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Vierzehntes Kapitel

Das Leben in Kunzewo gestaltete sich immer geräuschvoller. Es kamen Regentage, die im Hause zugebracht, für die Zerstreuungen gefunden werden mußten. Anna Pawlownas Benehmen bekam etwas unnatürlich Aufgeregtes. Sie trank viel Champagner, sprach laut und lebhaft und beteiligte sich am Spieltisch, den die Herren eingerichtet hatten; mit einem Wort, sie versuchte, sich zu betäuben. Zwischen ihr und Sascha fielen von neuem peinliche Auftritte vor, die jetzt auch von ihrer Seite einen leidenschaftlichen Charakter annahmen. Sehr bald war der alte Zustand wieder da. Doch schien derselbe diesmal ziemlich hoffnungslos zu sein, denn Sascha fühlte sich tödlich beleidigt. Er verließ jedoch das Landhaus nicht, behielt seinen letzten Platz am Ende der Tafel bei, ließ sich nach wie vor übersehen, war aber in seinem Innern vollständig verwandelt. Wie ganz anders erschien er sich jetzt unter ihren Gästen. In den Blicken aller meinte er zu lesen, daß sie ihn verachteten. Dennoch blieb er. Erst mußte sie es ihm gesagt haben, mit klaren, deutlichen Worten. Aber auch dann würde er nicht gehen, denn jetzt war es zu spät. Er würde nicht mehr von ihr weichen; in diesem Leben nicht mehr. Er würde ihr Schatten sein, ihr Ankläger, ihr Richter. Mehr und mehr bemächtigte sich seiner ein dumpfer Zorn. Zum erstenmal begann er über die Lehrsätze Wladimirs nachzudenken und fand sie unumstößlich. Äußerlich blieb er ruhig, so daß er selbst Anna Pawlowna täuschte, die in der Folge ein Gefühl von Geringschätzung nicht unterdrücken konnte; sie hatte etwas anderes erwartet. Boris hatte recht; sie knurrten gegen die erhobene Peitsche und krochen doch vor ihr. Die Idealgestalt des Volkes, die sie sich zusammen geträumt, erblich mehr und mehr. Es war ein furchtbarer Irrtum gewesen, dem sie verfallen. Sie hatte ihrem öden Dasein einen Inhalt geben wollen und sich das Ideal des freien russischen Volkes geschaffen, des Volkes, das sich ihr in Sascha, in dem Bauernsohn, in dem Manne mit den roten Händen, verkörperte. Aber es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich zum Volke hinabneigte, desto mehr fühlte sie sich von demselben geschieden. Mit Entsetzen entdeckte sie, daß es unmöglich war, daß sie bleiben mußte, was sie war: in jeder Empfindung die Aristokratin, die in keiner Empfindung das Volk verstand, nicht verstehen konnte! Was vermochte sie dagegen? Zu ihrem Unglück war ihr Verstand viel zu scharf, um sich nach diesem einen mißlungenen Versuche weiteren Täuschungen zu überlassen. So gab sie denn ihren veränderten Gesinnungen nach, vollkommen darauf gefaßt, unter den Trümmern ihres eingesunkenen Luftschlosses begraben zu werden.

Aber eins mußte sie tun. Und während sie zum erstenmal in ihrem Leben sich mit einer Art von Genugtuung den geselligen Zerstreuungen ihres Standes hingab, schrieb sie ihrem Gatten, der sich mit dem Hof in Zarskoje-Sselo aufhielt, daß sie die Scheidung verlange.

Auch die Fürstin kam, in Begleitung von Wladimir. Ihrer Gewohnheit gemäß machte sie aus ihrer Leidenschaft für den schönen Terroristen keinen Hehl, Sie gebürdete sich empfindsam, phantastisch und jugendlich, kleidete sich altrussisch, ließ ihr Haar in Zöpfen herabhängen, sang Volkslieder und wand aus Feldblumen Kränze. Wladimir hatte für alles nur sein zynisches Lächeln und benahm sich in der vornehmen Gesellschaft so ungezwungen, als verkehre er mit seinesgleichen. Sofort nach seiner Ankunft hatte er eine lange Unterredung mit Wera, die ihm alle ihre Wahrnehmungen mitteilen mußte. Doch fragte er nur nach Anna Pawlowna; nach dem, was Wera ihm von dieser berichtete, war er über ihren Zustand bald im klaren.

