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Wenn Boris Alexeiwitsch sich in der letzten Zeit seiner Lieblingsbeschäftigung, der Selbstanalyse mehr als je hingab, so mußte er sich das Geständnis machen, daß er sich nicht mehr begriff. Ähnlich wie bei Anna Pawlowna, entsprang die heftige Neigung, die ihn für Wera ergriffen, einem letzten Rest von Sehnsucht nach den Idealen der Menschheit. Beide waren sich dessen wohl bewußt, beide reflektierten darüber und freuten sich ihrer Empfindung. Doch bestand zwischen ihnen der große Unterschied, daß sich die Frau aus Widerwillen gegen ihre sittlich verpestete Umgebung dem Volke zuwendete, während Boris Alexeiwitsch vor sich selbst und seinem eigenen angefaulten Leben Ekel empfand. Bei beiden entwickelten sich indessen die Dinge ganz anders, als sie selbst vermutet hatten. Anna Pawlowna wollte sich zu ihrem ehemaligen Leibeigenen wie eine Gottheit hinabneigen und stürzte dabei selbst zu Saschas Füßen; Boris Alexeiwitsch' erschlaffte Sinne wurden durch Weras stolze Schönheit gereizt; er hoffte auf ein Abenteuer von außergewöhnlichen Aufregungen begleitet und verfiel dem Banne einer Leidenschaft, welche die erste wahre und starke Empfindung seines Lebens war.
Gern erinnerte er sich jenes einen Augenblicks der Rührung über sich selbst. Er grübelte darüber nach, und ruhte nicht eher, als bis er entdeckte, daß das Gefühl, welches er an jenem Abend gezeigt hatte, aufrichtig gewesen, daß er in Wahrheit der bessere Mensch sei, als welcher er damals zu Wera geredet. Er sah sie, wie sie in dem Arbeitszimmer der Nihilisten vor ihm gestanden, von dem blassen Schimmer der Frühlingsnacht umflossen, ihr schönes Gesicht zu dem seinen aufgehoben, mit dem Ausdruck, wie er ihn bei einer Frau noch nie gesehen. Wenn er an ihren Blick, an den Glanz ihrer Augen dachte, entwich aus dieser verlotterten Seele jede gemeine Regung. Gleich einem guten Engel folgte ihm ihr begeisterter, feierlicher Blick, ihm die Versicherung gebend: Mein Seelenheil würde ich lassen, das deine zu retten.
Er versuchte anfangs, sich dem Zauber zu entreißen, er verhöhnte sich selbst, er setzte sein altes Leben fort, um eines Tages gänzlich damit zu brechen. Ja, er legte sich das Schwerste auf, indem er es vermied, Wera wiederzusehen. Sie sollte vor ihm verschont bleiben, sie durfte nicht von ihm gestört werden, sie, die Reine, durfte nicht so jammervoll untergehen. Denn das stand bei Boris Alexeiwitsch fest, daß es nur von seinem Willen abhing und sie wäre die Seine und wurde von ihm zugrunde gerichtet. Daß er das nicht wollte, daß er zauberte, es zu wollen, rechnete er sich hoch an.
Doch schon nach wenigen Tagen war er wieder bei ihr. Er nahm sich vor, stark zu sein und der brüderliche Freund des seltsamen Mädchens zu bleiben. Ihr Einfluß sollte ihn wandeln, er wollte ihr folgen, wohin sie ihn führte, an das Herz des Volkes, das ihm zugleich mit dem ihren entgegenschlug.
