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Es war ein unglückliches Zusammentreffen, daß Michael Dorn gleich von zwei privaten Flugstationen in der Nähe Londons die Nachricht erhielt, daß am frühen Morgen Flugzeuge aufgestiegen waren. Noch schlimmer war es aber, daß er zuerst der Mitteilung aus Cambridgeshire nachging. Durch das Telefon konnte er keine ausreichende Aufklärung erhalten. Erst als er in Morland ankam, erfuhr er, daß der Passagier ein Student aus Cambridge war, der telegrafisch nach Hause gerufen worden war, weil seine Schwester schwer krank lag. Er war nach Cornwall geflogen.
»Ich war leider nicht im Büro, als Sie anriefen«, sagte der Kommandant des Flugplatzes. »Sonst hätte ich Ihnen das alles schon vorhergesagt.«
»Schade«, entgegnete Michael, »aber daran läßt sich nichts mehr ändern.«
Er ging zu seinem Wagen zurück und studierte die Karte. Von Whitcomb war er hundertsieben Meilen entfernt, und die Straßen, die er benutzen mußte, waren nicht die besten. Außerdem hatte er während der ersten zwanzig Meilen zwei Defekte an der Bereifung. Bis der Schaden repariert war, hatte er beinahe eine Stunde Tageslicht verloren. Der schlechteste Teil des Weges lag noch vor ihm, und es war durchaus nicht sicher, daß er der Auffindung der Gesuchten auch nur um einen Schritt näher kam, selbst wenn er sein Ziel noch erreichte.
Während er in Market Silby auf den Wechsel des Reifens wartete, studierte er die kleine Zeittafel, die er sich zusammengestellt hatte. Lois war um zwei Uhr morgens aus dem Polizeirevier entführt worden, wie er festgestellt hatte. Um acht Uhr – sechs Stunden später – hatte Chesney Praye von Paris aus telegrafiert. Wenn er mit einem Privatflugzeug in der Nähe Londons aufgestiegen war, so dauerte es mindestens zwei Stunden, bis er die französische Hauptstadt erreichte. Er mußte etwa gegen fünf Uhr abgeflogen sein. Zwischen zwei und fünf Uhr morgens lag also die unbekannte Fahrt. Lois mußte an einen Ort gebracht worden sein, der anderthalb bis zwei Stunden von der Hauptstadt entfernt war. Wenn seine Annahme wegen des Flugzeuges richtig war, wurde sie an einem Platz zurückgehalten, der vom Flugplatz nicht mehr als zwanzig Meilen entfernt lag, wenn Chesney Praye ein Auto benutzt hatte, dagegen sechs oder sieben Meilen, wenn er den Weg in einem Pferdewagen zurückgelegt hatte oder zu Fuß gegangen war.
Der Flugplatz in Cambridge hätte seinen Voraussetzungen am besten entsprochen, aber auch Whitcomb an der Grenze von Somerset war denkbar. Er erreichte den Flugplatz gegen Abend, gerade als der Kommandant nach Hause gehen wollte. Michael Dorn gab sich zu erkennen, und seine Befugnisse hatten doch mehr amtlichen Charakter, als Lady Moron annahm. Dann ging er mit dem Kommandanten in das Büro.
»Der Herr, der heute früh abflog, hieß Stone. Gestern abend spät hat er von London aus angerufen, daß wir eine Maschine für ihn bereithalten sollten, die ihn nach Paris brächte. Heute morgen kam er zeitig hier an.«
Er beschrieb den Reisenden so genau, daß Michael glaubte, Chesney Praye leibhaftig vor sich zu sehen.
»Das wäre die Persönlichkeit«, sagte er. »Wie kam er hierher? Hatte er ein Auto?«
»Nein – er kam in einem kleinen Wagen bis zur Abgrenzung des Platzes und ging den Rest zu Fuß.«
»Kam er in einem Pferdewagen? Wer hat das Gefährt gelenkt?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Entfernung war zu groß, als daß ich jemand hätte sehen können. Auch kenne ich nur wenig Leute hier in der Umgebung.«
Dorn überlegte einen Augenblick.
