Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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10

Die Gräfin von Moron hatte, wie Lois entdeckte, eine sonderbare Lieblingsbeschäftigung. Sie liebte Zusammensetzspiele, die besonders für sie hergestellt wurden – Bilder in Grau und Blau mit merkwürdigen Schattierungen, die einen gewöhnlichen Spieler zur Verzweiflung gebracht hätten. Sie konnte Stunden vor dem großen Tisch in der Bibliothek damit zubringen. Das erzählte sie beim Essen, und Lois bemerkte zum erstenmal eine menschliche Seite an ihrer Herrin. Die Unterhaltung wurde hauptsächlich von den beiden Frauen bestritten. Lord Moron war zwar auch zugegen, aber er schien kaum dazuzugehören. Wenn er gelegentlich sprach, ignorierte ihn seine Mutter, oder sie antwortete ihm nur kurz. Anscheinend war er an diese Behandlung gewöhnt und lehnte sich nicht dagegen auf. Der einzige Bedienstete, der während des Essens erschien, war Braime, gegen den Lois sofort einen Widerwillen faßte. Er war ein schweigsamer Mann mit wenig einnehmendem Gesicht, und obwohl er sehr höflich war, flößte ihr irgend etwas an seiner großen, mächtigen Gestalt Unbehagen ein.

»Sie haben den Butler nicht gern, Miss Reddle?« fragte die Gräfin, als der Mann einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte.

Lois war erstaunt über das feine Gefühl der Gräfin.

»Ich weiß noch nicht«, antwortete sie lachend, »ob er mir gefällt.«

»Man kann sehr zufrieden mit ihm sein«, erwiderte die Gräfin in ihrer majestätischen Art. »Ich liebe große Diener, und daß sein Gesicht nicht gerade anziehend ist, scheint mir ein Vorteil zu sein. Keiner meiner Gäste wird ihn mir zu nehmen versuchen. Man findet es in unseren Kreisen häufig, daß einem die besten Diener von anderen Leuten wegengagiert werden.«

Und dann erzählte sie von ihrer Vorliebe für Zusammensetzspiele.

»Braime ist sehr hilfreich und ganz geschickt in diesen Dingen – ich habe ihn schon oft zu Hilfe rufen müssen.«

»Ist er schon lange bei Ihnen?«

»Ungefähr sechs Monate. Er wurde mir von jemand empfohlen, der sich um die Besserung von Verbrechern bemüht«, war die verwunderliche Antwort.

Lois sprang beinahe vom Stuhl auf.

»Wollen Sie damit sagen, daß er früher im Gefängnis war?« fragte sie bestürzt.

Lady Moron nickte.

»Ja, ich glaube, er wurde wegen irgendeiner dummen Sache verurteilt – soweit ich mich entsinne, hatte er Silber gestohlen. Ich habe ihm eine neue Existenzmöglichkeit gegeben – und der Mann ist dankbar.«

Als der Butler zurückkam, betrachtete Lois ihn sorgfältiger und kritischer. Trotz seiner mächtigen Gestalt bewegte er sich mit leisen, fast katzenhaften Schritten, und seine plumpen Hände handhabten das zerbrechliche Chinaporzellan mit erstaunlicher Geschicklichkeit.

Lois war angenehm überrascht, daß ihr ein eigenes Mädchen zugeteilt war – ein frisches, gesundes Landkind, das aus dem Dorf der Gräfin in Berkshire stammte. Die Earls von Moron waren wohlhabende Landbesitzer, und Moron House nahe Newbury war einer der hervorragendsten Herrensitze der Grafschaft.

Das Mädchen besaß die ganze Beredsamkeit ihres Schlages, und Lois war noch nicht lange in ihrem Zimmer, als sie schon erfuhr, daß ihr Mißtrauen gegen den Butler von allen Dienstboten geteilt wurde.

»Er steckt überall seine Nase hinein und spioniert herum«, sagte das Mädchen. »Wie eine große Katze schleicht er daher. Sie können ihn nicht hören, bis er hinter Ihnen steht. Wir anderen sind ihm nicht gut genug – immer hält er sich im Vorzimmer zum Speisesaal auf, und wenn ein neues Mädchen seine Stelle angetreten hat, bewacht er es, als ob es eine Maus wäre. Ich weiß nicht, warum die Gräfin so einem häßlichen, übelgelaunten Mann die Verwaltung ihres Haushalts anvertraut.«

»Ist er übelgelaunt?« fragte Lois.

