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Mr. Chesney Praye war ein angenehmer Besuch. Er hatte sein Auto in dem Vorhof stehengelassen und saß nun vor dem kleinen Holzfeuer am Kamin. Er wärmte sich die erstarrten Hände, denn die Nacht war ungewöhnlich kalt gewesen, und er war in höchster Eile gegen den Wind und durch die Niederungen gefahren.
»Brr, so was nennt man in England Sommer! Ich würde gern wieder nach Indien zurückgehen.«
»Hast du das vor?«
»Möglich – alles hängt davon ab –«
»Du hast Glück, daß du mich antriffst«, sagte der Doktor und stellte sein Glas auf den Tisch.
»Warum?« fragte Chesney erstaunt. »Ich dachte, du würdest diesen friedlichen Wohnsitz nicht verlassen, auf keinen Fall jetzt.«
Der Doktor erzählte ihm kurz, warum er in der Nacht die beiden Frauen fortgebracht hatte. Chesney machte ein ernstes Gesicht.
»Ist es möglich, daß Dorn zurückkommt?«
Tappatts Lustigkeit beruhigte ihn aber wieder.
»Er ist schon zurück – er befindet sich augenblicklich auch hier!«
»Was zum Teufel, meinst du?« fragte er barsch.
»Setz dich nur wieder hin, du brauchst dich nicht zu fürchten. Er liegt hinter einer zwei Zoll dicken Tür, hat Handschellen an den Gelenken und Kopfschmerzen –, er wird sich kaum rühren können. Ich hätte das telefonisch durchgesagt, aber ich traue dem Amt nicht.« Und dann erzählte er ihm sein Erlebnis mit Dorn.
»Es war die Frage, wer weiter voraussehen konnte. Es war verteufelt schwer, sich mit einem solchen Mann zu messen, immer zu überlegen, was er unter den gegebenen Umständen tun würde, seine Pläne zu durchkreuzen und seine Gegenmaßnahmen zuschanden zu machen. Einer von uns beiden mußte gewinnen – er oder ich. Aber er hat eine der einfachsten Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen – der blutigste Laie hätte wissen müssen, daß ich ihm ein Betäubungsmittel in den Kaffee schütten würde, wenn er nur einen Augenblick seine Aufmerksamkeit ablenken ließ. Die Sache war ein Kinderspiel und ist gerade kein großes Verdienst – er hat es mir wirklich leichtgemacht.«
Chesney war trotzdem nicht sehr behaglich zumute.
»Hat er sich von seiner Betäubung wieder erholt?«
»O ja, ich hatte schon eine interessante Unterhaltung mit ihm durch die Tür. Es ist nämlich ein kleines Guckloch darin, durch das man leicht angenehme Scherze austauschen kann. Michael Dorn ist in diesem Augenblick ein kranker Mann.«
Chesney Praye ging im Zimmer auf und ab.
»Vielleicht ist es besser, daß ich Miss Reddle heute nacht mit fortnehme.«
»Die Gräfin wollte nicht –«, begann der Doktor.
»Du brauchst dich nicht um die Gräfin zu kümmern – sie hätte telefonische Anweisung gegeben, aber sie hatte auch Bedenken wegen des Amtes. Das Mädchen und Mrs. Pinder müssen fortgeschafft werden. Das Risiko, sie hier zu behalten, ist zu groß. Dorn hat auch noch Leute, die mit ihm zusammenarbeiten, und eines Morgens wirst du hier aufwachen und bist von der Polizei umstellt.«
»Wohin willst du denn gehen?«
»Ich werde außer Landes gehen und sie mitnehmen.«
»Und die alte Frau?«
»Es ist möglich, daß ich sie – später auch brauche«, sagte Chesney.
»Dann werde ich Miss Reddle herunterbringen«, sagte der Doktor und ging zur Tür. Aber Praye holte ihn zurück.
»Das hat gar keine Eile«, sagte er. Er wollte ihm anscheinend noch etwas mitteilen, das er bis jetzt verschwiegen hatte.
»Was hast du für Pläne für die Zukunft, Tappatt?«
»Ich? Ich muß schleunigst machen, daß ich fortkomme. Sie werden mich aus der Liste der Ärzte streichen – wenigstens hat Dorn mir das gesagt.«
»Was willst du denn mit ihm anfangen?«
Ein häßliches Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des Doktors.
»Ich weiß noch nicht. Er wird mir nachgerade sehr lästig – ich habe das gleich von Anfang an gesehen. Ich könnte ihn einfach hier lassen. Das werde ich wahrscheinlich auch tun. Niemand wird herkommen, vielleicht monatelang nicht, vielleicht sogar in einem Jahr noch nicht –«
Chesney Prayes Gesicht wurde aschfahl.
»Du willst ihn hier verhungern lassen?«
»Warum nicht?« fragte der andere kühl. »Wer wird es denn herausbringen? Ich werde am besten nach Australien gehen. Meine Haushälterin nehme ich mit – sie wird denken, ich habe Dorn freigelassen. Auf keinen Fall stellt sie überflüssige Fragen. Das Anwesen ist Lady Morons Eigentum. Wer soll denn hierherkommen, wenn ich fortgehe? Es ist möglich, daß es jahrelang leersteht.«
Chesney fühlte ein Würgen in der Kehle, und seine Hand zitterte.
