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Fünfzehntes Kapitel

Wieder war er bei ihr, droben in ihrer Kammer. Lange hatten sie geschwiegen; das langweilte ihn endlich und er begann: »Sage mir eines deiner Volkslieder her. Du hast nämlich eine wunderbare Stimme, eine solche Weichheit darin und zugleich solche Kraft.«

»Das findest nur du,« entgegnete ihm Wera erglühend.

»Du meinst, weil ich in dich verliebt bin?«

»Weil du mich liebst,« verbesserte sie und sah ihn voll an. »Und ich liebe dich,« fügte sie mit einer Feierlichkeit hinzu, als ob sie das Sakrament nähme. »Und hast mir so lange widerstrebt?«

Dabei legte er seinen Arm um sie.

»Du weißt ja,« begann sie leise und stockte.

»Daß du ein eigentümliches Geschöpf bist? Ja, das weiß ich, das hast du mich gelehrt.«

Wera senkte die Augen.

»Ich bin sehr glücklich!« flüsterte sie, schwieg, sagte dann mit einem Beben in der Stimme: »Und du? Bist auch du glücklich? Denn wenn du es nicht wärst, wenn meine Liebe dich nicht glücklich machte, so wäre sie nichts wert. Ich bin so gar nicht liebenswürdig. Tag und Nacht muß ich daran denken! Du gibst mir vieles, gibst mir alles und ich gebe dir nichts. Das ist etwas Ungleiches, das kann keine guten Folgen haben. Es scheint mir auch unnatürlich, denn in der Liebe muß die Frau dem Manne gleichstehen – muß sie über dem Manne stehen. Das soll nicht hochmütig sein. Ich drücke mich nur schlecht aus; du mußt immer bedenken, daß ich die Wera Iwanowna aus Eskowo bin. Die Frauen aus deinem Stande können ganz anders reden als ich.«

»Tu' mir den Gefallen und schweige von den Frauen aus meinem Stande,« rief Boris. »Ich bin ihrer überdrüssig! Sie langweilen mich, daß ich gähnen muß, wenn ich nur von ihnen reden höre. Wer mag schalen Wein trinken? Ein Trunk frischen Quellwassers ist dagegen eine wahre Gottesgabe. Du willst etwas sagen.«

»Es tut mir leid, daß ich doch davon reden muß, von den Frauen aus deinem Stande nämlich. Mir ist, als müßte ich meine ganze Seele vor dir ausschütten wie ein Tuch voll Blumen. Ich habe so viele Jahre lang immer nur in mich hineingelebt, daß ich erst lernen muß zu sagen, was ich denke. Es ist eben doch nicht das Richtige zwischen dir und mir. Es ist gerade, als stünden wir beide an einem Strom, aber ich auf der einen, du auf der anderen Seite. Wir suchen nach einer Brücke, doch wir finden sie nicht. Was sollen wir anfangen? Ich fühle Todesangst in mir und dann wieder ein solches unbändiges Lebensglück! Am liebsten stürzte ich mich in den Strom hinein mit offenen Augen. Du wirst mich ja wohl nicht untergehen lassen.«

»Ich bleibe dabei, du bist das merkwürdigste Geschöpf unter der Sonne,« meinte Boris nachdenklich. »Eine Romantikerin pur sang

»Du sprichst wieder einmal, daß ich dich nicht verstehen kann,« erwiderte Wera traurig. »Bitte tue das nicht, ich fühle mich dann so hilflos. Was möchtest du anders an mir haben? Belehre mich; lehre mich, dich zu verstehen und deine Sprache zu sprechen. Daß ich einmal glauben konnte, durch dich schlecht zu werden! Was wäre ich ohne meine Liebe. Ich habe so lange nach Gott gesucht und ihn nicht finden können und nun ist mir, als ob ich ihn immer besessen hätte. Ich möchte immer nur knien und meine Liebe stammeln, wie ein Gebet; ich möchte sie hinströmen lassen, wie eine Blume ihren Duft. Mir ist, als ginge jede Stunde von neuem die Sonne auf. Du mußt mich nicht darum verachten, daß ich dir meine Seele so nackt und bloß zu Füßen lege.«

»Sieh mich nicht so unheimlich ernsthaft an!« rief Boris aus. »Beim Himmel! Wera, ich liebe dich!«

Und er zog sie in seine Arme.