»Aber vielleicht können Sie mir die Stelle zeigen, wo er den Wagen verließ.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Haben Sie eine Generalstabskarte von dieser Gegend?«
Der Kommandant konnte ihm eine solche Karte zeigen und ihm sogar genau die Stelle angeben, wo der Passagier aus dem Wagen gestiegen war. Michael fuhr den Weg mit dem Finger nach und begann dann nach einem Gehöft zu suchen.
»Das ist der Wohnsitz Lord Kelvers' – zufälligerweise kenne ich ihn, ich war schon dort. Dies ist das Haus eines Rechtsanwalts.« Michael deutete auf eine andere Stelle. »Hier geht die Straße nach Ilfey Village, da liegt ein Gasthaus, der ›Rote Löwe‹. Von dorther hätte er kommen können.« Aber Michael lehnte die Möglichkeit ab, daß Chesney sich so dicht in der Nähe aufgehalten hätte.
»Was ist hier?« Er zeigte mit dem Finger auf einen Punkt der Karte, aber der Kommandant schüttelte den Kopf. »Ich kann mich auf den Namen nicht besinnen, vielleicht weiß einer von den Mechanikern, wie der Platz heißt.«
Er ging hinaus und kam mit einem Werkmeister zurück, der sich über die Karte beugte.
»Das ist Gallows Farm«, sagte er gleich. »Ein ganz altes Gehöft. Steht schon seit Jahrhunderten dort. Ich kann nicht sagen, wie der Besitzer jetzt heißt, aber es ist kein Landwirt – wenigstens habe ich noch niemals gesehen, daß Vieh ausgetrieben wurde.«
Michael rief das nächste Polizeirevier an, gab sich zu erkennen und fragte nach dem Besitzer von Gallows Farm. Er mußte einige Zeit warten, bis man die nötigen Unterlagen herausfand.
»Das Gehöft wurde vor zwölf Monaten an einen Mr. – verpachtet.« Er hörte einen Namen, den er nicht kannte. »Außer diesem Herrn und seiner Haushälterin wohnt niemand dort.«
Das war gerade keine glänzende Auskunft, aber Michael ließ sich nicht verblüffen. Wieder studierte er die Karte, und nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluß, daß Gallows Farm das einzige Anwesen in der Nachbarschaft sein konnte, das irgendwie in Betracht kam. Er aß schnell etwas in dem Restaurant des Flughafens. Es wurde schon dunkel, als er den Platz überquerte und die Straße entlangfuhr, die Chesneys Wagen gekommen war. Als er über die Kuppe des Hügels fuhr, tauchten die Umrisse des Gehöftes undeutlich in dem Licht seiner hellen Scheinwerfer auf, er konnte aber kein Licht oder irgendein Anzeichen von Leben in dem Haus erkennen. Die graue, häßliche Mauer war oben mit Glassplittern bedeckt, und das Tor, das zur Straße lag, war fest verriegelt.
Er ging zu seinem Wagen zurück, holte seine elektrische Taschenlampe und setzte seine Nachforschungen fort. Das Gehöft lag an dem Abhang des Hügels, und er mußte weiter hinuntersteigen, um auf die Rückseite zu kommen. Hier war eine größere und leicht verschlossene Tür zu sehen. Als er zu öffnen versuchte, hörte er drinnen wütendes Bellen und Kettenrasseln. Er horchte gespannt auf. Das Hundegebell kam ihm bekannt vor. Es war nicht das tiefe Bellen von Bulldoggen oder das helle Gekläff eines Terriers, sondern das Geheul, das er in früheren, längst vergangenen Nächten in indischen Dörfern gehört hatte.
