Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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16

Zuerst wollte sie fortrennen, aber dann siegte das Mitleid in ihr. Sie kniete an Braimes Seite nieder und löste seinen Kragen. War er tot? Sie bemerkte kein Lebenszeichen an ihm, er atmete nicht. Seine Hände waren erhoben, als ob er einen unsichtbaren Feind fassen wollte, aber sie waren steif und bewegungslos.

Lois lief zur Tür hinaus und rief das Mädchen.

»Telefonieren Sie sofort nach einem Arzt! Braime ist schwer krank«, sagte sie atemlos und eilte die Treppe hinauf.

Lady Moron war mitten in der Unterhaltung mit ihrem Besuch begriffen, aber als sie das Mädchen sah, kam sie eilig durch das Zimmer.

»Was ist geschehen?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Braime«, sagte Lois atemlos. »Ich fürchte, er ist tot.«

Die Gräfin folgte ihr schnell die Treppe hinunter. Einen Augenblick stand sie in der Tür und sah den Butler ausgestreckt daliegen.

»Das ist kein Anblick für Sie«, sagte sie dann liebenswürdig, schob das Mädchen auf den Gang zurück und schloß die Tür.

Gleich darauf kam sie wieder heraus.

»Ich glaube auch, daß er tot ist. Erzählen Sie mir doch, was sich zutrug. Aber besser läuten Sie erst Dr. Tappatt im Limbo-Klub an.«

Lois sagte, daß sie schon Auftrag gegeben habe, einen Arzt zu rufen. Die Zofe hatte das Virgina-Krankenhaus angeläutet, das nur hundert Meter vom Chester Square entfernt lag, und als sie sich noch im Gang unterhielten, fuhr schon ein Krankenauto vor. Der Diener eilte hinaus und öffnete. Ein junger Arzt untersuchte kurz die ausgestreckte Gestalt und war anscheinend sehr verwundert.

»Hat dieser Mann schon öfter Anfälle gehabt?« fragte er.

»Ich habe nichts davon bemerkt. Solange er in meinen Diensten stand, war er vollständig gesund.«

Lois war wieder in die Bibliothek mitgekommen und schaute ängstlich auf die reglose Gestalt.

»Ich kann keine Wunde an ihm entdecken«, sagte der Arzt. »Ich werde die Krankenwärter rufen, daß sie ihn ins Krankenhaus bringen.«

Er ging zur Eingangshalle zurück und gab den Leuten ein Zeichen. Eine Tragbahre wurde aus dem Krankenwagen gehoben und in die Bibliothek gebracht. Als sie Braime gerade aufheben wollten, hörte man plötzlich eilige Schritte in der Eingangshalle. Ein Mann bahnte sich rasch einen Weg in die Bibliothek. Er war erhitzt und ohne Hut, stand schwer atmend im Türeingang und schaute von einem zum anderen, bis sein Blick auf Lois fiel.

»Gott sei Dank«, sagte er leise.

Dann war er mit zwei großen Schritten an der Seite Braimes, der noch immer steif auf dem Boden lag.

»Sind Sie Arzt?« begann Lady Moron.

»Mein Name ist Michael Dorn – vielleicht haben Mylady meinen Namen noch nicht gehört«, sagte er schroff. Seine scharfen Augen suchten den Raum ab. Er ergriff eine chinesische Porzellanvase, in der Rosen standen, riß den Blumenstrauß heraus, warf ihn auf den Boden und schüttete das Wasser in das Gesicht des Butlers. Dann kniete er an seiner Seite nieder, zog die steifen Arme des Mannes hoch und drückte sie wieder gegen den Körper. Lois beobachtete ihn bestürzt. Er wandte die Wiederbelebungsmethoden an, mit denen man Ertrunkene ins Leben zurückzurufen sucht.

»Sind Sie Arzt?« fragte der junge Mediziner ein wenig gereizt.

»Nein«, sagte Michael, ohne sich stören zu lassen.

»Darf ich Sie dann fragen, warum Sie so mit diesem Mann umgehen?«

»Ich rette ihm das Leben«, erwiderte er kurz.

Lady Moron drehte sich in diesem Augenblick um. Sie hatte die Stimme ihres Sohnes in der Eingangshalle gehört und eilte aus dem Raum, um ihn draußen aufzuhalten.

»Was willst du, Selwyn?« fragte sie kalt.

»Es ist etwas in der Bibliothek geschehen; sie sagten, der alte Braime hätte einen Anfall bekommen oder so etwas – ich dachte, ich könnte helfen.«

»Geh bitte in dein Arbeitszimmer zurück, ich wünsche nicht, daß du dich über solche Sachen aufregst.«

»Verdammt noch einmal«, begann der Graf. Aber ein Blick seiner Mutter brachte ihn zum Schweigen, und er entfernte sich wieder.

