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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Es fehlte den Nihilisten an Geld. Die Agitation verschlang Summen, von denen ein Teil des russischen Volkes hätte gekleidet und genährt werden können. Wladimir erhielt den Auftrag, bis zu einem gewissen Zeitpunkt ein gewisses Kapital zu beschaffen; aber seine Hilfsquellen waren erschöpft. Außerdem war der Termin ziemlich nahe und das benötigte Kapital recht bedeutend. Er wußte keinen Rat. Denn auch die Fürstin begann schwierig zu werden, wenn Wladimir mit einer neuen Forderung kam, so daß es diesem in der letzten Zeit jedesmal gewesen war, als ob Scham und Ekel ihn ersticken müßten. Er war wütend auf Sascha, welcher aus Anna Pawlowna eine Goldgrube für die Sache hätte machen können; und wütend war er auf Wera, die nicht einmal den Versuch gemacht hatte, Boris Alexeiwitsch im Interesse der Sache auszubeuten, wo dieser Wüstling bereit gewesen wäre, in den Schoß des schönen Mädchens ein Vermögen zu werfen. Da war er ein anderer. Er hatte sich für die Sache verkauft und sich königlich bezahlen lassen. Und eine andere würde Natalia Arkadiewna sein, wäre sie gesund und schön gewesen: Glied für Glied würde sie zum Besten der Sache geopfert haben. Das war ein Weib! Hätte Wladimir nicht die holde Tania geliebt, so würde er die sterbende Natalia geliebt haben.

Aber er mußte das Geld auftreiben! Nicht nur, daß es seine Pflicht war, seinen Auftrag auszuführen, er brannte auch aus anderen Gründen auf die Erfüllung desselben. Von der Beschaffung der Summe, die, wie gesagt, ziemlich hoch war, hing im Süden Rußlands ein großer Putsch seiner Partei ab; er hatte das Geld auf alle Fälle herbeizubringen. Ein solches hochherrliches Vorhaben durfte nicht aus Mangel an diesem elenden Mammon scheitern. Wladimir zerbrach sich Tag und Nacht den Kopf, ohne etwas auszugrübeln. Und die Zeit drängte.

In übelster Stimmung befand er sich eines Nachmittags bei Natalia, der gegenüber er sich, wie gewöhnlich, vollständig gehen ließ, die ihn aber diesmal auch nicht zu beruhigen vermochte. Wäre ihre Mutter reich gewesen, so würde Natalia von ihr, nötigenfalls durch die Drohung, sich selbst der Polizei angeben zu wollen, Geld erpreßt haben; doch der Geheime Staatsrat war, ein in Rußland seltener Fall, gestorben, ohne Schätze zurückgelassen zu haben.

Während die beiden noch zusammen berieten und nichts fanden, vernahmen sie plötzlich, aus den unteren Räumen des Hauses herauftönend, leisen Gesang, unsäglich wehmütig, voll bestrickenden Wohllauts. Es war Tania, die ihren Knaben in Schlummer sang. Die beiden wurden still und lauschten auf die liebliche Stimme; aber als Natalia zufällig einen Blick auf Wladimir warf, erschrak sie.

»Was haben Sie? Sprechen Sie, Wladimir Wassilitsch! Ist Ihnen unwohl geworden! Wie sehen Sie aus!«

Wladimir stand vor ihr, bleichen Gesichts, nach Fassung ringend.

»Hören Sie doch!« stieß er hervor.

»Tania singt.«

»Ja, Tania.«

»Wie kann Sie das erschrecken?«

»Sie hat eine solch süße Stimme!«

»Ihre Tania ist eine russische Nachtigall.«

Wladimir erwiderte nichts. Wiederum schwiegen sie und lauschten. Tania sang:

»Eine rote Rose ging auf im tiefen Schnee.
Warum tut mir mein Herze so bitterlich weh?
Gott hilf, Gott hilf! Die Blume, die dort so blutig glüht,
Sie ist aus meinen Tränen – ach, Tränen aufgeblüht.«

Erst als Tania zu singen aufgehört hatte, entriß sich Wladimir der Entgeisterung, die über ihn gekommen war. Ohne ein Wort zu sagen, ging er, seine Freundin in Sorge und Zweifel zurücklassend.

