Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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6

Die Charlotte Street lag verlassen da, als sie auf dem Heimweg um die Ecke bog. Sie kam an einem kleinen, geschlossenen Wagen vorüber, der an der Bordschwelle hielt. Als sie die Straße halbwegs gegangen war und sie eben überqueren wollte, stellte sie überrascht fest, daß derselbe Wagen mit höchster Geschwindigkeit auf sie zukam. Sie hielt an, um ihn an sich vorüberzulassen. Sie bemerkte kaum, daß seine Lampen nur düster brannten, denn ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Das Auto kam näher, sein Tempo erhöhte sich von Sekunde zu Sekunde, und als es nur noch einige Meter von ihr entfernt war, fuhr es plötzlich auf sie zu.

Im ersten Augenblick wollte sie rückwärts ausweichen, aber ihr Instinkt trieb sie vorwärts. Wenn es dem Fahrer noch gelungen wäre, in die Kurve zu gehen, wäre sie dem Tode nicht entgangen. Der plötzliche Sprung nach vorn hatte ihr das Leben gerettet. Die äußere Ecke des Schutzblechs streifte ihr Kleid und riß ein großes Stück Stoff so glatt heraus, als ob es mit der Schere abgeschnitten worden wäre. Im nächsten Augenblick raste der Wagen in Richtung Fitzroy Square an ihr vorbei. Die Nummer war nicht zu erkennen.

Eine Sekunde stand Lois atemlos da und zitterte an allen Gliedern. Dann sah sie, wie sich jemand aus dem tiefen Schatten ihrer Haustüre löste und auf sie zukam. Bevor sie das Gesicht sah, wußte sie schon, wer es war.

»Sie haben Glück gehabt – beinahe hätte es Sie gefaßt«, sagte Michael Dorn.

»Was war denn das? Die müssen die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben!«

»Ja, das stimmt«, erwiderte er ruhig. »Haben Sie die Nummer erkennen können?«

Sie schüttelte den Kopf. Seine Frage beunruhigte sie.

»Nein, ich habe sie nicht gelesen. Wünschen Sie etwas von mir, Mr. Dorn?«

»Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen nach dem aufregenden Erlebnis geht.«

Sie schaute ihn groß an.

»Welches aufregende Erlebnis meinen Sie denn?«

»Ich denke an den kleinen Unfall, für den ich teilweise selbst verantwortlich bin«, sagte er ruhig. »Wenigstens halte ich einen Zusammenstoß auf der Straße für aufregend. Aber möglicherweise haben Sie stärkere Nerven als ich.«

»Das meinen Sie nicht – Ihre Worte beziehen sich auf mein Erlebnis im Gefängnis.«

Er beugte sich zu ihr nieder.

»Was haben Sie denn im Gefängnis erlebt?« fragte er leise.

»Wenn Sie es nicht wissen, kann ich es Ihnen nicht erzählen.« Sie wandte sich schnell von ihm ab, ging ins Haus und schloß die Tür fast vor seiner Nase.

 

Noch bevor sie ihr Zimmer erreicht hatte, bereute sie ihre Heftigkeit. Aber es war jetzt zu spät, unter keinen Umständen wäre sie zurückgegangen und hätte sich entschuldigt.

Lizzy erwartete sie in heller Aufregung. »Weißt du auch, daß es beinahe zwölf ist? Ich dachte, du wärest früh zu Bett gegangen.«

»Ich war im Zeitungsbüro und habe für Mr. Shaddles noch einen Gerichtsfall nachgelesen. Aber sieh mal mein Kleid – ein Auto hat mich gestreift.«

Lizzy machte ein ungläubiges Gesicht.

»Wenn es wahr ist, daß du für diesen alten Geizhals Überstunden gemacht hast, dann ist es in deinem Kopf nicht mehr ganz richtig, und du mußt dich vom Arzt untersuchen lassen. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß das gar nicht stimmt, was du sagst – ich bin eigentlich sehr böse auf dich.«

»Warum denn?« fragte Lois. Sie nahm ihren Hut ab, warf ihn auf das Bett und betrachtete ihr zerrissenes Kleid genauer.