Die Gräfin wartete, bis er außer Sicht war, und ging dann zu der kleinen Gruppe zurück, die Michael Dorn und seine anscheinend nutzlosen Bemühungen beobachtete. Nach einigen Minuten sagte der Arzt: »Dieser Mann muß ins Krankenhaus gebracht werden – Mr. Dorn.«

Lady Morons Besuch war nun auch herbeigekommen. Chesney Praye hatte gesehen, daß der Detektiv im Haus war, aber in Gegenwart der Gräfin hatte er Mut.

»Sie werden den Mann wahrscheinlich töten, Dorn. Lassen Sie ihn doch ins Krankenhaus bringen, wo man sich seiner richtig annehmen kann.«

Michael antwortete nicht. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Er hielt einen Augenblick inne, zog eilig sein Jackett aus und nahm die Arbeit wieder auf.

»Ich will nur hoffen, daß Sie ein besserer Arzt als Detektiv sind«, sagte Chesney ärgerlich.

»Im Augenblick bin ich ein ebenso guter Arzt wie Sie ein Gauner«, sagte Dorn, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Und auf jeden Fall bin ich ein besserer Detektiv, als Sie ein Verbrecher sind. Er kommt wieder zu sich.«

Zu Lois' größtem Erstaunen bewegten sich Braimes Augenlider. Sie sah, wie sich seine Brust hob und senkte, ohne daß Dorn half.

»Ich hoffe, daß er sich wieder erholt«, sagte Dorn, stand auf und wischte sich die Stirn.

»Sind Sie Detektiv?« fragte der junge Arzt.

»So etwas Ähnliches«, sagte Michael lächelnd. »Es ist gut, wenn Sie ihn jetzt so schnell wie möglich ins Krankenhaus bringen. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen vorgegriffen habe, aber ich habe früher schon einmal einen solchen Fall erlebt.«

»Was ist es denn?« fragte der erstaunte Arzt, als der Butler auf die Bahre gehoben und aus der Bibliothek getragen wurde. »Ich dachte, er hätte einen Schlag bekommen.«

»Ja, es war ein Schlag, aber ein sehr böser«, entgegnete Michael grimmig.

Er folgte den Krankenträgern nicht, sondern zog sein Jackett an, ging in dem Raum umher und schaute sich überall um. Er betrachtete die Decke, den Fußboden und ließ seine Blicke über den Bibliothekstisch schweifen.

»Er fiel etwa zwei Meter vom Tisch entfernt hin«, sagte er. Dabei zeigte er auf einen Wasserflecken im Teppich. »Soll ich Ihnen einmal sagen, wo seine Füße lagen? Man hatte ihn nämlich schon von dort weggeholt, als ich kam.«

»Lady Moron wird es vorziehen, die Sache mit der Polizei zu besprechen, wenn die Beamten kommen«, sagte Chesney Praye gehässig. »Sie haben kein Recht, sich hier aufzuhalten – das wissen Sie doch, Dorn?«

»Will mir nicht jemand sagen, wo seine Füße lagen?«

Lois zeigte es ihm.

»Er lag quer im Raum.«

»Ja, das stimmt.« Dorn strich sich verwundert über das Kinn. »Sie waren doch nicht hier, als es passierte, Miss Reddle?«

»Ich verbiete Ihnen, irgendwelche Fragen zu beantworten«, sagte die Gräfin zu ihrer Sekretärin. »Ich stimme Mr. Praye vollständig bei, daß diese Angelegenheit Außenstehende nichts angeht. Meinen Sie, daß man einen Angriff auf den Mann machte?«

»Ich habe nichts Derartiges gesagt«, entgegnete Dorn, und seine Blicke suchten wieder Lois' Augen. »Sie haben ja eine Menge Unglücksfälle hier erlebt, Miss Reddle?« fragte er höflich. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich in die Charlotte Street zurückgehen, dort wohnen Sie sicherer. Als ich sah, wie der Krankenwagen vor der Tür hielt, hätte ich beinahe einen Herzschlag bekommen, denn ich dachte, Sie wären das Opfer.«

Die Gräfin ging zur Tür und öffnete sie etwas weiter.

»Wollen Sie jetzt bitte gehen, Mr. Dorn – Ihre Gegenwart ist nicht erwünscht, und Ihre Andeutung, daß eine Person in meinem Haus sich in der geringsten Gefahr befindet, beleidigt mich –« Sie schaute Mr. Praye an. »Und auch meinen Freund.«

»Dann wäre es besser, wenn Mylady sich einen anderen Freund aussuchten«, sagte Dorn in guter Laune. »Und damit Sie nicht denken, daß ich den feinfühligen Mr. Chesney Praye durch meine Vermutungen verletze, will ich Ihr Gemüt erleichtern. Es gibt nämlich zwei Dinge, die Chesney übelnimmt – erstens möchte er nicht gern Geld verlieren, und zweitens möchte er nicht daran gehindert werden, sich Geld anzueignen, das ihm nicht gehört. Kann ich Sie einmal allein sprechen, Miss Reddle?«

»Ich verbiete –«, begann die Gräfin.

