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Achtundzwanzigstes Kapitel

Wieder feierten die Russen das Auferstehungsfest.

In Moskau dachten einige daran, was in der letzten Osternacht Furchtbares geschehen war; daß die Prinzessin Petrowsky von einem Nihilisten ermordet worden, daß die Nihilisten ein Attentat auf den Kaiser geplant hatten, und daß die Mine zu früh aufgeflogen war – viel zu früh!

In der ganzen Stadt, im ganzen Lande hatte man deswegen Dankgottesdienste abgehalten, das ganze Land hatte das verfrühte Aufstiegen der Mine gefeiert.

Wera stellte sich vor, was geschehen wäre, wenn das Attentat geglückt und die Mine zu rechter Zeit aufgeflogen wäre – ein Massenmord!

So wie es gekommen, hatte das Unglück die kleinsten Dimensionen angenommen. Bei der Nachricht von der Ermordung der Prinzessin war die Dienerschaft, die gerade im Saale beschäftigt gewesen, davongestürzt. Nur einige leichte Verwundungen geschahen, die meisten davon unter dem Volk auf der Straße.

Der Haß gegen die Urheber des verruchten Attentats wuchs im Volk von Tag zu Tag. »Nihilist« ward ein Schimpfname, ein Fluchwort. Aber die Nihilisten hörten nicht auf, das Schicksal des russischen Volkes gestalten zu wollen; sie fuhren fort, das russische Volk zu befreien, das russische Volk zur Menschenwürde zu erheben, für das russische Volk zu Helden, Märtyrern und Mördern zu werden.

Vieles von jenem Attentat blieb in Dunkel gehüllt. Man hatte den Nihilisten Alexander Dimitritsch, denselben, der die Prinzessin Petrowsky ermordet, gefangengenommen, später noch eine Nihilistin, und man fand in dem Stollen den Leichnam desjenigen, der die Mine in die Luft gesprengt.

Niemand erfuhr, wer es gewesen, dem Moskau die Verhinderung des Massenmordes zu danken hatte – niemand bekümmerte sich darum: dem verfluchten Kerl war recht geschehen! Man nahm allgemein an, daß dem Betreffenden entweder das Zeichen zum Aufstiegen der Miene zu früh gegeben worden war, oder daß er irgendein anderes Geräusch für dieses Zeichen genommen hatte. Rätselhaft blieb auch, weshalb der Mensch zum Entzünden der Mine sich nicht eines Schwefelfadens bedient hatte. Was man von dem Leichnam des Nihilisten an verbrannten und verkohlten Stücken auffand, wurde irgendwo eingegraben! Verdammt sei sein Andenken!

Verdammt sei sein Andenken!

So oft Wladimir des treuen Knechtes Tanias gedachte, hatte er für den Namen Coljas diese Verwünschung. Es kam ihm nicht in den Sinn zu grübeln, weshalb Colja die Mine in Brand gesteckt hatte – mittels einer Lunte ober seines Lichtes. Er nahm an, daß Colja neugierig geworden. – Colja und neugierig; neugierig bei etwas, das die »Sache« anbetraf! – daß er in den Keller geschlichen, in den Stollen gekrochen war, die Mine betrachtet, sich dem Sprengstoff mit dem Lichte genähert, und so durch eine unerhörte Unvorsichtigkeit die Mine in die Luft gesprengt hatte – viel zu früh! viel, viel zu früh!

Von diesem »zu früh« konnte Wladimir seinen Geist gar nicht losreißen; dieses »zu früh« marterte ihn Tag und Nacht, brachte ihn fast um seinen Verstand. Als die Mine aufflog, hatte er laut aufgeschrien: »Zu früh!« Wären der Lärm, den die Katastrophe verursachte, der Tumult und das Geschrei der Menge nicht so ungeheuer gewesen, man hätte ihn hören und durch seinen Ausruf als einen der Attentäter erkennen müssen; wahrscheinlich, daß er dann von den Rasenden gelyncht worden wäre, wie das beinahe mit Sascha geschehen war.

»Zu früh, viel zu früh!« Wladimir war hingestürzt, hatte sich mit der Wut des ausbrechenden Wahnsinns zu dem Hause des Popen Bahn gebrochen und war in den Keller hinuntergetaumelt. Aber er konnte auch nichts anderes tun als rasen und verzweifeln. Natalia war ihm gefolgt und Natalia rettete ihn. Er lag auf dem Hof am Boden und schon drängten sie von der Straße herein. Da warf Natalia sich zu ihm nieder, umfing sein Haupt, drückte ihr Gesicht gegen seines und flüsterte ihm ins Ohr, daß er jetzt am Leben bleiben müsse – nicht für Tania und seinen Sohn, sondern für Rußland, für das Volk, für die Sache, für sein Prinzip, um die verlorene Schlacht durch einen herrlichen Sieg vergessen zu machen. Mit glühenden, gewaltigen Worten raunte sie ihm, von seiner Berufung zum Helden und Märtyrer: »Tröste dich! Es ist ein Glück, daß es so gekommen ist; sowohl für dich, wie für das russische Volk. Du durftest noch nicht zugrunde gehen, du mußtest noch leben bleiben, leben, weil du Größeres vollbringen sollst, als dieses gewesen wäre. Lasse dich nicht finden, lasse sie nicht auch noch diesen Triumph haben, lasse dich nicht von diesen Bestien in Stücke reißen. Denn sie sind nicht das russische Volk! Raffe dich auf, fliehe, rette dich! Geh nach Petersburg, dringe bis zum Kaiser, töte den Tyrannen, morde ihn mit eigner Hand, befreie Rußland, werde der Begründer einer neuen Zeit – du, du allein!«

