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Obgleich Lois Reddle schon viele recht unangenehme Tage in ihrem Leben durchgemacht hatte, konnte sie sich doch auf keine Zeit besinnen, die so schrecklich gewesen wäre wie die letzten zwanzig Stunden nach ihrem Fortgang von Gallows Farm. Sie war von der Haushälterin mitten in der Nacht aufgeweckt worden. Die Frau hatte ihr gesagt, daß sie sich anziehen und herunterkommen solle. Die erste Aufforderung war leicht zu erfüllen, denn sie hatte sich angekleidet aufs Bett gelegt. Als sie in den Gang hinunterkam, fand sie den Doktor, der auf sie wartete. Er trug seinen dicksten Mantel, hatte einen starken Stock in der Hand und prüfte eine Taschenlampe, als sie zu ihm trat.
»Wo bringen Sie mich denn jetzt hin?« fragte sie, als er sie quer über den Hof führte, während die Hunde an ihren Ketten fürchterlich bellten.
»Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren«, war die unbefriedigende Antwort. »Ich wünsche nicht, daß Sie sprechen oder Fragen stellen. Bis Sie dieses Haus verlassen haben, müssen Sie ruhig sein verstehen Sie mich?«
Sie stiegen den sanften Abhang des Hügels hinan und gingen auf der anderen Seite wieder in ein Tal hinab. Obgleich der Mond nicht schien, war es doch genügend hell, daß sie den Weg über den Sturzacker finden konnte und seinen Arm ablehnte, den er ihr bot. Sie machten einen weiten Umweg, um einer sumpfigen Stelle aus dem Wege zu gehen. Einmal mußte er ihr doch helfen, als sie über eine Weißdornhecke kletterten. Dann lag eine dunkle Baumreihe vor ihnen, die noch zu der Farm gehörte. Er sagte ihr, daß das ganze Gut zwölfhundert Morgen groß sei. Nur ein kleiner Teil war in Pacht gegeben, und keines der Felder war bestellt.
»Es ist nur magerer Boden wie all dieses Land in den Niederungen – da drüben ist Gallows Wood.« Er zeigte auf ein Gehölz. »Die Farm hat ihren Namen von dem Wald – vor langen Jahren stand ein Galgen auf der Spitze des Hügels. Fürchten Sie sich nicht?«
Er lachte, als sie verneinte.
Nach einiger Zeit kamen sie auf einen schlechten Pfad, der sie mitten in das Gehölz führte. Jetzt benützte er zum erstenmal die Taschenlampe, denn der Weg war überwachsen, und es war sehr schwierig, ihm zu folgen. Obwohl ihre Stimme fest und ihre Haltung zuversichtlich schien, war ihr doch bang zumute. Es war eine schlechte Vorbedeutung, daß sie das Gehöft verlassen mußte. Vermutlich brachte sie der Doktor zu einer anderen Stelle, weil er die Rückkehr Michael Dorns erwartete. Sie fürchtete nur das eine, daß Michael während ihrer Abwesenheit das Haus durchsuchen und sich damit zufrieden geben könnte, daß sie nicht dort war. Nachdem sie zehn Minuten weitergegangen waren, hielt er an, und sie glaubte, er hätte den Weg verloren. Aber dann sah sie bei dem Licht seiner Lampe ein kleines Steinhäuschen, das seitwärts von dem Pfad stand und ganz von Bäumen und Sträuchern verborgen war. Das war also ihr neues Gefängnis!
»Halten Sie die Lampe!« befahl er ihr, und sie gehorchte, während er von seinem Bund einen Schlüssel nach dem anderen probierte, um aufzuschließen. Nach einiger Zeit sprang die Tür auf, und er ging hinein, schaute sich aber um, ob sie ihm folgte. Auf dem Fußboden lag dick der Staub, und ein alter Stuhl mit abgebrochener Lehne war das einzige Mobiliar des Raumes, in den er sie brachte. An einer Wand hing ein alter Abreißkalender. Anscheinend war das Haus seit dieser Zeit nicht mehr bewohnt worden.
»Sie bleiben hier und verhalten sich vollständig ruhig. In einigen Stunden wird es hell. Wenn Sie etwas brauchen, dann fragen Sie Mrs. Rooks – sie wird gleich hier sein.«
Er ging hinaus, schloß aber die Tür nicht zu. Später entdeckte Lois, daß das Schloß nicht in Ordnung war. Sie wartete eine halbe Stunde, dann hörte sie Schritte und Stimmen in dem Vorraum. Irgend etwas fiel polternd zu Boden. Einen Augenblick erschrak sie furchtbar, aber wahrscheinlich hatte Mrs. Rooks, die bleiche Wirtschafterin, nur eine schwere Last abgeworfen. Sie hörte, wie die Frau darüber schimpfte. Sie hatte wohl alle möglichen Dinge mitgebracht, die für diesen Umzug notwendig waren. Es schien ziemlich viel Vorrat zu sein. Tappatt hatte sie darauf vorbereitet, daß ihr Aufenthalt hier länger dauern sollte.