Es war ein wunderlicher Zustand, darin sich die beiden befanden. Boris, von seinen wechselnden Stimmungen aus einer Empfindung in die andere gejagt; Wera ruhig, klar, sicher, von dem festen Willen getragen, auch diese Aufgabe zu erfüllen und den Vetter Anna Pawlownas für die Sache des Volkes zu begeistern. Einigemal hatte er ihr Blumen mitgebracht; sie sah ihn jedoch so erstaunt an, daß er sich verwirrt abwandte und fortan mit leeren Händen zu ihr kam. Sehr beunruhigte ihn, daß diesem Mädchen gegenüber ihn seine ganze Unterhaltungskunst im Stich ließ. Er saß da und hörte ihr zu, die niemals um Worte verlegen war. Was sie ihm erzählte, wie sie es ihm erzählte, ergriff ihn. Es waren Erlebnisse aus dem Dorfe, die kleinen Freuden des Volkes, seine großen Leiden. Anderes vom Leben wußte sie nicht. Mit demselben heiligen Eifer, mit dem sie in Eskowo versucht hatte, den Kindern von ihren dürftigen Kenntnissen mitzuteilen, bemühte sie sich jetzt, diesen lebenssatten Elegant in der Redeweise des Volkes zu unterrichten, einer Sprache, von der Boris Alexeiwitsch nicht einmal das Abc verstand und nimmer verstehen würde.
Aber er war wenigstens begierig, zu lernen, sich von ihr belehren zu lassen. Sie bemerkte diesen Erfolg und wurde dadurch zu immer größerem Eifer angespornt. Das gab ihrem Wesen einen neuen Reiz, sie wurde liebenswürdig. Ihre Gedanken beschäftigten sich viel mit Boris. Er hatte ihr und dem Volke Böses zugefügt und sie ihn dafür gehaßt, ihn für schlecht und schändlich gehalten, für ihren und des Volkes schlimmsten Feind; da mußte sie plötzlich entdecken, daß er besser sei als sie geglaubt, um vieles besser! Das quälte sie unsäglich. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, übereilt und ungerecht geurteilt zu haben, sie fühlte sich schuldig und legte sich für ihre Schuld strenge Buße auf. Wenn ihr hinfort an Boris Alexeiwitsch etwas mißfiel, wenn sie sich durch eine leichtfertige, ihr unverständliche Äußerung abgestoßen fühlte, so klagte sie sich nun selbst an, dachte an das Unrecht, welches sie ihm in Gedanken zugefügt, entschuldigte ihn und zeigte ihm ein immer milderes Gesicht, ein immer freundlicheres Lächeln.
Trotzdem konnte sie nicht verhindern, sich vor seinem Kommen zu fürchten, unruhig zu werden, wenn sie seinen Schritt hörte, erleichtert aufzuatmen, wenn er ging. In seiner Gegenwart half sie sich dadurch, daß sie mit ganzer Seele tat, was zu tun sie sich vorgenommen. Das nahm ihr ihm gegenüber jede Befangenheit.
Zuweilen erschien bei diesen Besuchen Natalia Arkadiewna, ein Umstand, der Wera jedesmal stumm, Boris Alexeiwitsch dagegen jedesmal aufgeregt gesprächig machte. Die zarte, gebrechliche Gestalt mit dem feinen, durchgeistigten Gesicht flößte beiden Scheu ein. Überdies fühlte sich Boris von Natalia erkannt. Und hatte er sie ihrer abgeschnittenen Haare und ihrer volkstümlichen Wäsche wegen, schon immer unerträglich gefunden, so glaubte er jetzt alle Ursache zu haben, sie für seine Feindin zu halten.
An demselben Tage, an dem die Fürstin Danilowsky ihren Besuch in der Preobraschenskaja-Vorstadt machte, waren die beiden wieder beisammen. Wera fühlte sich beunruhigt. Seit Tagen hatte sie weder von Sascha noch von Anna Pawlowna etwas gesehen oder gehört. Die Dienstboten zeigten ihr verdrießliche Gesichter und behandelten sie schlecht, was ihr wehe tat, da es von ihresgleichen kam.
Wera scheute sich, die auffällige Abwesenheit Anna Pawlownas und Saschas mit Natalia Arkadiewna zu besprechen, und um keinen Preis hätte sie mit Boris Alexeiwitsch darüber reden können. Sie erschrak fast, als er selbst davon anfing.