»Ich bin glücklich,« flüsterte sie, sich an ihn schmiegend.

»Weißt du, was ich tun sollte? Ich sollte dich unter alle mitten in den Saal stellen und sie auffordern, dich zu betrachten. Dann sähen alle, was sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen haben: Tugend nämlich.«

»Du wolltest ja wohl ein Volkslied von mir hören!« entgegnete sie, machte sich von ihm los und sprach ihm eines ihrer wehmütigen Lieder vor.

So war Wera glücklich. Kein Schauder warnte sie mehr, sie war der Erde wie entrückt. Mit verklärtem Blick wandelte sie umher. Sie sah nicht, was um sie vorging, daß Anna Pawlowna und alle ihre Verzückung und deren Ursache bemerkten, daß sie von allen beobachtet ward, daß sie und Boris das Tagesgespräch bildeten, wie einst Anna Pawlowna und Sascha. Dieser wohnte wieder in Moskau, kam aber täglich zu Fuß nach Kunzewo, wo er nicht mehr bei Anna Pawlowna vorgelassen wurde. Stundenlang umschlich er das Haus oder beobachtete, im Gebüsch versteckt, die Prinzessin, zitternd, daß er gesehen und verjagt werden könnte. Eines Abends wagte er sich ins Haus und hinauf in Weras Kammer.

Wera befand sich allein und im Begriff zu Bett zu gehen. Sie hatte ihr Haar aufgelöst und stand am Tische neben der brennenden Lampe, als jemand ohne vorher anzuklopfen die Tür öffnete und Sascha auf die Schwelle trat. Wera erkannte ihn zuerst nicht, hob die Lampe und leuchtete in sein Gesicht.

»Sascha! Sascha!«

Stumm standen sie sich dann gegenüber.

Wie er sie ansah! Mit einem Blick, darin der Wahnsinn aufstieg.

»Komm doch von der Tür fort,« sagte sie endlich. »Setze dich.«

»Sei mir nicht böse.«

»Wie du redest. Ich bin nur traurig, ach, Sascha, Sascha, todtraurig.«

Er seufzte und ging mit schwankenden Schritten zu einem Stuhl, darauf er niedersank.

»Es ist schlimm eingerichtet in der Welt,« sagte er langsam mit tonloser Stimme, »schlimm ist es, daß es Traurigkeit darin gibt. Selbst die Hunde haben traurige Augen und traurige Augen hat das russische Volk.«

Wera trat zu ihm und faßte seine Hand.

»Du bist krank, Sascha. Deine Hand ist eiskalt.«

»Ich friere nicht. Im Grabe ist es freilich kalt, aber da fühlt man es nicht. Das ist nun wieder sehr gut eingerichtet.«

»Sprich nicht so,« bat Wera mit Tränen im Auge. »Es ist schrecklich, dich so reden zu hören und nichts tun zu können. Komm, ich will mit dir nach Moskau zurück, zu unseren Freunden, zu Tania und Colja.«

»Zu unseren Freunden? Ich habe keine Freunde. Die Menschen sind recht einsam auf der Welt.«

Ihre Erschütterung bezwingend, erwiderte Wera »Was bildest du dir ein? Bin ich nicht deine Freundin?«

In Saschas Brust begann es mächtig zu arbeiten. Plötzlich stöhnte er auf, warf sich vor Wera nieder, umfing sie, preßte seinen Kopf gegen ihren Leib und begann krampfhaft zu schluchzen.

»Sascha! Sascha!« war alles, was Wera hervorzubringen vermochte.