»Nun ja, ich weiß doch, daß du aus warst, um einen gewissen Jemand zu treffen – aber auf der anderen Seite begreife ich nicht, daß er dieses Paket schickte, wenn du mit ihm zusammen warst.«

Auf dem Tisch stand eine wunderschöne Schachtel, die Lizzy schon ausgepackt hatte. Der Seidenüberzug war mit Blumen bemalt.

»Es war ein bißchen dreist von mir, daß ich es aus dem Papier nahm – aber ich habe noch kein einziges Schokoladenplätzchen aufgeknabbert.«

»Schokolade?« fragte Lois und nahm den Deckel ab. Es war eine prachtvolle Bonbonniere mit dem erlesensten Konfekt, das jemals in ihren Besitz gekommen war. Obenauf lag eine Karte mit den Worten: »Von einem Verehrer.«

Sie runzelte die Stirn.

»Von einem Verehrer«, nickte Lizzy bedeutungsvoll. »Kein Name – ich möchte bloß wissen, wer das sein kann?«

Ihr Lächeln war zu sonderbar, um Lois noch einen Zweifel zu lassen.

»Hat er es gebracht?«

»Er? Du meinst Mike? Natürlich hat er das Ding gebracht – wenigstens vermute ich es. Es lag hier, als ich zurückkam. Wieviel andere Verehrer hast du denn noch, Mädchen?«

Lois klappte den Deckel böse zu.

»Ich hasse diesen Mann«, rief sie heftig, »und wenn er mich nicht in Ruhe läßt, werde ich mich bei der Polizei über ihn beschweren. Nicht genug, daß man ihn auf der Türschwelle sitzen findet, wenn man nach Hause kommt –«

»Saß er dort?« fragte Lizzy atemlos.

»Natürlich! Du wußtest doch, daß er hier war«, sagte Lois ungerecht. »Lizzy, du hast ihm immer geholfen und ihm Vorschub geleistet. Ich wünschte, du hättest das gelassen.«

»Ich?« fragte Lizzy gekränkt. »Ich habe ihm Vorschub geleistet? Das fehlte auch noch! Du nimmst ihn mit in deinem Wagen und fährst ihn den ganzen Nachmittag spazieren – und nun soll ich Vorschub geleistet haben! Ich habe ihn einen ganzen Monat lang nicht gesehen und während dieser Zeit kein Wort mit ihm gesprochen!«

»Wo wohnt er?« fragte Lois.

»Wie zum Donnerwetter soll ich das wissen?« brauste Lizzy auf, wurde aber gleich wieder ruhig. »Ja, ich weiß schon: er wohnt in den Hiles Mansions.«

»Dann wird dieses Paket morgen früh nach den Hiles Mansions zurückgehen«, sagte Lois bestimmt. »Und ich schreibe ihm auch noch einen höflichen Brief dazu und bitte ihn, seihe Aufmerksamkeiten zu lassen –«

Lizzy zuckte die Achseln.

»Auf wen wartest du denn eigentlich noch?« rief sie verzweifelt. »Er ist ein hübscher junger Mann mit einem prächtigen Auto, ein vollkommener Gentleman!«

»Das mag alles sein, aber ich kann ihn nicht leiden«, erwiderte Lois kurz. Zu ihrem Erstaunen legte die ungeschickte Lizzy ihren Arm um sie, drückte sie liebevoll an sich und lachte.

»Ich will mich mit dir nicht zanken in den paar letzten Nächten, die wir noch zusammen sind. Dann noch eins, Lois. Ich werde niemand anders mehr zu mir nehmen. Dein Raum wartet auf dich, wenn du einmal deiner hochadeligen Umgebung müde wirst.«

Ein großer Raum der Wohnung war durch eine hölzerne Scheidewand geteilt. In der Mitte befand sich eine türlose Öffnung, die die Verbindung zwischen den beiden Zimmern herstellte und mit einem Vorhang bedeckt war. Lois packte die Bonbonniere sorgfältig wieder ein, adressierte sie an ihren ›Verehrer‹, trug das Paket ins Schlafzimmer und legte es auf den Toilettentisch. Sie wollte nicht vergessen, diese Gabe zurückzusenden, obwohl ihr die Auslage des Portos recht unangenehm war.