Wladimir stieg langsam die Treppe hinab. Unten angekommen blieb er stehen, unentschlossen, ob er bei Tania eintreten oder gleich weitergehen sollte. Da hörte er sie mit dem Kinde, welches noch nicht eingeschlafen war, leise plaudern und kosen und – schlich an der Tür vorüber. Wenn er sie sah, mit dem Knaben, würde es ihn in seinem Entschlüsse wankend machen, es würde seine Willenskraft lähmen, würde ihn völlig entmannen. Und er wollte seinen Vorsatz durchführen, um der Sache willen.

Tania sollte endlich der Sache nützen, seine Geliebte, die Mutter seines Sohnes, sollte bei den großen Dingen, die vor sich gingen, nicht gänzlich untätig bleiben, die einzige, welche ihre Hände in den Schoß legte und nichts, gar nichts tat, als daß sie ihn und seinen Knaben abgöttisch liebte.

Es lag etwas Unwürdiges in solcher Existenz, etwas geradezu Erniedrigendes. Das Weib nur Weib, des Mannes Geliebte, die Amme seines Kindes. Aber es war seine eigene Schuld! Warum hatte er sie so lange müßig bleiben lassen, warum hatte er ihr nicht früher ihren Teil an seiner großen Arbeit gegeben, wie es ihr zukam, wie sie es von ihm für sich verlangen durfte, warum hatte er sie nicht erzogen, ein Kind der Sache zu sein, eine Zeitgemäße und Auferstandene?!

Ihre Seele befand sich noch immer in totenähnlichem Schlummer, er hatte ihre Seele noch immer nicht geweckt; immer blieb es bei schwachen Versuchen, immer zeigte er sich feig.

Es war höchste Zeit, sich aufzuraffen und die Schwäche von sich zu werfen; gleich diesen Abend wollte er den Anfang machen; gleich morgen sollte Tania beginnen, der Sache zu dienen. Dann würde er freier aufatmen können.

Wladimir begab sich in die Stadt, geradeswegs zu einem gewissen Dimitri Sassinow.

Dieser Herr Sassinow war eine der bekanntesten Persönlichkeiten Moskaus, Besitzer eines großen Vergnügungslokals, einer sogenannten »Spezialitätenbühne«. Herren und Damen aller Nationalitäten produzierten in dem Saale des Herrn Sassinow jeden Abend sowohl ihre Kunststücke, wie ihre Person. Es gab auf der ganzen Welt keine Abnormität, keine Geschicklichkeit, keine »Kunst«, welche Herr Sassinow dem verehrungswürdigen Publikum nicht präsentiert hatte; jede Ausgeburt des menschlichen Geistes, welche sich in der menschlichen Figur verkörpern ließ, führte in dem Etablissement des Herrn Sassinow Abend für Abend unter dem Beifallsjubel einer zahlreich versammelten Zuschauerschaft ihre Sprünge auf. Diese Zuhörer bestanden aus einer etwas gemischten Gesellschaft: Handwerker mit ihren Weibern oder Geliebten, Dirnen mit ihren Zuhältern oder zeitweiligen Besitzern, der Moskauer jeunesse dorée. Denn Herr Sassinow selbst war eine Spezialität in der Auswahl der Genüsse, die er einem verehrungswürdigen Publikum Abend für Abend vorsetzte. Besonders was den zarten Teil des reichhaltigen Menüs anbetraf, ließ Herr Sassinow es sich angelegen sein, den Besuchern seines Etablissements stets das Allerfrischeste und Allerpikanteste Zu offerieren (darunter häufig »Kaviar fürs Volk«). So bildete Herrn Sassinows ausgezeichnetes Warenmagazin eine Bezugsquelle für die leiblichen Bedürfnisse der halben eleganten Moskauer Welt. Diesen Wohltäter der Menschheit suchte Wladimir auf und lernte an Herrn Dimitri Sassinow einen ältlichen, feisten Altrussen kennen, der nach Fett und Branntwein stank, in einem von Schmutz starrenden Kaftan steckte, einen langen, gelben Bart und lange schwarze Fingernägel hatte. Diese angenehme und würdevolle Persönlichkeit empfing Wladimir in seinem »Bureau«, einem dunkeln höhlenartigen Raum, der auf einen brunnenähnlichen Hof hinausging und von den Gerüchen seines Bewohners infiziert war.