»Rufe mich nur an,« sagte Sascha und richtete sich etwas auf. »Rufe nur, du weckst mich doch nicht, Ich will auch nicht geweckt werden. Schlafen ist schön. Nacht! Nacht! Der Tag hat so grelles Licht. Das sticht in die Augen und das Herz klopft sich todmüde nach einem anderen Herzen. Schlafen, schlafen, ohne zu träumen, ohne je wieder zu erwachen. Müßte das guttun! Da könnte das Herz ausruhen. Die Erde ist eine solche liebevolle Mutter, die ihr Kind in ihren Schoß nimmt, es weich und fest zudeckt, daß keine Stimme es aufwecken kann. Ewig schlafen. Was das für ein schönes Wort ist.«

»Dein Gesicht glüht!« rief Wera angstvoll, »du sprichst im Fieber, ich will nach einem Arzt schicken.«

Er hielt sie zurück.

»Bleibe! Geh nicht von mir! Nein, ich habe kein Fieber. Krank bin ich freilich und kann auch nicht wieder gesund werden. Aber wozu einen Arzt fragen? Verzeihe, daß ich dich erschreckt habe; es hatte sich mir auf das Herz gewälzt und mußte einmal heruntergerissen werden. Nun kann ich doch wieder atmen!«

»Du kannst mir nicht sagen, was geschehen ist?« fragte Wera liebevoll.

Er wich der Frage aus.

»Was soll geschehen sein? Auf der Welt geschieht jeden Augenblick so viel Wunderliches. Mich überkam eine solche Angst. Ich mußte zu dir. Und als ich dich wiedersah, ward mir wohl, als wäre ich jahrelang fortgewesen und wieder nach Hause zurückgekehrt.«

»Du mußt von jetzt an öfter zu mir kommen. Ich mache Tee, wir plaudern, von Eskowo und den guten, alten Zeiten. Du darfst mich nicht wieder so lange einsam lassen.«

»Einsam? Du bist doch nicht einsam in diesem Hause? Übrigens darfst du nicht etwa denken, daß Anna Pawlowna – – Ich verehre sie hoch. Jeder muß sie verehren und bewundern. Sie ist eine herrliche Frau. Und wie sie das Volk liebt! Man kann ihr glauben, sie sagt nie eine Lüge. Wie? Du glaubst ihr nicht?«

»Sei doch nicht so aufgeregt!« suchte Wera ihn zu beruhigen. »Ich glaube nichts Schlechtes von ihr; ich glaube das von niemandem und rede mir immer ein, daß alle gut seien.«

»Das ist recht!« rief Sascha lebhaft. »Man muß sehr vorsichtig sein in der Beurteilung eines Menschen. Wie leicht kann man sich täuschen! Und einem Menschen seine Ehre nehmen, das ist so gut wie ein Mord. Denn die Ehre ist sein Bestes, sein Höchstes, das einzige Eigentum des Armen. Wenn ein Mensch seine Ehre verliert, sei es vor anderen oder vor sich selbst, so wird er elend, erbärmlich und verächtlich; vor anderen verächtlich und vor sich selbst – – Warum starrst du mich so an?«

»Ach, Sascha,« rief Wera beklommen, »ich sehe dich gar nicht an; ich blicke ja zu Boden.«

»Das ist auch nicht das Rechte,« tadelte er, immer verstörter in Blick und Ton. »Der Mensch muß frei aufsehen können, frei und stolz; sonst steht es schlimm um ihn. Verstehst du mich?«

»Ja,« sagte Wera leise, »ich verstehe dich.«

Sascha versank in Brüten, darin Wera ihn nicht zu stören wagte. Der Morgen graute bereits, als er endlich fortschlich.

Dieser Vorgang mit ihrem alten Jugendfreunde legte sich wie Mehltau auf Weras junges Liebesglück. Sie bekam das Bild seiner zerrütteten Mannheit nicht aus ihrer Seele. Vergaß sie seiner auf kurze Zeit, so machte sie sich Vorwürfe, daß sie glücklich sein konnte, während er mit dem Wahnsinn rang. Übrigens sah sie ihn nicht mehr; er mußte nach Moskau zurückgekehrt sein und sich entschlossen haben, dort zu bleiben. Sie schrieb an Natalia, die sie bat, ihr Nachricht von ihm zu geben, ohne jedoch auf ihren Brief eine Antwort zu erhalten.