Sie plauderten noch einige Zeit durch die Trennungswand, aber Lois schlüpfte bald in ihr Bett, sie fühlte sich todmüde.

»Gute Nacht!« rief sie.

»Horch mal auf den alten Mackenzie!«

Von unten tönten die weichen Töne einer Geige herauf. Leise stieg und fiel die Melodie, und Lois erschienen diese Klänge süß und beruhigend.

»Er war früher Dirigent«, sagte Lizzy. Ich wünschte, er würde seine Mondscheinsonaten für sich behalten, bis ich aus dem Hause bin.«

»Mir gefällt es sehr gut.« Die traurige Melodie ging Lois zu Herzen und stimmte so ganz zu ihrem eigenen Kummer.

»Ich werde verrückt«, brummte Lizzy, als sie ihre Strümpfe wegschleuderte und ihre Zehen betrachtete. »Wenn du schon ausgezogen bist, gehe ich hinunter und frage, ob er nicht endlich seinen mitternächtlichen Unsinn aufgibt.«

»Er hat so wenig Freude im Leben, laß ihn doch«, protestierte Lois.

»Warum geht er denn nicht aus und verschafft sich welche? Aber der alte Trottel verläßt ja seine Bude überhaupt nicht. Er hat viel Geld – außerdem gehört ihm doch dieses Haus.«

Lois lauschte. Der alte Mackenzie spielte das Intermezzo aus ›Cavalleria Rusticana‹. Sooft sie diese Melodie auch gehört hatte, war es ihr doch, als drückte sie jetzt allen Schmerz, alle Furcht und alle Empörung ihrer eigenen Seele aus.

»Musik ist ja sehr schön, wenn sie am Platze ist«, sagte Lizzy wieder. »Wenn er wenigstens noch den neuesten Schlager spielen würde – ich habe vor ein paar Tagen die Noten dazu billig gekauft und ihm geschenkt, aber er hat sie noch nicht einmal gespielt.«

Die Musik verstummte, und auch Lizzy war gleich darauf ruhig. Lois drehte sich zur Seite und fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum war sie wieder im Gefängnis von Telsbury und ging selbst unter all diesen graugekleideten Frauen in dem trostlosen Kreis herum. An der Seite des Direktors stand jemand und beobachtete sie. Es war eine stattliche Frau mit breitem Gesicht und großer Nase. Ihre harten, schwarzen Augen lächelten verächtlich, als sie vorüberschritt. Und mitten im Kreis stand der alte Mackenzie und fiedelte mit seiner Geige unter dem Kinn den letzten Schlager, den Lizzy immer pfiff.

Plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

Ein Lichtschein war über ihr Gesicht gegangen – es mußte jemand im Zimmer sein. Sie hörte leise Bewegungen und dann ein Papierrascheln. Es war Lizzy – natürlich. Sie kam ja häufig mitten in der Nacht in ihr Zimmer, wenn sie der Husten quälte, um sich die Pastillen zu holen, die Lois in der Schublade ihres Toilettentisches verwahrte. Ohne ein Wort zu verlieren, streckte sie ihre Hand aus und knipste die kleine Taschenlampe an, die vor ihrem Bett lag.

Als sie den Knopf herunterdrückte, erinnerte sie sich dunkel daran, daß die Batterie nahezu ausgebrannt war. Nur ein dünner Strahl weißes Licht erhellte den Raum, verblaßte sofort wieder, wurde dunkelgelb und verschwand dann ganz. Aber in diesem Augenblick hatte sie die Gestalt eines Mannes gesehen, der an ihrem Toilettentisch stand. Sie erkannte Michael Dorn, der ihr ein betroffenes Gesicht zuwandte.

 


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