»Nun ja«, gab das Mädchen zögernd zu, »ich kann es nicht genau sagen. Aber es sieht immer so aus«, sagte sie dann eifrig. »Und man kann einen Menschen immer nach seinem Blick beurteilen. Die Gräfin hat sich aber viel Mühe mit Ihnen gegeben.«

»Mit mir?« fragte Lois erstaunt.

»Sie hat diese Stühle für Sie hereinstellen lassen und hat selbst Ihr Bett ausgewählt und – hallo, was ist das? Gehört das Ihnen?«

Sie hatte eine leere Schublade einer Kommode aufgezogen und hielt jetzt eine große Fotografie in der Hand. Lois nahm sie – es war das Bild eines jungen Mannes, der am Anfang der Zwanzig stehen mochte. Er sah gut aus, und irgend etwas in dem Gesicht kam ihr sonderbar bekannt vor.

»Ich weiß nicht, wie das hierherkommt. Ich habe gestern selbst die Schubladen ausgeräumt. Die Gräfin muß es hierhergelegt haben.«

Obwohl es nur ein Brustbild war, sah Lois, daß der junge Mann die Uniform eines Hochlandregiments trug, und versuchte die Nummer zu erkennen; als Kind hatte sie sich sehr für militärische Abzeichen interessiert.

»Er sieht fesch aus, nicht wahr, Fräulein?«

»Sehr vorteilhaft«, sagte Lois. »Ich bin neugierig, wer das ist.«

»Es gibt eine Menge Fotografien im Haus, und niemand weiß, wen sie darstellen. Die Gräfin sammelt sie«, sagte das Mädchen.

»Ich will sie Lady Moron bringen«, meinte Lois und ging mit dem Bild hinunter. Sie fand die Gräfin vor einem halbvollendeten Legespiel, den Kopf in die Hände gestützt.

»Wo war das? In Ihrem Zimmer?«

Lady Moron nahm die Fotografie aus ihrer Hand, betrachtete sie gleichgültig und ließ sie in die Tischschublade gleiten.

»Es ist ein junger Mann, den ich vor vielen Jahren kannte«, sagte sie und nahm sich nicht die Mühe, Aufklärung darüber zu verlangen, wie die Fotografie in die Kommode gekommen war.

Lois ging in ihr Zimmer zurück. Es war ein sonniger Nachmittag, und die Luft war sehr warm. Die großen Fenster waren geöffnet, eines führte zu einem der vielen Steinbalkone, die die Front des Hauses schmückten. Unterhalb der Fensteröffnung war jedoch ein leichtes Holzgitter, das den Zugang zu dem einladenden Platz versperrte.

»Es ist uns nicht erlaubt, tagsüber auf die Balkone zu gehen«, sagte das Mädchen. »Die Gräfin ist besonders streng in diesem Punkt.«

»Betrifft das auch mich?«

»O ja, Fräulein. Die Gräfin selbst geht auch nur abends hinaus. Niemand darf sie tagsüber betreten.«

Lois war neugierig, welchen Grund die Gräfin haben mochte, diesen angenehmen Erholungsplatz während des Tages zu verbieten.

Die Nachmittagspost brachte eine Anzahl Briefe, die nach der Gewohnheit Lady Morons am selben Tag beantwortet wurden. Lois war bis eine Stunde vor dem Abendessen beschäftigt. Dann machte ihr die Gräfin einen Vorschlag, für den sie sehr dankbar war.

»Wenn Sie eine Freundin haben, die Sie gern zum Tee einladen, können Sie das jeden Nachmittag tun, den ich fort bin. Morgen haben Sie einen freien Abend. Ich werde auswärts speisen.«

An diesem Abend schrieb Lois noch einen langen Brief an Lizzy Smith und brachte ihn selbst zur Post, bevor sie sich in ihr herrliches Bett legte. Die Antwort kam prompt. Das war charakteristisch für die energische Lizzy, die alles gleich erledigte. Als Lois am nächsten Morgen allein frühstückte, meldete ihr ein Bedienter, daß sie am Telefon verlangt werde. Lizzy rief an.

»Bist du es, Liebling? Ich werde natürlich heute abend zu dir kommen. Schickst du den Wagen, oder nehme ich die alte Nr. 14? Zieh dich nicht extra für mich um, ich bin ein einfaches Mädchen.«

»Sei nicht albern, Lizzy. Ich bin allein und erwarte dich.«

»Was ist es denn für eine Krippe?« fragte Lizzy.