»Es hätte mir beinahe das Kreuz eingedrückt«, knurrte Mrs. Rooks. »Warum konnte sie es denn nicht tragen, Doktor?«
Lois schlich sich näher an die Tür und horchte. Sie hoffte zu hören, daß sie nur hier versteckt wurde, weil Tappatt die Rückkehr Dorns erwartete.
»Holen Sie einen Stuhl aus dem anderen Zimmer«, hörte sie ihn brummen. »Warum machen Sie denn all diesen Lärm? Es ist für Sie doch nicht schlimmer als für mich. Es ist doch nicht das erstemal, daß Sie eine Nacht wachen müssen!«
»Ich sehe bloß nicht ein, warum Sie soviel Umstände machen«, brummte die Frau. »Er wird nicht wiederkommen, und wenn er wirklich kommt – wie wollen Sie ihn denn daran hindern, auch hierher zu gehen?«
»Er wird bestimmt zurückkommen – darüber gibt es gar keinen Zweifel. Ich kenne diesen Mann. Aber Sie brauchen sich keine Sorge zu machen, daß er sie finden wird. Er kann doch nicht jedes Gehölz in der Umgegend absuchen.«
Ein paar Minuten später schlug er die Haustür zu, als er fortging, und Lois hörte die Frau noch mit sich selbst reden. Sie saß dicht neben der Tür und konnte jedes Geräusch und jede Bewegung in dem leeren Raum verfolgen. Vielleicht hätte man auch das Fenster öffnen können, aber es war unmöglich, das zu tun, ohne daß es die Frau gehört hätte.
Kurz nach Tagesanbruch nahm Mrs. Rooks das Mädchen mit in die Küche. Sie kamen an dem Raum vorbei, in dem die zweite Gefangene untergebracht sein mußte. Lois sah, daß ein Schlüssel in der Tür steckte, und wenn die Lage in dem Zimmer ebenso war, so konnte die unbekannte Frau unmöglich entfliehen. Wer mochte sie sein? Irgendeine arme Person, die von ihren Freunden oder ihrer Familie der Pflege Dr. Tappatts übergeben worden war? Sie empfand schmerzliches Mitleid mit ihr.
Während des langen, unangenehmen Tages, der nun folgte, sah sie außer der Haushälterin kein einziges menschliches Wesen. Der Wald gehörte zu einem Privatgrundstück, und der zugewachsene Weg sagte ihr, daß nicht einmal die Leute, die dort wohnten, ihn häufig gingen. Vom Fenster aus konnte sie nur die Stämme von Buchen und das grüne Laubdach der Bäume sehen. Die fürchterliche Einsamkeit bedrückte selbst Mrs. Rooks, die sonst so unzugänglich war. Sie war wahrscheinlich nicht an ein einsames Leben gewöhnt. Am Nachmittag kam sie in das Zimmer, und Lois benützte die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Sie mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen, schaute rauh und böse drein und schien mit der Welt und den Menschen zerfallen zu sein.
»Es ist so verteufelt ruhig hier, daß man den Verstand verlieren könnte«, klagte sie.
Lois war neugierig, ob sie die Frau zum Sprechen bringen und in eine Unterhaltung verwickeln könnte.
»Sind Sie schon lange in England?« fragte Lois.
Mrs. Rooks mußte erst ihren natürlichen Widerwillen überwinden, bevor sie antwortete.
»Erst zwei Jahre – vorher waren wir in Indien. Aber ich weiß gar nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«
»Ich hörte, wie Sie die Hunde mit indischen Namen riefen. Mali heißt doch Geld, nicht wahr?«
»Stellen Sie keine Fragen«, sagte die Frau. »Verhalten Sie sich nur ruhig, Sie werden nicht schlecht behandelt. Aber wenn Sie sich närrisch aufführen, dann wird man Ihnen –« Sie nickte bedeutungsvoll. »Natürlich heißt Mali Geld.« Dann sagte sie noch einige hindostanische Worte.
Lois schüttelte lächelnd den Kopf. Sie vermutete, daß die Frau sie fragte, ob sie Hindostani spräche oder verstände.