Ein Festprogramm ward aufgestellt, dessen Hauptnummern in einem ländlichen Ball, einer Vorstellung mit lebenden Bildern bestanden. Alle amüsierten sich vortrefflich, die Stimmung stieg von Tag zu Tag; nur Sascha und Wera waren einsam. Jedes für sich, wie ausgeschlossen von den allgemeinen Freuden.

Eines Abends befand sich Wera in ihrem Zimmer, das unter dem Dache lag. In Anna Pawlownas Bibliothek hatte sie den »Onegin« gefunden, das Buch heimlich eingesteckt und war damit geflohen, als hätte sie einen Diebstahl begangen. Sie las das herrliche Gedicht. Dabei stellte sie sich den Klang von Boris' Stimme vor, die Verse mit seiner Betonung, die sie noch im Ohre hatte, laut vor sich hinsprechend, von ihrer eigenen Stimme durchschauert. Sie erinnerte sich, was er bei dieser und jener Stelle zu ihr gesagt, wie er sie dabei angesehen hatte. Jedes Wort, jeder Blick war ihr im Gedächtnis haften geblieben. Immer von neuem verglich sie diese Blicke mit denen, welche er für jene anderen hatte, und sie mußte sich schließlich gestehen, daß er sich gegen sie doch anders benommen hatte, viel rücksichtsvoller, zarter, ehrerbietiger! Er hatte ja auch mit ihr sterben wollen, und nun – – nun lebte sie dahin, von einem Tage zum anderen, immer tiefer in Nacht versinkend.

Puschkins Onegin von neuem lesend, erstand alles wieder in ihr, was sie an Sehnsucht jemals empfunden. Aber wie anders war diese Sehnsucht geworden. Wo war der heiße Drang geblieben, der dem Glück des Volkes galt, für das sie sich wollte ins Gefängnis werfen, nach Sibirien verbannen, auf das Schafott führen lassen? Schlecht hatte sie sich selbst Wort gehalten, eidbrüchig war sie der Sache geworden. Auch ihre starke Natur war dem allgemein Menschlichen erlegen. Ein Martyrium hatte sie auf sich nehmen wollen und zu einem Liebeskummer war es gekommen.

Sie las mit glühenden Wangen. Tatjana hieß eigentlich Wera und Onegin eigentlich Boris. Und Tatjana liebte Onegin; aber dieser – –

Onegin hatte auch die arme Tatjana geliebt.

Jawohl; die arme Tatjana!

Sie erhob sich. Mit auf die Brust herabgesunkenem Haupt wanderte sie in der Kammer auf und ab. Einmal fuhr sie zusammen, blieb stehen und lauschte auf die fröhlichen Stimmen, die von unten herauf klangen. Es mochte bald Mitternacht sein.

Dann fiel ihr etwas ein. Sie nahm das Licht und kramte aus ihren Sachen ein kleines, buntes Muttergottesbild hervor, das in ihrer heimatlichen Hütte zu Eskowo gehangen, das sie mit sich genommen und daran sie erst heute wieder dachte.

Sie stellte das Bild auf den Tisch, holte ein Glas mit Blumen, setzte dieses daneben, stand und blickte das Bild an.

Aber sie konnte nicht beten. So begann sie denn nach einer Weile von neuem im Onegin zu lesen; der Charakteristik dieses russischen Don Juan.

Die Leidenschaft verließ ihn plötzlich;
Statt ihrer liebelte er nun.
Ein Korb war ihm oft ganz ergötzlich,
Verrat ein Grund, um auszuruhn,
Er sucht die Frauen ohne Schwärmen,
Verläßt sie, ohne sich zu härmen,
Gleichgültig, ob geliebt, gehaßt – –

Ist das möglich? Sie starrte auf das Buch, ohne die Buchstaben zu sehen.