»Ich weiß nicht – es ist doch zu schrecklich, einen Menschen einfach verhungern zu lassen –«
»Aber was habe ich denn davon, wenn er mir auf den Fersen ist?« fragte der Doktor und stocherte mit dem Eisen im Feuer, das beinahe ausgegangen war. »Dann müßte ich meine Mahlzeiten im Gefängnis zu regelmäßig einnehmen. Er hat mir ja gesagt, daß das Essen in Dartmoor ganz gut sein soll, und ich glaube das gern. Ich brauche dazu keine persönliche Erfahrung. Für einen Arzt gibt es ja immer noch einen Ausweg. Ich verdanke Dorn so verschiedenes. Er hat mich von Indien fortgejagt. Dein besonderer Freund ist er doch auch nicht gerade, Chesney?«
»Nein, aber –«
»Aber was? Du hast soviel Mut wie ein altes Huhn! Denke daran, was uns passiert, wenn die Geschichte herauskommt!« Er zeigte auf die Decke. »Das würde die meiste Zeit deines Lebens kosten und mehr Jahre, als ich noch zu leben habe. Nein, ich kenne das Risiko sehr gut und habe mir ganz genau überlegt, was das in Zukunft mit sich bringen kann. – Du wolltest doch das Mädchen hier unten haben – vermutlich willst du sie allein sprechen?«
Chesney nickte. Tappatt verließ das Zimmer und blieb lange Zeit fort. Als sich die Tür endlich wieder öffnete, kam Lois Reddle in den Raum. Als sie Praye sah, blieb sie stehen.
»Sie sind hier?« fragte sie verwundert.
»Guten Abend, Miss Reddle. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Chesney war die Höflichkeit selbst, und sein Benehmen war tadellos.
»Ich fürchte, Sie haben sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Ich habe erst heute nachmittag davon erfahren und kam sofort hierher, um alles zu tun, was in meinen Kräften steht, um Ihnen zu helfen. Der Doktor erzählte mir eben, daß Sie amtlicherseits für verrückt erklärt worden sind.«
»Das ist eine Lüge«, sagte sie erregt. »Ich kenne die Gesetze sehr wenig, aber ich bin doch zu lange in Mr. Shaddles' Büro gewesen, um nicht zu wissen, daß eine Person nicht auf die Untersuchung eines einzigen Arztes hin für verrückt erklärt wird. Wollen Sie mich von hier fortbringen?«
Er nickte.
»Und die andere unglückliche Frau?«
»Die kann auch fortgehen«, sagte er langsam. »Unter gewissen Bedingungen.«
Sie sah ihm fest ins Gesicht.
»Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Praye.«
Er lud sie wieder ein, Platz zu nehmen, aber sie rührte sich nicht.
»Hören Sie mich bitte an, Miss Reddle. Ich nehme Ihretwegen ein großes Wagnis auf mich. Ich brauche es Ihnen nicht im einzelnen auseinanderzusetzen, aber wenn ich heute abend keinen Erfolg habe, dann ist meine Zukunft und wahrscheinlich« – er zögerte zu sagen: meine Freiheit – »meine Zukunft ernstlich gefährdet. Ich habe diese Fahrt ohne das Wissen einer bestimmten Persönlichkeit unternommen, deren Namen ich im Augenblick nicht nennen will. Ich täusche das Vertrauen, das sie in mich setzt. Sie wird es mir nicht verzeihen.«
»Sprechen Sie von der Gräfin Moron?« fragte sie ruhig.
»Es hat keinen Zweck, wie die Katze um den heißen Brei zu gehen – ja, ich meine die Gräfin Moron.«
»Bin ich auf ihre Anordnung hier?«
Er nickte.
»Aber warum? Was habe ich ihr getan, daß sie auch nur den Wunsch haben könnte, mir irgend etwas zuleide zu tun?«
»Das werden Sie in einigen Tagen erfahren«, sagte er ungeduldig. »Das gehört jetzt nicht hierher. Ich kann Sie und ihre Mutter retten.«
Sie prallte zurück.
»Meine Mutter?« fragte sie atemlos. »Diese Frau« – sie zeigte mit zitternden Fingern auf die Tür – »ist meine Mutter?«
Er nickte.
»Hier – o mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?«
»Sie ist aus demselben Grunde hier wie Sie«, war seine kühle Antwort. »Miss Reddle, Sie sind eine intelligente junge Dame – ich hoffe, Sie sind vernünftig und sehen ein, welche Opfer ich für Sie bringe. Nehmen Sie die Bedingungen an, die ich stellen muß, wenn ich Ihre Mutter befreie?«
»Was sind Ihre Bedingungen?« fragte sie langsam.
»Die erste ist, daß Sie mich heiraten«, sagte Chesney Praye.