»He, wer sind Sie und was wollen Sie?« schrie der Würdige mit grober, schnarrender Stimme Wladimir an. Dann betrachtete er sich denselben näher und änderte seinen Ton. »Welche Spezialität haben Sie? Was fordern Sie für den Abend? Ich will Sie engagieren. Verstehen Sie sich auf das Trapez? Ein Mensch von Ihrer Figur sollte sich auf das Trapez verstehen. Ich hoffe, daß Sie kein Taschenspieler sind; als Taschenspieler könnte ich Sie nicht brauchen; nur in Trikot!«

Wladimir wurde zornig.

»Seien Sie doch nicht unverschämt, hören Sie! Für wen halten Sie mich? Ich bin kein Possenreißer.«

»Was sind Sie denn? Wenn Sie nicht das Trapez können und nicht in Trikot gehen wollen, so scheren Sie sich hinaus. Verstehen Sie!«

Wladimir mäßigte sich um der Sache willen.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust hätten, eine Sängerin zu engagieren?«

»He?«

»Eine Bäuerin aus einem Steppendorf, die eine reizende Stimme hat.«

»Was tu' ich mit der reizenden Stimme? Ist die Person jung?«

»Achtzehn Jahre.«

»Hübsch?«

»Eine Schönheit.«

»Blond wahrscheinlich?«

»Allerdings.«

»Gut gewachsen?«

»Was geht das Sie an?«

»Was mich das angeht? Sind Sie verrückt? Wenn die junge Person nicht gut gewachsen ist, so kann ich sie nicht brauchen!«

»Nun, sie ist gut gewachsen.«

»Ist es Ihre Schwester?«

»Nein.«

»Ihre Geliebte?«

»Ja.«

Es waren geradezu Qualen, die Wladimir während dieses Verhörs litt; aber er hielt sie aus. Herr Sassinow fuhr fort: »Warum haben Sie die Person nicht gleich mitgebracht?«

»Ich wollte Sie erst fragen, ob Sie dieselbe brauchen könnten.«

»Welche Frage – wenn sie jung und hübsch ist.«

»Was werden Sie zahlen?«

»Ich muß sie erst gesehen haben.«

»Sie können mit mir kommen und sie sich betrachten.«

»Ich mit Ihnen kommen – – Ich glaube wirklich, der Mensch ist toll.«

»Die junge Person hat ein kleines Kind und ist sehr schüchtern, sehr zart, sehr – –«

Wladimir suchte nach dem rechten Worte und stockte. Herr Sassinow fing an zu begreifen.

»Ich verstehe: Sie wollen die junge Person verkaufen, Sie wollen ein Geschäft mit der jungen Person machen. Nun, das kommt vor, das ist mir schon vorgekommen. Wahrscheinlich ist die junge Person Ihnen ungemein zugetan. Übrigens, wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin Student.«

»Nun ja, ich sehe, wie die Sachen stehen. Die junge Person weiß natürlich von nichts.«

»Von nichts.«

»Wie viel wollen Sie denn für sie haben?«

Wladimir nannte eine Summe, der Würdige schrie: »Sie sind toll! Scheren Sie sich hinaus! Ich sage, daß Sie toll sind! Wollen Sie wohl gleich gehen? He, wollen Sie wohl!«

Wladimir blieb ruhig stehen: »Sie bekommen sie nicht um eine Kopeke billiger.«

»Lassen Sie mich zufrieden!«

»Sie wollen also nicht?«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

»Ich gehe, Sie brauchen sich gar nicht zu ereifern. Herr Peter Petrowitsch wird das Geschäft mit mir machen.«

Herr Peter Petrowitsch war der Konkurrent des Herrn Dimitri Sassinow.