Es kann nicht möglich sein! dachte sie. Einen solchen Mann gibt es nicht. Und das Mädchen liebt ihn. Das ist alles so schön und so wahr. Gott, Gott, so wahr und schön. Wie ein Mensch so etwas denken kann. Aber wie? Wenn das eine wahr ist, kann auch das andere nicht gelogen sein. Doch wenn Onegin wirklich so wäre, wie Puschkin ihn beschreibt, könnte Tatjana ihn unmöglich lieben. So etwas fühlt man. Der Mensch kann nicht lieben, was nicht von seinem eigenen Selbst ist. Das ist wider die Natur.

Sie legte ihre kalte Hand an die Stirn.

»Das ist wider die Natur!« wiederholte sie laut. Dann verlor sie sich von neuem in Grübeleien. Warum hat er wohl damals mit mir sterben wollen, wo er doch schon jetzt nichts mehr von mir weiß? Wenn ich nur das herausfinden könnte. Freilich! Was hätte daraus werden sollen? Sein Weib könnte ich ja doch wohl nicht werden; er hat also ganz recht. Dabei blieben ihre Gedanken stehen. Sein Weib könnte ich ja doch wohl nicht werden. Weiter gelangte sie nicht. Damit suchte sie sich alles begreiflich zu machen, ihn ganz zu entschuldigen. Was hätte daraus werden sollen, da ich ja doch nicht sein Weib werden kann.

Sie hörte Schritte, die sich der Kammertür näherten und begann heftig zu zittern. Es klopfte. Sie wandte ihr Gesicht der Tür zu und rief mit Anstrengung: »Herein!«

Es war Wladimir. Er mußte getrunken haben, sein Gesicht war gerötet, die Augen hatten einen fahlen Glanz.

Er sah Weras Unwillen, brach in ein Gelächter aus und rief mit schwerer Zunge: »Was tust du hier oben so allein? Geh hinunter.«

»Was soll ich unten.«

»Dich ansehen lassen. Ich habe dir schon einmal gesagt – –«

»Und ich erwidere dir noch einmal, daß ich dich nicht hören will.«

»Hoho! Sprichst du so mit mir?«

»Ich will dich nicht hören.«

Er trat ihr näher.

»Du sollst ihn ja nicht lieben, du sollst ihn sogar hassen dürfen, wie Sascha Anna Pawlowna haßt. Erst wenn ihr sie haßt, werdet ihr der Sache dienen können.«

»War das deine Absicht?«

»Von jeher. Begreifst du endlich?«

»Ich begreife, daß du ein fürchterlicher Mensch bist.«

Wladimir zuckte die Achseln: »Das will in unserer Zeit nicht viel sagen. Übrigens habe ich mit dir zu reden.«

Er sah sich im Zimmer um; sein Blick fiel auf das Muttergottesbild und die Blumen. Über das aufgeschlagene Buch hatte Wera, als sie klopfen hörte, ein Tuch geworfen.

»Ich bin sehr unzufrieden mit dir,« begann Wladimir, »du dienst der Sache sehr schlecht, vielmehr: du dienst ihr gar nicht. Das muß anders werden! Was bedeutet es zum Beispiel, daß du, die Nihilistin, ein Heiligenbild hast?«

Er wollte es vom Tische herunterreißen, aber Wera streckte schützend die Hände davor.

»Wage nicht es anzurühren! Dieses Bild ist mein und mein ist meine Seele, an der du auch Gewalt üben willst. Ich sage dir: Auch an meine Seele lasse ich nicht rühren! überhaupt – wenn ich nur erst begreifen könnte, was ihr bezweckt. Alles ist für die Sache, immer ist es die Sache! Und die Sache soll ja wohl das Volk sein! es ist die Sache des Volkes, welche wir führen. Sobald aber alles nur des Volkes wegen geschieht, aus Liebe zum Volk, aus blutigem Mitleid mit dem Volk – welch ein Wahnsinn ergreift euch, daß ihr im heiligen Namen des Volkes Verbrechen über Verbrechen begeht. Zeigt mir die Steine und den Mörtel, womit ihr das neue Haus aufrichten wollt, nachdem ihr das alte eingerissen. Ich sehe nur Einsturz und Zerstörung, Zerstörung überall!«