»Kann ich Sie sprechen?«

Lois zögerte, nickte dann und ging vor ihm aus dem Raum. In der Halle sagte er ihr seine Ansicht.

»Ich erwartete nicht, daß die Unglücksfälle so dicht aufeinanderfolgen würden, seitdem Sie in dieses Haus gekommen sind«, sagte er. »Ich habe nur meine Einwilligung gegeben, daß Sie hierherkamen, weil ich dachte, daß –«

»Sie haben Ihre Einwilligung gegeben?« Sie machte große Augen und wurde plötzlich rot vor Ärger. »Bilden Sie sich etwa ein, Mr. Dorn, daß ich Ihre Zustimmung brauche?«

»Es tut mir leid«, sagte er bescheiden. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Aber meine Nerven sind etwas in Unordnung geraten. Aber nachdem Sie diese vergiftete Schokolade zugesandt erhielten, mußte ich Ihnen sagen –«

Sie wurde blaß.

»Vergiftet?« flüsterte sie.

Er nickte.

»Ja – sie war mit Blausäure vergiftet. Ich bin nur deshalb nachts in ihr Zimmer gekommen, um sie wegzunehmen. Als ich vor ein paar Minuten hier ankam, war ich starr vor Schrecken, denn ich erwartete, Sie tot aufzufinden.«

»Warum interessieren Sie sich für mich?« fragte sie.

Er wich ihrer Frage aus.

»Wollen Sie nicht dieses Haus sofort verlassen und in die Charlotte Street zurückkehren?«

»Ich kann nicht vor morgen weggehen – ich habe Lady Moron versprochen, daß ich bei ihr bleiben werde, und ich bin sicher, Mr. Dorn, daß Sie sich irren. Wer hätte mir denn vergiftete Schokolade schicken sollen?«

»Wer hätte versuchen sollen, Sie mit einem Auto zu überfahren?« fragte er dagegen. »Sehen Sie dies –« Er nahm einen kleinen Stoffstreifen aus seiner Westentasche. »Erkennen Sie das wieder?«

Sie war sehr erstaunt.

»Das wurde aus meinem Kleid gerissen, als das Auto –«

»Ja, ich fand es noch an dem Wagen hängen. Die Leute, die ihn einstellten, waren in solcher Eile, daß sie nicht einmal den Versuch machten, ihren Wagen zu betrachten oder ihn zu reinigen.«

»Aber wer – wer ist denn mein Feind?« fragte sie leise.

»Eines Tages werde ich Ihnen seinen Namen nennen – ich fürchte, ich habe Ihnen schon zuviel erzählt und habe mich selbst schon etwas verdächtig gemacht. Ich kann nur hoffen, daß Sie sich in acht nehmen, wenn Sie wissen, daß ich auf dem Posten bin. Am besten verlassen Sie dieses Haus sofort, spätestens heute abend.«

»Nein, das ist unmöglich.«

Er nickte.

»Nun gut.« Er schaute sich um und betrachtete Lady Moron, die in der Tür der Bibliothek stand und sich lebhaft mit Chesney Praye unterhielt. Plötzlich sah er, wie der Mann mit dem roten Gesicht ihn anschaute. »Ich wünsche Sie zu sprechen, Praye.«

Dorn ging aus dem Haus und wartete auf dem Gehsteig auf ihn.

»Sehen Sie einmal –«, begann der andere mit lauter Stimme.

»Wollen Sie wohl leiser sprechen – ich bin nicht taub. Es ist jetzt überhaupt nicht an Ihnen, zu reden. Haben Sie mich verstanden? Heute morgen war ich im Indian Office und habe den Staatssekretär gesprochen. Es wird keine Schwierigkeiten machen, wegen der Delhi-Affäre einen Haftbefehl gegen Sie auszufertigen, wenn ich den Antrag stelle. Also merken sie sich erstens diese Tatsache. Zweitens: Wenn Lois Reddle nur das geringste Leid geschieht und ich entdecke, daß Sie Ihre Hand im Spiel gehabt haben, dann verfolge ich Sie, und sollte es durch neun Höllen sein – und ich kriege Sie! Überlegen Sie sich das!«

Er nickte kurz, drehte sich um und ging fort. Chesney Praye blieb sprachlos vor Wut und Furcht stehen.

 


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