Wladimir setzte seine Mütze auf und schritt ohne ein weiteres Wort zur Tür; doch ehe er dieselbe erreichte, schrie Herr Sassinow, ganz braun im Gesicht: »So warten Sie doch; ich gehe ja mit Ihnen. Ist es weit? Wir können eine Droschke nehmen. Wollen Sie nicht vorher ein Gläschen trinken? Sind Sie aber hitzig!«

Wladimir wollte kein Gläschen trinken, so daß Herr Sassinow es für nötig fand, für ihn und für sich zwei Gläser zu sich zu nehmen. Darauf gingen sie, mieteten eine Droschke und fuhren in die Vorstadt. Unterwegs gab Wladimir Herrn Sassinow einige Verhaltungsregeln, so daß dieser immer begieriger wurde, die junge Person kennen zu lernen. Als der Wagen vor dem Garten hielt, stand Tania, das Kind im Arm, am Fenster und als Wladimir über den Hof ging, hielt sie den Knaben empor, den Kleinen seinem heimkehrenden Vater weisend. Dann bemerkte sie den Fremden, erglühte über das ganze Gesicht und verschwand.

»War sie das?«

»Das war sie.«

»Und wie viel verlangen Sie dafür, daß sie bei mir singt?«

»Genau so viel, wie ich Ihnen gesagt habe.«

»Aber ich sagte Ihnen, daß Sie toll sind! Bedenken Sie, was die junge Person sich nebenher verdienen kann. Das ist ja die Hauptsache! Andere pflegen mir dafür zu zahlen, daß ich sie bei mir auftreten lasse. Was haben Sie?!«

»Wenn Sie nicht gleich schweigen – –« Herr Sassinow schwieg. Herr Sassinow war über den Ausdruck in Wladimirs Gesicht, über Wladimirs Blick, über Wladimirs Stimme so entsetzt, daß er sofort schwieg. Nach einer Weile flüsterte er: »Also die Sache ist abgemacht.«

»Das heißt?«

»Das heißt, daß ich Ihnen für die junge Person zahle, was Sie verlangen.«

»Soll sie Ihnen nicht vorher etwas singen?« »Ist nicht nötig! Wann kann sie zum erstenmal bei mir auftreten?«

»Morgen.«

»Morgen erhalten Sie das Geld.«

»Sie wissen, gleich die ganze Summe.«

»Die ganze Summe, die ganze Monatsgage pränumerando ausgezahlt.«

»Abgemacht.«

Herr Sassinow dachte: Es ist ein gutes Geschäft; es ist ein sehr gutes Geschäft! Hoffentlich ist sie nicht gar zu tugendhaft. Obwohl – mir kann es gleich sein; ich mache auf jeden Fall ein gutes Geschäft. Es ist mir um ihretwillen! Um ihretwillen wünsch' ich, daß sie den schönen Burschen bald los wird. Das war ja vorhin ein wahrer Mörderblick. Schade, daß er nicht das Trapez kann. Eine prachtvolle Figur für Trikot! Und die junge Person, wer weiß – –

Am Abend unternahm es Wladimir, Tania vorzubereiten. Er schickte Colja fort und als der Knabe zu Bett gebracht und eingeschlafen war, rief er Tania ins Zimmer hinüber; um keinen Preis hätte er drinnen in der Kammer bei dem Kinde davon reden können.

»Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Setze dich.«

Tania setzte sich auf den Platz, den Wladimir ihr mit einer Kopfbewegung anwies. Er selbst stellte sich an das Fenster und schaute hinaus in die leuchtende Winternacht.

»Ich weiß, daß du mich liebhast,« begann er und stockte.

Tania sah zu ihm hinüber, mit einem Blick, einem Lächeln, einem Ausdruck, ganz Liebe, Hingabe, Glauben, Anbetung. Aber sie sagte nichts. Wladimir mußte wohl oder übel fortfahren: »Nun gut, du brauchst es mir nicht erst zu versichern. Ich weiß es; deine Liebe für mich ist groß. Und so ist die meine für dich, wenn ich auch zuweilen rauh erscheinen mag – – Weine nicht! Du weißt, ich kann Tränen nicht ausstehen! Tränen reizen mich, bringen mich auf, machen mich wild, und ich möchte gern sanft und gütig gegen dich sein.«

Sie bezwang sich, die Tränen, welche er nicht leiden konnte, tapfer zurückdrängend. Nur in ihren Augen blieben sie funkelnd stehen und um ihren Mund zuckte es schmerzlich. Dann versuchte sie ein Lächeln; aber er sah nichts davon.