Und sie schlug jammernd die Hände zusammen, ließ sie aber wie gelähmt sinken, als Wladimir ihr höhnend zurief: »Du sagtest, du ließest nicht an deine Seele rühren. Deine Seele ist ja in Boris Alexeiwitsch Händen wie in des Satans Klauen, mit deiner Seele lässest du ja spielen wie mit einem Ball. Die lässest du dir ja zermalmen und zerquetschen. Du nicht an dich rühren lassen? Du bist ja seine Leibeigene geworden an jedem Gliede. Und das ist gut, das gefällt mir! Das ist das einzige, was mir noch an dir gefällt; nur möchte ich, daß dabei ein Gewinn für die Sache herauskäme. Aber du, von der ich so viel für uns gehofft, was tust du? Nichts! Was tut Sascha? Nichts! Was werdet ihr tun? Nichts! Sascha hätte aus Anna Pawlowna machen können, was er gewollt; ein blindes Werkzeug für unsere Sache. Jetzt ist es zu spät, jetzt kann er nichts mehr, denn jetzt verabscheut sie ihn. Du könntest Boris Alexeiwitsch zum Sklaven unserer Sache machen – – Was hast du?«

Wera stand wie betäubt. Sie murmelte: »Keinen Gott, keine Liebe, keine Tugend; nichts, nichts, nichts! Der Mensch kein Mensch mehr. Und dafür wollte ich meinen Hals auf das Schafott legen. Dafür?«

»Bist du toll geworben?« schrie Wladimir sie an und schüttelte sie.

Sie aber, ohne noch ein Wort zu reden, machte ihm ein Zeichen, sie allein zu lassen. Und er ließ sie allein.

Wera schob hinter ihm den Riegel vor, stand und lauschte, bis sie seinen Schritt nicht mehr vernahm. Dann fiel sie mit einem Schrei nieder und lag am Boden wie ohne Bewußtsein. Endlich erhob sie sich; sie hatte einen Entschluß gefaßt. Sie wollte fort, gleich jetzt, wie sie ging und stand, ohne sich zu besinnen, ohne zu denken. Das Denken konnte sie um den Verstand bringen.

Aber sie stand mitten im Zimmer und regte sich nicht.

Sie wollte nie mehr wiederkommen – natürlich nicht! Sie wollte wieder nach Eskowo zurück, dort die Kinder kämmen und sie in dem unterrichten, wovon sie selbst nichts wußte.

Es fiel ihr auch ein, wie jung sie immer noch war, wie lange es noch dauern konnte, dieses lebendige Todsein, von dem sie ihre Seele von neuem ergriffen fühlte.

Aber fort! Schnell fort!

Langsam bewegte sie sich der Tür zu. Sie hörte nicht den leisen Schritt im Gange, sie hörte nicht, wie jemand vor der Kammer stehenblieb.

»Boris!«

Sie hatte geöffnet und sah ihn vor sich. Er wollte reden; aber mit einer Gebärde unbeschreiblichen Entsetzens streckte sie ihm abwehrend beide Hände entgegen und wich vor ihm in die Kammer zurück, bis in die hinterste Ecke, wo sie hinsank, immerfort die Arme gegen ihn erhoben.

»Wera!«

Mit welchem Ton er das sagte, mit welchem Blick.

»Vergib mir.«

Und er ging auf sie zu.

Sie wollte auffahren, sie wollte rufen: »Rühre mich nicht an!« Aber sie konnte weder reden noch sich bewegen; auch dann nicht, als er ihre Arme sanft niederdrückte und die hilflose Gestalt zu sich aufzog, an seine Brust.

Er küßte sie auf den Mund.

Sie litt es. Ihre Lippen waren kalt und sie schauderte zusammen.


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