»Wenn das keine indischen Paria sind, habe ich nie welche gehört«, sagte er vor sich hin und setzte seinen Weg fort.«
Von dem Abhang auf der Rückseite des Hauses konnte er die oberen Fenster des niedrigen Gebäudes sehen. Dann ging er wieder nach vorn und klopfte an das dicke, schwarze Holztor.
Das Heulen der Hunde mußte jemanden aufgeweckt haben, denn gleich darauf hörte er die scharfe Stimme einer Frau: »Wer ist da?«
»Ich möchte den Hausherrn sprechen«, sagte er.
»Sie können ihn jetzt nicht sprechen – er ist schon zu Bett gegangen.«
»Dann will ich Sie sprechen. Öffnen Sie das Tor.«
Ein Schweigen folgte, dann sagte die Frau plötzlich: »Machen Sie, daß sie fortkommen, oder ich rufe die Polizei an.«
Die Pause verriet dem scharfsinnigen Detektiv, daß noch jemand anders zugegen war, der mit der Frau im Flüsterton sprach.
»Wollen Sie bitte Ihrem Herrn sagen, der schon zu Bett liegt, aber vermutlich noch nicht schläft, daß ich über die Mauer klettere, wenn Sie nicht öffnen?«
Diesmal schien die Frau auf keine Anweisung zu warten.
»Wenn Sie sich unterstehen, das zu tun, werde ich die Hunde auf Sie hetzen!« schrie sie.
Sie lief über das holprige Pflaster des Hofes, und gleich darauf ertönte das Geheul der Hunde, die vor ihr herstürmten.
»Werden Sie nun endlich machen, daß Sie fortkommen? Wenn ich das Tor öffne, werden sie Ihnen das Herz aus dem Leibe reißen, ek dum!«
Michael Dorn stieß unwillkürlich einen Ruf aus. Ek dum? Das war ein indischer Ausdruck. Wer konnte ihn gebrauchen?
»Ich denke, es ist besser, daß du mich einläßt, meine Schwester«, sagte er in Hindostani.
Es kam nicht sofort eine Erwiderung, aber Michael hörte deutlich, daß jemand energisch und eindringlich flüsterte.
»Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem fremden Kauderwelsch wollen«, antwortete die Frau dann heiser. »Gehen Sie endlich fort, sonst werden Sie es noch bereuen.«
Michael leuchtete mit seiner Lampe den oberen Rand des Tores ab und sah eine Reihe von rostigen Eisenspitzen. Sollte er es wagen? Aber es konnten ja redliche Leute sein. Es war nichts Außergewöhnliches, daß eine Frau ein paar indische Worte gebrauchte. Ihr Mann mochte ein Soldat gewesen sein, der früher in Indien gedient hatte, und sie hatte einige Redensarten von ihm aufgeschnappt.
»Seien Sie doch nicht so argwöhnisch und lassen Sie mich herein. Ich möchte nur ein paar Fragen an Sie stellen.« Es kam ihm ein guter Gedanke. »Ich komme nämlich von Chesney Praye.«
Es folgte ein langes, tiefes Schweigen, so daß er dachte, die Leute seien fortgegangen. Aber plötzlich sprach die Frau wieder.
»Wir kennen keinen Chesney Praye.«
»Wir? Wer ist denn Ihr Freund?« fragte Michael, aber er erhielt keine Antwort mehr.
Die Haustür wurde laut zugeworfen. Hinter dem Tor heulten und bellten die Hunde, und als er seine Fußspitzen vorsichtig zwischen den Boden und die Tür schob, hörte er das böse Schnappen und lächelte im Dunkeln.
Gleich darauf vernahmen sie drinnen im Haus von dem oberen Fenster aus das Geräusch des abfahrenden Autos. Der helle Schein der beiden Lampen zeigte ihnen, daß er sich in der Richtung nach London entfernte.
Lois Reddle packte Verzweiflung, und sie warf sich schluchzend auf ihr Bett.