unterbrach ihn der andere.

»Es ist besser, du bleibst im Haus und siehst nach dem Rechten.«

»Wie steht es denn mit Geld?« fragte der Doktor.

Chesney nahm ein paar Banknoten aus der Tasche und gab ihm zwei davon.

»Versuche, wenigstens die nächste Woche nicht zu trinken – du hast Aussicht, viel zu verdienen, Tappatt. Aber es ist auch möglich, daß du gefaßt wirst. Wenn Dorn auch nur entfernt auf unsere Spur kommt, kannst du sicher sein, daß er dich faßt, bevor du es ahnst.«

Tappatt grinste.

»Weshalb soll man etwas gegen mich haben?« fragte er. »Sie kamen doch beide freiwillig zu mir – ich behaupte ja gar nicht, daß man schon ein Gutachten über sie abgegeben hat.«

»Aber es könnte doch sein, daß die beiden auch freiwillig wieder gehen wollten«, sagte Praye bedeutungsvoll.

Dann ging er schnell durch die großen Tore des Flugplatzes und eilte quer über den Rasen zu einem zweisitzigen Sportflugzeug, bei dem drei Leute standen.

»Guten Morgen – ich bin Mr. Stone«, sagte er. »Ist das mein Flugzeug?«

»Ja, Sir. Sie haben einen selten klaren Morgen für Ihre Reise.«

Praye schaute zweifelnd auf die leichte, zerbrechliche Maschine.

»Können Sie mit dem Ding ohne Zwischenlandung nach Paris fliegen?«

Der Kommandant des Flugplatzes nickte.

»Sie sind in zwei Stunden fünfzig Minuten dort – vielleicht auch schneller, Sie haben Rückenwind.«

Er half dem Passagier in einen schweren Lederrock. Der Pilot hatte seinen Platz schon eingenommen. Praye legte noch warme Handschuhe an, und man gab ihm letzte Instruktionen. Der Propeller surrte, das Flugzeug rollte leicht über den Rasen, erhob sich dann in den blauen Himmel und verschwand als kleiner weißer Punkt über dem östlichen Horizont.

 


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