»Anna Pawlowna befindet sich noch immer auf dem Lande?«
Sein Ton berührte sie peinlich. Sie bejahte gelassen und fügte hinzu: »Wir haben so schöne Tage und Anna Pawlowna fühlte sich leidend.«
Boris Alexeiwitsch sah sie groß an. Sollte sie wirklich nichts wissen, oder verstellte sie sich? Sie wich seinem Blick aus. Aber es ist unmöglich, dachte er, sie hat in ihrem Leben noch niemals geheuchelt. Dazu ist sie viel zu stolz! Vielleicht ist es gut, wenn sie es erfährt. So fügte er denn in seiner leichtfertigsten Weise: »Wenigstens hat sich Anna Pawlowna nicht über Langeweile zu beklagen.«
Aber Wera verstand ihn nicht; Boris Alexeiwitsch wurde ungeduldig.
»Nun denn, da Sie es doch einmal erfahren müssen: Sascha ist bei ihr, Ihr guter Freund Sascha! Ganz Moskau redet davon.«
Sie fühlte ihr Herz sich krampfhaft zusammenziehen, sie fühlte einen Schmerz, daß sie hätte laut aufschreien mögen. Ihre erste Empfindung sagte ihr, daß es wahr sei. Dann aber überfiel sie eine Scham vor sich selbst, daß sie das denken konnte; gleich darauf eine namenlose Angst, daß sie es würde glauben müssen. »Sie sind alle gleich,« hatte Wladimir Wassilitsch damals ihr gesagt. Aber Sascha, ihr Sascha und diese vornehme Dame – –
»Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, mir mitzuteilen, daß Sascha und Anna Pawlowna zusammen auf dem Lande sind. Warum sollten sie nicht? Es kann nichts Böses dabei sein. Ich verstehe nicht, weshalb Sie es mir sagen, weshalb Sie es mir in solcher Weise sagen. Das ist nicht recht von Ihnen.«
Mein Gott, welche Unschuld, welche Kindlichkeit! dachte Boris und fühlte eine Art von Bedauern mit ihr, als sollte er mit seinen Worten ihren Glauben an Gott und die Menschen zerstören. Trotzdem sagte er geradeheraus: »Sascha ist Anna Pawlownas Liebhaber.«
Sie erwiderte nichts, sie überwand ihren Schmerz und blieb ruhig. Dieser fremde Mann sollte sie nicht um ihren Freund, ihren Bruder weinen sehen. Er blickte sie so sonderbar an.
»Wenn ich Sascha sehe, werde ich ihn fragen,« meinte sie einfach; »und wenn es wahr ist – –
Er unterbrach sie.
»Was werden Sie dann tun?«
»Dann werde ich sehr einsam auf der Welt sein,« sagte Wera leise, wie zu sich selbst.
»Ich bin Ihr Freund.«
»Sie?«
»Zweifeln Sie?« fragte er leidenschaftlich.
»Warum sollten Sie nicht mein Freund sein?«
»Sie haben diesen Sascha geliebt?«
»Wir wuchsen zusammen auf und haben viel miteinander gelitten, viel zusammen gehofft. An so vieles geglaubt! Er war rein und gut und nun – Er hat mir einen großen Schmerz zugefügt.«
»Sie kennen die Welt nicht, sonst würden Sie anders reden.«
»Ich habe mit dem Volke gelebt und nichts von allen diesen Dingen gewußt. Warum ist es denn nötig, die Welt kennen zu lernen? Es macht nicht glücklich. Schlimmer als das, es macht schlecht!«
Ihre Stimme klang gepreßt, sie blickte nicht auf.
»Sie denken zu hoch von den Menschen.«
»Ich verstehe nicht, wie man niedrig von ihnen denken kann,« entgegnete Wera in tiefster Traurigkeit und heftig atmend. »Ich wenigstens möchte nicht länger leben, wenn ich so denken müßte.«
»Sind Sie Nihilistin geworden, weil Sie groß von den Menschen denken?« fragte Boris mit ehrlichem Erstaunen.