Wladimir begann mit größerer Ruhe: »Ich habe viele Aufregungen, schwere Szenen, heiße Kämpfe, alles Dinge, mit denen ich dich nach Möglichkeit verschont habe; viel zu viel! Doch wie du nun einmal bist – und ich mache dir keinen Vorwurf daraus – kannst du deiner weichen Natur nach mein inneres Leben unmöglich teilen. Ich habe zuweilen schrecklich zu leiden; du weißt nichts davon.«

Ob sie wirklich nichts davon wußte? Hatte er ihren Blick gesehen, in ihrem Blicke die Todesangst, den Jammer, die unsägliche Liebe gelesen! Aber er sah sie nicht an, und sie blieb stumm.

»Es geht indessen nicht länger so,« sprach Wladimir weiter. »Du mußt endlich davon erfahren, du mußt mich endlich dabei unterstützen, mir dabei helfen.«

»Ach, Wladimir!«

Wladimir fuhr zusammen. Dieses Wort seines Weibes war wie ein Freudenschrei gewesen, wie ein erstickter Jubelruf. Sich den Schweiß von der Stirn wischend, murmelte er: »Es wird dir schwer fallen, obgleich es im Grunde genommen gar nichts ist; es wird dir viele Tränen kosten, töricht wie du bist. Aber weil du mich liebhast, und weil du doch eigentlich mein Weib bist, und weil ein Weib die Arbeit des Mannes teilen soll – – überdies, es geschieht für die Sache, für die du noch keinen Finger gerührt hast, für das Volk, welches dir ganz gleichgültig zu sein scheint, für das Glück des Volkes. Mit einem Worte, es geschieht aus den stärksten Ursachen, aus den treibendsten Gründen. Was sagst du?«

»Daß ich mich freue; ach, so sehr!«

»Du freust dich?«

»Daß ich dir helfen darf – endlich! endlich!«

»Du weißt ja noch gar nicht, was du tun sollst.«

»Du wirst es mir sagen und ich werde es tun und es wird gewiß das Rechte sein.«

»Meinst du? Natürlich ist es das Rechte.«

»Also, was soll ich tun?«

Sie war in ihrer Erregung aufgestanden und zu ihm getreten. Aber Wladimir starrte immer noch, von ihr abgewendet, zum Fenster hinaus. Sie mußte es noch einmal sagen: »Was soll ich tun?«

»Es ist nur für kurze Zeit, nicht länger als für einen Monat, höchstens. Du mußt jeden Abend, wenn das Kind schläft, dich hübsch anziehen und mit mir fortfahren. Denn ich bleibe bei dir, ich weiche nicht von deiner Seite, keiner soll sich unterfangen, dir nahe zu kommen.«

Und er ballte bei dem bloßen Gedanken, daß einer sich unterfangen könnte, ihr nahe zu kommen, seine Hände, knirschte mit den Zähnen und stöhnte laut auf.

»Wladimir! Wladimir!«

Ihr angstvoller Ruf brachte ihn zur Besinnung.

»Kurz und gut,« bedeutete er ihr mit rauher Stimme, »du sollst einen Monat lang jeden Abend in einem großen Saal, darin sich viele Menschen befinden, eine Viertelstunde singen; Volkslieder und was du sonst weißt. Es ist das wenigste, was du für die Sache tun kannst; das mußt du doch einsehen. Genug; ich befehle es dir und du wirst gehorchen.«

Er stampfte mit dem Fuße auf, drehte sich um nach ihr und sah sie mit rollenden Augen an. Sie war sehr bleich und zitterte, sagte aber, daß sie es ganz gut einsähe, daß es in der Tat wenig von ihr verlangt sei, daß sie es gern tun würde; jeden Abend, einen Monat lang und noch länger.

Mit einer schüchternen Bewegung legte sie ihre Hand auf seine Schulter und lächelte ihn an.

Herr Sassinow machte es anders als andere; andere machten Reklame, stießen gewaltig in die Posaune, rührten nach Kräften die Trommel. Herr Sassinow tat nichts dergleichen. Alles, was am nächsten Tag in dem Programme der Spezialitätenbühne Herrn Sassinows über Tanias Debüt zu lesen stand, beschränkte sich auf die einfache Konstatierung der Tatsache, daß vor der ersten großen Pause die Bäuerin Tania aus Eskowo Volkslieder singen würde. Das war alles! Herr Sassinow verschmähte es, die Bäuerin Tania und sein Etablissement an die große Glocke zu hängen.