Das Fest, an dem die lebenden Bilder gestellt werden sollten, stand bevor. Auch Wera wirkte mit. Als Boris sie darum anging, weigerte sie sich zuerst auf das entschiedenste; doch er wußte es ihr abzutrotzen, abzubetteln, abzuschmeicheln; sie würde die Schönste, die Allerschönste, er der Glücklichste, der Allerglücklichste sein! Diesem letzten Argument widerstand sie nicht.

Boris hatte für sie die Darstellung einer Madonna aus der umbrischen Schule gewählt. Sie trug über einem stahlblauen Untergewand einen roten Mantel, ihr prachtvolles Haar umwallte sie wie ein goldener Schleier, auf ihrem schönen Haupt glänzte die Himmelskrone. Mit stillem Lächeln sah sie vor sich nieder auf einen Lilienzweig, den sie in beiden Händen hielt. Vor ihr kniete der Donator des Bildes mit seiner Familie. Den schönen Jüngling, welcher der heiligen Jungfrau zunächst kniete und wie in Verzückung zu ihr aufsah, wollte Boris selbst darstellen.

Einen heftigen Kampf kostete es, bis eine von den Damen zu bewegen war, sich bei diesem Bilde zu beteiligen. Aber gerade das hatte sich Boris in den Kopf gesetzt; sie sollten vor Wera knien.

Er setzte in der Tat seinen Willen durch; Anna Pawlowna selbst übernahm die Figur.

Die erste Probe fand statt. Wera hatte sich in ihrer Kammer angekleidet, Boris ging zu ihr hinauf, um an ihr Kostüm die letzte Hand zu legen. Er brachte das Kleid in die rechten Falten, ordnete den Mantel und breitete ihr Haar um sie her.

Nun sollte sie lächeln. Aber das ging nicht so leicht. Es paßte so wenig zu ihr, und selbst ihre Liebe hatte sie es nicht gelehrt. Sie sah aber so holdselig und lieblich, so marienhaft aus, daß Boris, obgleich hingerissen von ihrer Schönheit, keine Liebkosung wagte.

Er führte sie hinunter in den Saal, wo die Vorstellung stattfinden sollte und wo die Bühne mit dem Rahmen bereits aufgeschlagen war.

Weras Erscheinen erregte Sensation. Es dauerte einige Zeit, bis man begann, sich zu gruppieren. Die Herren, die zu ihren Füßen zu knien hatten, blickten mit wahrer Andacht zu der schönen Himmelskönigin empor.

Aber auch Anna Pawlowna gewährte einen herrlichen Anblick. Sie war in einem purpurfarbenen Samtkostüm, das rote Haar hoch aufgesteckt, den Blick gerade vor sich hingerichtet.

Der Abend kam, Wera kleidete sich an, mehr als jemals in einer seligen Dumpfheit befangen. Staunend sah sie an sich herunter: sie, Wera aus Eskowo, in solchem Gewande; aber es waren bereits so viele Wunder mit ihr vorgegangen und dieses eine veränderte nur ihr Äußeres.

Es war ein schwüler, dunkler Abend. Ein Gewitter stand am Himmel, gleich einem riesigen, schwarzen Schatten, der regungslos über der Erde hing.

Wera hatte das Gefühl, als ob die finsteren Wolkenmassen sich herabsenkten, als ob dann die ganze Welt zerquetscht werden müßte. Es litt sie nicht in ihrer Kammer, obgleich sie viel zu früh fertig geworden war.

Die Gäste und Diener waren sämtlich im Hause, die einen mit ihrer Toilette, die anderen mit Vorbereitungen zum Fest beschäftigt. Im Park würde ihr sicher niemand begegnen, eine halbe Stunde in der Luft bei ihrer Beklemmung ihr gut tun. Sie mußte heute abend sehr ruhig sein; es wäre schrecklich, wenn sie sich rührte; die geringste Bewegung würde das ganze Bild zerstören. Sicher würde sie zittern.