»Geben auch Sie mir diesen Namen?« klagte Wera. »Dieser Name ist unser Unglück. Wenn wir uns Volksfreunde nennen würden, so müßte das in Rußland ein Ehrenname sein.«
»Sie weichen mir aus. Unmöglich können Sie bei den Feinden des Volkes Edelmut und Tugend voraussetzen. Ihre Menschenliebe und Ihr Glaube an die Menschen erstrecken sich also wohl nur auf die Unterdrückten und Unglücklichen?«
»Nein, nein!« rief Wera in heftiger Bewegung. »Ich kann Wladimir Wassilitsch nicht glauben. Ihr seid nicht alle gleich! Wenn die Feinde des Volkes erkennen würden, wie elend und hilflos wir sind, so brauchte es keine Nihilisten und Terroristen zu geben. Und es sind doch so manche darunter, die es gut mit uns meinen. Denken Sie doch, da ist Natalia Arkadiewna! Da ist Anna Pawlowna! Und da –« sie zauderte etwas, »da sind Sie. Noch viele solcher, und das Volk wird nicht nur frei, sondern auch glücklich sein.«
»Ich muß wiederum eine Ihrer Illusionen zerstören,« erwiderte Boris Alexeiwitsch und beschäftigte sich mit seinen Nägeln. »Natalia Arkadiewna ist in Wladimir Wassilitsch verliebt, Anna Pawlowna in Sascha und ich – – Mein Gott, ich will mich auch nicht besser machen als ich bin; ehe ich Sie kennen lernte, war mir die ›Sache‹ sehr gleichgültig. Da sehen Sie selbst, wie wir sind!«
Wera stand und bemühte sich, zu begreifen, was sie gehört hatte. Natalia Arkadiewna verliebt in Wladimir, Anna Pawlowna verliebt in Sascha, und Boris Alexeiwitsch – – Was war mit Boris Alexeiwitsch? Warum sah er sie so an? Was meinte er mit ihr? Was hatte sie mit ihm zu tun?
Während sie mit ihren qualvollen Empfindungen rang, stieg plötzlich das Bild Grischas vor ihr auf. Eine heftige Sehnsucht überkam sie, wieder den Duft der Narzissen und des Flieders zu atmen, wieder in das ehrwürdige Gesicht des Mütterchens zu sehen, wieder mit dem »Prachtmenschen« über die Felder zu gehen und die Lerchen singen zu hören.
Sie stand so versunken, daß sie aufschreckte, als Boris Alexeiwitsch sie anredete: »Ich habe Ihnen heute das Buch mitgebracht.«
»Welches Buch?«
»Puschkins Onegin. Sie baten mich darum.«
Wera errötete.
»Ich hätte Sie gebeten? Sie sagten, daß Sie mir das Buch bringen wollten. Es ist lange her. Ich dachte, Sie hätten es vergessen; aber es ist sehr gütig von Ihnen.«
»Durchaus nicht. Sie kennen noch gar nichts, ja noch gar nichts von der russischen Literatur. Da muß ich, als Ihr Freund, Ihnen doch behilflich sein und Ihnen das Beste, was wir besitzen, zuführen. Neulich sagten Sie, daß Sie noch nie ein Gedicht von Puschkin gelesen hätten. Es ist unglaublich!«
»Darf ich Ihnen vorlesen?«
»O nein. Es würde Ihnen Mühe machen. Danke, danke.«
Er winkte ihr, allen Dank ablehnend, mit seiner weißen Hand, schlug das Buch auf und begann mit leiser, weicher Stimme zu lesen. Wera saß ihm gegenüber. Zuerst war sie so unruhig und aufgeregt, daß sie nichts verstand. Es dauerte aber nicht lange, so hingen ihre Augen an den Lippen des Vorlesers. Ihr ward wunderlich zumute, als träte sie aus einem dunklen Raum ins Licht, als würde sie aus einer Tiefe aufgehoben, hoch und höher. Unter ihr lag die Erde, um sie war alles Glanz.
Als Boris gelegentlich vom Buche aufsah und einen forschenden Blick auf Wera warf, sprang er in die Höhe.
»Was haben Sie? Sie weinen!«
Ohne ihre Tränen zu trocknen, bat sie ihn mit einer flehenden Gebärde, weiterzulesen.