In aller Frühe stieg Wladimir zu Natalia hinauf, die noch im Bette lag und eine schlechte Nacht verbracht hatte.

»Sie haben etwas,« rief Natalia dem Eintretenden zu und fuhr in die Höhe.

»Nichts, das der Rede wert ist,« erwiderte Wladimir mürrisch. »Seien Sie nicht so aufgeregt, das schadet Ihnen. Sie sind ja fast so ängstlich und nervös wie Tania Nikolajewna. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie den Tag über liegenbleiben und erst am Abend aufstehen möchten. Ruhen Sie sich also.«

»Was geschieht heute abend?«

»Eine Lächerlichkeit; aber ich möchte, daß Sie mit mir zugegen wären.«

»Sie wollen mit mir ausgehen?«

»Werden Sie kräftig genug sein?«

»Sicher! Das wissen Sie ja.«

»Das weiß ich. Übrigens, was sagen Sie dazu? Ich werde noch heute jene Summe erhalten, die ganze Summe.«

»Wie mich das freut! Ich hegte indessen gar keinen Zweifel daran, daß Sie das Geld auftreiben würden; Sie können alles, was Sie wollen. Ich bewundere Sie.«

»Diesmal bin nicht ich es, sondern Tania, welche das Geld schafft.«

»Tania?!«

»Sie wird heute abend in dem Tingeltangel des Herrn Sassinow Volkslieder singen. Sie sollen mich begleiten und Tania singen hören. Herr Sassinow zahlt mir heute die ganze Summe aus; wir haben ein festes Abkommen für einen Monat getroffen.«

»Wladimir!« schrie Natalia auf. »Was haben Sie sich angetan! Und ich vermag Ihnen in nichts beizustehen, ich habe keinen Balsam für Ihr blutendes Herz; Sie geben Ihr Heiligtum hin und alles, was ich tun kann, ist, daß ich hier liege und mit dem Tode ringe und den Tod bezwingen werde, bis ich Sie als den Helden des russischen Volles anerkannt weiß.«

Und sie wälzte sich auf ihrem Lager, ächzend und in Qualen sich windend.

Tania wich den ganzen Tag keinen Augenblick von ihrem Kinde; auch während sie für Natalia Sorge trug, hatte sie ihren Knaben bei sich. Wenn sie mit dem Kleinen in das Krankenzimmer trat, war ihr's jedesmal, als müßte der Anblick des Kindes Natalia gesund machen, als brachte sie ein Heiligtum zu der Schwerkranken. Aber Natalia kümmerte sich nicht um den Wunderknaben, welcher die Augen seiner Mutter hatte, und alles, was sie mit Wladimirs Geliebten über deren Sohn sprach, war, daß sie ihr glühende Reden hielt, das Kind zu einem leidenschaftlichen Anarchisten, zu einem echten Sohn seines Vaters zu erziehen. Sie pries Tania, daß sie der Sache des Volkes einen Sohn Wladimirs schenken konnte, daß sie auserwählt und gewürdigt worden, die Mutter eines zukünftigen Helden zu sein. Tania hörte ihr stumm zu, mit leiser Hand ihr Kind fester an die Brust drückend; und hatte sie die Kranke verlassen, so saß sie wohl eine Stunde, zu dem Knaben raunend und ihn anlächelnd, damit die wilden Worte der Nihilistin seiner jungen Seele keinen Schaden zufügen sollten. Als Tania heute mit dem Kinde zu Natalia kam, sagte diese nichts, gönnte Tania keinen Blick, sondern wandte sich von ihr ab, der Wand zu. Zum erstenmal war sie eifersüchtig auf das Weib des von ihr geliebten Mannes.

Colja erfuhr an diesem Tage noch nichts. Wladimir würdigte den »viehischen Burschen« überhaupt selten eines Wortes und Tania nahm sich vor, es ihrem Freunde möglichst lange zu verhehlen. Sie mußte aber immerfort an ihn denken und was er wohl dazu sagen würde. Um Coljas willen schmerzte es sie und um Coljas willen schämte sie sich; denn sie wußte, daß Colja darüber heftigen Schmerz und glühende Scham empfinden würde. Es war nicht ganz recht von ihm.