So die Fanatikerin. Und Wladimir hörte auf sie, Wladimir raffte sich auf, floh mit ihr und rettete sich. Mit Natalia und Tania zusammen begab er sich nach Eskowo.

Aber auch in dem Steppendorf war er nicht sicher; wenigstens drängte ihn Natalia von dort hinweg, ins Ausland. Sie konnte ihm nicht weiter folgen und mußte bei Tania zurückbleiben; doch sie erlebte es noch, daß sein erster Brief, der an sie gerichtet war, in Eskowo ankam. Wladimir schrieb, er befände sich in Genf in vollkommener Sicherheit und mit vielen Gesinnungsgenossen zusammen. Sie hätten einen großen Plan gefaßt. Sobald der Augenblick zur Aktion gekommen, würde er mit einigen anderen – darunter ein junges Mädchen – wieder nach Rußland zurückkehren, nach Petersburg! Wladimir beschwor Natalia, noch das nächste Osterfest zu erleben.

Aber bei Natalia half keine Beschwörung mehr, selbst nicht, wenn sie von solchen mächtigen Lippen kam. Sie starb an dem Tage, an dem sie Wladimirs Brief empfing; sie starb in dem heiligen Glauben, daß der Auserwählte seine Mission erfüllen und der Messias des russischen Volkes werden würde, sie starb, ohne jede Hoffnung, daß sie, die beiden »Auferstandenen«, sich jemals in einem anderen Leben wieder begegnen könnten.

Gesegnet sei sein Andenken!

Tania segnete es; mit jedem Gedanken, den sie den Toten weihte, segnete sie das Andenken ihres Getreuen. Hätte Colja erfahren können, wie viele Tränen von den Augen seines Täubchens ihm nachgeweint wurden, er wäre der Seligste der Seligen gewesen; und zugleich hätte der Schmerz, welchen eine, die noch lebte, um ihn fühlte, seinem Geist keine Ruhe im Grabe gelassen, so daß er hätte zurückkehren müssen auf die Welt, um das Täubchen über den Tod ihres selig verstorbenen Colja zu trösten.

Tania wußte, wie er umgekommen, wo und warum er die Mine angezündet hatte und das viel zu früh! Sie wußte es, als ob sie in der Seele des Toten gelesen. Um ihretwillen war er eines Helden- und Märtyrertodes gestorben! Und Tania ahnte auch, daß das Opfer seines Lebens ein vergebliches sein würde.

Als ihr kleiner Sohn zu sprechen anfing, war das erste Wort, welches sie dem Kinde lehrte, der Name Colja; und erstaunlich, geradezu erstaunlich war es, wie schnell der Wunderknabe den Namen lernte; Colja wäre darüber in helles Entzücken geraten.

Ostern wurde gefeiert, als drei Frauen aus Moskau eine Wallfahrt nach Kasan antraten; das Mütterchen, Anuschka und die Wirtin Marja Carlowna. Das Mütterchen hatte nicht eher Ruhe gelassen, als bis die weite Wanderschaft unternommen wurde; sie hatte ein Gelübde getan, wenn ihr Grischa und Wera Iwanowna ein Paar würden, wollte sie aus Dankbarkeit zur heiligen Mutter Gottes von Kasan pilgern, Nun waren die beiden ein Paar geworden, denn Grischa war tot und tot war Wera Iwanowna, das Mädchen, welches ihr Grischa liebgehabt, lieber noch, als selbst sein altes Mütterchen, und im Himmel hatte man die Hochzeit der beiden gefeiert, mit allem himmlischen Pomp, mit allen Heiligen als Gäste. Da half kein Reden Anuschkas, daß Wera Iwanowna noch am Leben und nur zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien verdammt sei – das Mütterchen blieb dabei, daß Wera Iwanowna tot war und tot war Grischa, und die beiden Toten hatten Hochzeit gehalten, und das Mütterchen mußte zur heiligen Mutter Gottes nach Kasan. Also ging Anuschka mit dem irrsinnigen Mütterchen nach Kasan, und Marja Carlowna, bei der die beiden immer noch wohnten, ging mit ihnen, denn Marja Carlowna wollte einen Bußgang tun, und wäre am liebsten mit bloßen Füßen gegangen, durch Disteln und Dornen.