»Es ist wirklich sehr schön«, sagte Lois, jedoch ohne Begeisterung. »Ich habe nur nicht genügend zu tun.«

»›Nur‹ darfst du nicht sagen, sondern ›und‹«, gab Lizzy zurück. – »Was hast du, Lois? Finde eine Stelle für mich ohne Arbeit – hier ist der alte Rattlebones!« Das letzte sagte sie ganz leise, und Lois wußte, daß Lizzy vom Büro aus telefonierte und der erste Clerk angekommen war. Dann hörte sie, wie drüben eingehängt wurde.

 

Lady Moron und ihr Sohn speisten am Abend auswärts und gingen dann ins Theater. Lois war allein, als Lizzy kam.

»Es ist sehr geräumig hier«, sagte sie langsam, als sie sich in dem herrlichen Speisezimmer umsah. »Ist der lange, große Kerl dort der Butler? Ich kann nicht sagen, daß mir sein Gesicht gefällt, aber er kann nichts dafür. Wieviele Gänge gibt es denn?« fragte sie nach dem dritten. »Mein Arzt sagte mir, ich würde nicht mehr als sechs vertragen.«

Nach dem Essen gingen die Mädchen in Lois' Zimmer, und Lizzy setzte sich staunend nieder, um alles zu bewundern.

»Ich dachte immer, solche Stellungen gäbe es nur in schönen Romanen. Ich meine solche Bücher, wie man sie als Preise in der Sonntagsschule erhält.«

»Es ist zu schön, um wahr zu sein!« lachte Lois.

»Hast du ihn nicht gesehen?«

»Meinst du Mr. Dorn? Doch, den habe ich heute morgen wieder gesehen. Er ging vor dem Haus auf und ab. Er ist ein Detektiv, Lizzy.«

Lizzy schaute erstaunt auf.

»Ein richtiger Detektiv?« fragte sie ehrfurchtsvoll. »Ich dachte, er wäre einer von der anderen Sorte – einer, den die Detektive fangen. Was sagte er denn?«

»Ich sprach ihn nicht, ich sah ihn nur durch das Fenster, Lizzy, ich bin so verwirrt und bedrückt von allem – und er ist ein so sonderbarer Mann! Was hätte er mir alles sagen können, als ich mit seinem Wagen zusammenstieß!«

»Ich weiß nicht, worüber du dich aufregst«, sagte die philosophische Lizzy. »Auch solche Menschen sind verliebt. Es gibt sehr achtbare Leute unter ihnen.« Sie schaute plötzlich auf.

»Was hast du?« fragte Lois.

»Ich dachte, ich hätte draußen Schritte gehört.«

Lois ging zur Tür und stieß sie auf, aber der Gang war leer.

»Glaubtest du, es wäre jemand da?«

Lizzy schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher, »aber ich habe scharfe Ohren, und sicher habe ich eben auf dem Teppich Schritte gehört.«

Lois schloß die Tür wieder und setzte sich auf das Bett.

»Lizzy, ich will dir etwas sagen.«

Das Interesse von Miss Elizabeth Smith erwachte.

»Ach«, sagte sie und holte tief Atem. »Ich wußte, daß du es mir früher oder später gestehen würdest. Ich dachte es mir ja. Er ist einer der nettesten Menschen, denen ich je begegnet –«

»Wovon in aller Welt sprichst du denn?« fragte Lois erschrocken. »Denkst du schon wieder an diesen unglückseligen Mr. Dorn?«

»An wen sollte ich sonst denken?« fragte Lizzy entrüstet.

Lois brach trotz der ernsten Lage, in der sie sich befand, in ein fröhliches Lachen aus.

»Liebe Lizzy, es wird mir schwer, es dir jetzt zu sagen«, begann Lois nach einer Weile. »Du kleine Heiratsvermittlerin! Mr. Dorn ist wahrscheinlich verheiratet und hat eine große Familie. Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen.« Plötzlich kam ihr ein anderer Gedanke. »Willst du nicht einmal diese große Stadt bei Nacht sehen, mit all ihren Lichtern? Ich will sie dir zeigen.« Sie ging zu den Schiebefenstern und öffnete sie. »Bei Tag ist es verboten, auf den Balkon zu gehen, aber jetzt ist es wundervoll!«

Sie trat auf den Balkon hinaus und ging zu dem Geländer, legte ihre Hand darauf und schaute auf die Straße hinunter, die wie ein langes Band vorbeilief. Dann fühlte sie plötzlich, wie sich der Balkon langsam unter ihr senkte.

Entsetzt wandte sie sich um und sprang zum Fenster zurück; aber in diesem Augenblick ertönte ein lauter Krach, und der Steinboden unter ihr fiel in die Tiefe.

 


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