Am Nachmittage rief sie ihn endlich und sagte mit ihrem leuchtendsten Lächeln: »Wladimir Wassilitsch wünscht, daß ich ihn heute abend in die Stadt begleite. Natürlich muß ich mit ihm gehen. Es ist sehr freundlich von ihm, Weißt du. Nun würde ich zu Hause bleiben müssen, wenn ich dich nicht hätte, wegen des Kindes; du verstehst. Da du aber hier bist, kann ich ruhig fortgehen, denn bei dir ist das Kind ebensogut aufgehoben wie bei mir. Überdies gehe ich erst, wenn es eingeschlafen ist, und nach einer Stunde bin ich wieder da.«

Keine Worte nennen Coljas Wonne, Stolz und Glückseligkeit. Hätte man ihm die Krone des Zaren zu bewahren gegeben, es würde keinen Eindruck auf ihn gemacht haben. Aber Tanias Kind, den Wunderknaben behüten zu dürfen – Colja wunderte sich nur, daß er nicht plötzlich um einen Kopf größer ward. Später kleidete Tania sich sorgfältig an, wählte ihren besten Putz und wand blaues und rotes Band durch ihre Flechten. Auch tat sie alle ihre Ketten und ihren sonstigen Schmuck um. Dann säugte sie das Kind, brachte es zu Bette, sang es in Schlaf, rief Colja herbei (der sich vor Ungeduld und Erregung nicht zu lassen wußte) und begab sich hinauf, wo Wladimir mit der zum Ausgehen gerüsteten Natalia bereits auf sie wartete. Dann gingen sie alle drei. Wladimir, der heute für den Liebreiz seiner Geliebten tausend Augen hatte, führte Natalia. Draußen stand eine Droschke bereit und sie fuhren nach dem Etablissement des Herrn Dimitri Sassinow.

Die arme Tania! Wie ward ihr, als sie jenen Tempel betrat, durch einen besonderen Eingang, der nur für die »Künstler« und die »Künstlerinnen« bestimmt war; als sie durch die trüb erleuchteten, feuchten Gänge schritt, treppauf, treppab; als sie die heiße, schlechte Luft des Bühnenraumes einatmete. Welch ein Augenblick für sie, als Herr Dimitri Sassinow sie mit frecher Vertraulichkeit begrüßte; als sie diesen Herrn ihrem Geliebten Geld auszahlen sah; als dieser Herr sie in ein großes, kahles, überheiztes Zimmer führte und mit den »Künstlern« und »Künstlerinnen« seines Kunstinstituts bekannt machte, mit verschiedentlichen Damen und Herren in Trikot, den Akrobaten und Akrobatinnen, den Trapezkünstlern und Künstlerinnen, den Frosch- und Schlangenmenschen beiderlei Geschlechts und einem ganzen Heer anderer Spezialitäten ersten Ranges. Was waren das für Männer, was für Weiber! Da war eine spanische Tänzerin und eine französische Sängerin, da waren deutsche, italienische und griechische Schönen in langen, seidenen und samtnen Schleppkleidern oder kurzen Gazeröckchen, Wesen aus einer andern Welt, von der das Bauernmädchen aus Eskowo nichts wußte.

Und alle blickten auf sie, alle tuschelten miteinander über sie, allen war auch sie eine neue Menschenart.

Wladimir führte die Zitternde in eine Ecke, wo er sich mit ihr und Natalia niedersetzte. Sie hörten die Unterhaltungen der Künstler und Künstlerinnen, Gespräche, die Wladimir das Blut ins Gesicht trieben, Natalia dagegen vollständig gleichgültig ließen. Dann begann die Vorstellung. Sie vernahmen gedämpfte Musik und Beifallsgetöse. Die Herren und Damen, die an die Reihe kamen, verließen das Zimmer, vom Saale her drangen einige Exemplare der Moskauer goldenen Jugend herein, es gab ein Gelächter und Geschrei, daß niemand sein eigenes Wort verstehen konnte. Sehr bald hatten die Besucher die »Neue« entdeckt. Tania wurde aus der Ferne von frechen Blicken gemustert, aber Wladimirs blasses, finsteres Gesicht, das wieder einmal seinen »Mörderausdruck« hatte, hielt Wache bei ihr.