Das Gericht war noch damit beschäftigt, dem Nihilisten und geständigen Mörder Alexander Dimitritsch den Prozeß zu machen, als man ein Mädchen vor die Schranken führte, eine gewisse Wera Iwanowna aus Eskowo. Diese Wera Iwanowna war eine der Moskauer Polizei seit langem verdächtige Persönlichkeit, auf welche man nach jenem mißglückten Attentat eifrig, aber vergeblich gefahndet hatte. Plötzlich stellte sie sich selbst den Gerichten. Sie gab vor, daß Gewissensbisse sie peinigten und legte ein umfassendes Geständnis ab, Dinge über ihre nihilistische Tätigkeit aussagend, die ihre Sache zu einem nicht minder schweren Fall machten, als diejenige eines gewissen Alexander Dimitritsch war, der übrigens gleichfalls aus dem Steppendorf Eskowo kam. Wera Iwanowna klagte sich an, den Bauernaufstand in Dawidkowo erregt zu haben und die Schuld an der Ermordung des Gutsherrn zu tragen. Ferner hatte sie bei dem großen nihilistischen Putsch in der Osternacht eine Hauptrolle gespielt; sie hatte bei der Fabrikation des Dynamits geholfen und hätte das Zeichen zum Auffliegen der Mine geben sollen. Das Urteil lautete auf Transportation nach Sibirien und auf lebenslängliche Zwangsarbeit. Dieselbe Strafe erhielt der Nihilist Alexander Dimitritsch zuerteilt.

Wie Marja Carlowna alles versuchte, den Mörder Anna Pawlownas zu retten, so tat Boris Alexeiwitsch vergeblich die verzweifeltsten Schritte, um für Wera Gnade zu erwirken. Erst als er sich von der vollkommenen Hoffnungslosigkeit der Sache überzeugt hatte, verließ er Moskau. Vorher wollte er Wera noch ein letztes Wal sprechen; aber Wera weigerte sich, ihn zu sehen. Boris Alexeiwitsch ging nach Paris, wohin die Fürstin ihm folgte.

Und Ostern war es wieder – –

Noch immer war es tiefer Winter. Die ungeheure, wilde Steppe lag verschneit und vereist mit erstarrten Lebensgeistern. Nach allen Richtungen hin erstreckte es sich unabsehbar, unendlich, als würde von diesem Punkt der Erde aus die ganze Welt mit Schnee und Eis überzogen.

Wera blickte auf die trostlose Landschaft und erinnerte sich, was sie in der Osternacht vor zwei Jahren, als sie mit Sascha auf der Straße nach Eskowo wanderte, wie eine Vision vor sich erblickt hatte – die Wildnisse Sibiriens! Und in der Öde zwei einsame menschliche Gestalten, welche kettenbeladen dahinschwankten. Kettenbeladen schritt sie dahin durch die ungeheure sibirische Steppe, kettenbeladen wanderte neben ihr Sascha – kettenbeladen schwankten vor ihr und hinter ihr andere lebenslänglich Verurteilte, Männer und Frauen, darunter Greise, die dem Grabe zuwankten, Jünglinge, die das Leben eben erst begonnen.

Und Wera erinnerte sich der Stimme, die sie in jener Nacht zu hören geglaubt: »Das leiden wir für die Freiheit des russischen Volkes!« – Und fast hätte Wera laut geantwortet: »Nein, das leiden wir durch unsere Schuld! Und wir leiden es für diejenigen, die uns unsere Schuld gegeben haben.«

Aber Wera war stark. Ob das Eisengewicht an ihren Händen und Füßen sie auch beinahe zu Boden niederriß, stark war sie trotzdem, die Stärkste von allen. Und alle erkannten es, alle erhoben sich an ihrer Kraft, allen war sie Hoffnung, Trost und Zuversicht. In den sibirischen Wüsten würde Wera erfüllen, wonach sie ein so gewaltiges Verlangen getragen, was sie mit aller Macht ersehnt und erstrebt hatte: In der Gefangenschaft und Verbannung würde sie wirken, nützen, helfen und das lebenslänglich. »Ja, Wera Iwanowna – die ist stark!« Es war Sascha, der diese Worte zu einem der Verdammten über seine Freundin sprach. Er sah dabei zu ihr hinüber, und als sie ihm zunickte, lächelte er.

Um die Osterzeit war's, da kam der große Augenblick, von dem Wladimir an die sterbende Natalia geschrieben; er kam und ganz Europa, die ganze zivilisierte Welt schrie auf vor Entsetzen und Empörung: Alexander der Zweite wurde in Petersburg von den Nihilisten ermordet.

Einer der welthistorischen Mörder war Wladimir.

Er wurde mit den anderen zum Tode verurteilt und durch den Strang gerichtet. Sein letzter Gedanke war: »Daß Natalia Arkadiewna dies erlebt hätte, daß dein Sohn dich sterben sehen könnte!«

Tania überlebte das Gräßliche. Ihr Knabe erfüllte herrlich die Meinung, die Colja von ihm gehegt hatte, und half das Wunder ihres Weiterlebens vollbringen. Es heißt, die Witwe Wladimir Wassililschs dächte daran, den Sohn des großen Nihilisten für das Kloster zu erziehen. In diesem Heiligtum soll der wilde Geist Wladimirs in seinem Sohn zu einem besseren Leben auferstehen.

 

Ende.


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