»Warum werde ich hier gefangengehalten? Können Sie das nicht sagen?«
»Weil Sie nicht richtig im Kopf sind.«
Diese Antwort hätte Lois wütend gemacht, wenn ihr die Vermutung nicht schon selbst gekommen wäre, daß man dies als Vorwand benützte, um sie gefangenzuhalten.
»Sie haben Dinge gehört und gesehen, die nicht existieren, und solche Leute sind immer verrückt.«
Lois lachte. »Sie wissen ganz genau, daß ich nicht verrückt bin.«
»Keiner von diesen Menschen weiß, daß er verrückt ist«, sagte Mrs. Rooks zur größten Beruhigung von Lois. »Das ist doch eines der Symptome. Sobald jemand glaubt, daß er vernünftig ist, ist er verrückt! Der Doktor weiß das, er ist der klügste Mann in der Welt!«
Sie schaute durch die offene Tür. Lois hörte von dort dauernd Schritte, als ob jemand auf und ab ginge.
»Wer ist in dem anderen Zimmer?« fragte sie, aber sie erwartete keine befriedigende Antwort.
»Eine Frau – die ist auch verrückt.«
»Habe ich sie nicht neulich abends gesehen?« fragte das Mädchen und bemühte sich, so gleichgültig wie möglich zu sein. »Haben Sie nicht mit ihr im Hof – gesprochen?«
Die Frau musterte sie von oben bis unten.
»Sie haben gesehen, wie ich sie mit der Peitsche beruhigte – manchmal wird sie nämlich ein wenig frech, aber daran bin ich schon gewöhnt. Die meisten sind so. Bei Ihnen kommt das auch noch.«
Lois schauderte vor dieser furchtbaren Prophezeiung.
»Da ist doch nichts dabei – ein paar Schläge – Mondsüchtige sind eben keine Menschen mehr, sie sind wie Tiere, sagt der Doktor. Und man muß sie eben auch wie Tiere behandeln. Das ist die einzige Methode, die sie verstehen.«
Lois versuchte ihren Schrecken und ihren Abscheu zu verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz.
»Ich hoffe, Sie werden mich nicht wie ein Tier behandeln«, sagte sie.
Mrs. Rooks rümpfte die Nase.
»Wenn Sie sich ordentlich betragen, werden Sie auch gut behandelt. Alle verrückten Leute haben eine gute Zeit bei uns, wenn sie nicht frech und aufsässig sind. So hält es der Doktor immer.«
Es war Lois klar, daß diese brutale Frau ohne zu fragen jede Diagnose annahm, die der Doktor stellte. Für Mrs. Rooks war sie eben verrückt, genau wie die andere unglückliche Frau. Und wenn sie widerspenstig wurde, sollte sie in derselben Weise behandelt werden.
»Warum haben Sie sie denn eine Zuchthäuslerin genannt?«
Wieder traf sie ein argwöhnischer Blick.
»Ich habe eine Menge Schimpfnamen für sie«, sagte Mrs. Rooks kühl. »Wenn Sie nicht spioniert hätten, wüßten Sie nichts davon. Aber Schimpfnamen verletzen niemanden, sie sind immer noch viel besser als die Peitsche. Kennen Sie den Mann, der gestern abend kam?«
»Mr. Dorn?«
»Ja – wer ist das?«
»Ein Polizeibeamter.«
Lois hatte nicht erwartet, daß diese Worte solchen Eindruck auf die Frau machen würden. Das Gesicht der Haushälterin wurde plötzlich blaß.
»Ein Detektiv?«
Lois nickte, aber Mrs. Rooks' Gesicht hellte sich wieder auf.
»Das ist ein Teil Ihrer verrückten Ideen«, sagte sie ruhig. »Er ist ein Mann, dem der Doktor Geld schuldet, ich weiß es, weil er es mir selbst erzählt hat. Der Doktor ist in Geldnot, aber deswegen hat er noch lange keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei. Man hat viele Lügen über ihn in Indien verbreitet, aber er ist ein guter Mensch, der beste Mann, den es auf der Welt gibt.«
Plötzlich kam Lois ein Gedanke.
»An welchem Irrwahn leide ich denn?« fragte sie.
Mrs. Rooks sah das Mädchen mit einem schlauen Blick an.
»Ich bin erstaunt, daß Sie das fragen. Sie haben wirklich die verrückte Idee, zu glauben, daß Sie jemand anders sind als in Wirklichkeit!«
Lois runzelte die Stirn.
»Wollen Sie damit sagen, daß ich unter dem Eindruck stehe, eine hohe Persönlichkeit zu sein?
Mrs. Rooks nickte.
»Ja – Sie denken, daß Sie die Gräfin von Moron sind!«