Noch eine Nummer und die Reihe sollte an Tania kommen. Herr Sassinow in eigner Person teilte es der Debütantin mit, sie auffordernd, ihm zu folgen. Wladimir und Natalia erhoben sich; auch Tania stand auf. Sie war halb bewußtlos und klammerte sich an Wladimir. Wieder richteten sich aller Augen auf sie, wieder gab es ein Zischeln und Flüstern. Als die drei hinaus waren, brach man hinter ihnen in ein Gelächter aus; die meisten begaben sich bald darauf gleichfalls auf die Bühne, um dem Auftauchen des neuen Sterns beizuwohnen.

»Denke an mich, daß du mich liebst, daß du es mir zuliebe tust, daß ich dich liebe, von ganzem Herzen, meine arme Tania, mein geliebtes Weib.«

Diese Worte, die Wladimir Tania zuraunte, als alle drei hinter einer Kulisse standen, wirkten wie ein Zauber auf sie. Sie belebte sich und erwiderte: »Du bist so gut! Habe keine Sorge um mich. Ich werde nur an dich und an das Kind denken. Gewiß, ich fürchte mich gar nicht mehr. Wenn mein Gesang ihnen nur gefällt; ich kann es mir nicht denken.«

»Dein Gesang gefällt mir! Du hast eine solch süße Stimme. Wenn du singst, könnte ich immer stehen und dir zuhören.«

Nun hatte sie Mut.

Herr Dimitri Sassinow war ein schlauer Herr, ein Herr, der sein Geschäft verstand, der in der Tat würdig war, einem verehrlichen Publikum die ersten Spezialitäten der Welt vorzufühlen. Die Nummer vor Tania war eine französische Chansonettensängerin, eine ältliche, stark geschminkte, tief dekolletierte Dame, die mit heiserer Stimme Pariser Gassenhauer absang; die Stimme war auch bei dieser Künstlerin gänzlich Nebensache; Hauptsache waren die Bewegungen und Pantomimen, womit die Dame ihren Gesang begleitete und welche von einer Art waren, daß das Publikum außer sich vor Entzücken geriet. Mindestens sechs Piecen mußte die Sängerin zugeben; Tania schien für den Abend gar nicht mehr an die Reihe zu kommen.

Endlich hatte das Publikum genug gerast, es trat Stille ein, Tania erschien auf der Bühne. Es blieb still, keine Hand regte sich, die Debütantin zu empfangen. Das war in dem Kunstinstitut des Herrn Sassinow etwas durchaus Ungewöhnliches; aber Herr Sassinow hatte es gar nicht anders erwartet. Als Tania schwankend von Wladimir hinwegtrat, ergriff Natalia Wladimirs Hand, die feucht und eiskalt war. Wahrend der ganzen Zeit, die Tania auf der Bühne stand, ließ Natalia die Hand ihres Freundes nicht los.

Tania begann zu singen; ein Wiegenlied. Im Publikum wurde gelacht, einige zischten, andere schrien »lauter«. Dann wurde Stille geboten. Und es wurde still, so still, wie es noch niemals in dem Kunsttempel des Herrn Sassinow gewesen war.

Und es blieb still.

Tania beendete ihr Lied und begann ein zweites, ohne daß eine Hand sich geregt hätte. Sie stand mitten auf der Bühne, ziemlich im Hintergrund, sah vor sich nieder und sang, nicht lauter als sonst, sang, was ihr gerade einfiel. Sie dachte, daß Wladimir sie hörte und daß ihr Gesang Wladimir gefiel, ihn entzückte! Tränen standen in ihren Augen, aber sie war ruhig, und fast glücklich.

Sie sang ein fünftes, ein sechstes Lied. Dann trat Herr Sassinow in eigner Person auf die Bühne, um die Sängerin fortzuführen. Aber da erhob sich ein wahrer Sturm gegen ihn: Tania sollte bleiben, Tania sollte weitersingen. Und Tania sang.

Einen solchen Erfolg hatte Herr Sassinow nicht erlebt, solange er mit seinen Spezialitäten Moskau beglückte, doch es überraschte ihn gar nicht.


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