Du mußt ruhig werden, sagte sie zu sich selbst, du darfst nicht so aufgeregt sein.

Sie faßte ihr Gewand zusammen, lauschte, ob niemand zu sehen und zu hören war, schlüpfte hinaus.

Kein Hauch regte sich. Die Blumen atmeten einen betäubenden Wohlgeruch aus, die Luft war trocken und heiß.

Wera ging die Wege, die in den Park hineinführten, erschreckend, wenn unter ihren Füßen der Kies knirschte; überall glaubte sie in dem Schatten der Gebüsche und Bäume Gestalten zu sehen.

Da hörte sie lautes Reden. Die Sprechenden mußten sich auf ihrem Wege befinden und ihr entgegenkommen. Wera trat, um nicht gesehen zu werden, hinter ein Taxusgebüsch. Sie lauschte und glaubte die Stimmen zu erkennen. Es waren zwei Gäste Anna Pawlownas, junge Lebemänner, neben Boris die elegantesten Herren der Gesellschaft.

Wider ihren Willen mußte Wera das Gespräch mitanhören. Sie gingen sehr langsam und sprachen sehr laut.

»Diese Wera ist ein herrliches Geschöpf! Welche Augen! In der steckt Rasse! Boris hat wieder einmal ein rasendes Glück. Ich bin neugierig, wie lange er sie behält.«

»Jedenfalls länger als eine andere.«

»Pah!«

»Wollen wir wetten?«

»Wenn du Lust hast zu verlieren.«

»Zu gewinnen.«

»Wetten wir! Ich gebe der Sache, gut gerechnet, volle vier Wochen.«

»Welcher Unsinn! Boris hat sie noch gar nicht.«

»Wird sie bekommen. Oder glaubst du, daß er die Bilder zu unserem Vergnügen arrangiert? Heute hat er sie und nach vier Wochen kannst du sie dir nehmen.«

»Es wäre schade.«

Aber er lachte.

Die Schritte entfernten sich, die Stimmen wurden undeutlich. Zuletzt war alles still – auch hinter dem Taxusgebüsch.

Dann, nach einer langen Weile, trat Wera hervor, blieb stehen, besann sich, schritt wieder weiter, zurück dem Hause zu, langsam, langsam, als hätte sie Ketten an den Füßen. Sie hatte nicht nur alles verstanden, sie hatte auch alles begriffen; mehr begriffen, als ihr Verstand zu ertragen vermochte. Dennoch, obgleich sie vollkommen betäubt war, fühlte sie sich noch im Besitz aller ihrer Gedanken. Sie wußte sogar, was sie zu tun hatte. Es war etwas, das keinen Aufschub erlitt, nicht den geringsten Aufschub!

Sie näherte sich dem Hause, das, glänzend erleuchtet, weit in die Nacht hinausstrahlte.

Ein Mann ging dicht an ihr vorüber, ohne sie zu bemerken. Sie aber erkannte ihn, blieb stehen und sah ihm nach.

Sie wollte ihn eigentlich zurückrufen, unterließ es jedoch. Ganz allein mußte sie damit fertig werden. Er konnte ihr auch nicht helfen, so wenig wie sie ihm hatte helfen können.

Halblaut sagte sie vor sich hin: »Sascha, ach, Sascha! Armer Sascha, lieber Sascha.«

Dann stand sie vor dem Hause, hinter welchem die schwankende Gestalt verschwunden war. Fortwährend kamen Gäste an, Equipagen fuhren vor, Diener rissen die Wagenschläge auf, Herren und Damen stiegen aus, schritten über den Teppich, zwischen den aufgestellten Blattpflanzen ins Haus. Einige aber blieben stehen, blickten nach Wera hin, schienen zu verstummen, flüsterten zusammen. Wera merkte, daß man sie gesehen hatte, und fort, zurück in den Schatten des Parkes. An der Hinterseite, auf der Dienertreppe wollte sie in ihre Kammer, von ihrem Eigentum etwas zusammenraffen und dann fort! fort! fort!

Warum waren jene wohl stehengeblieben? Warum hatten sie so staunend zu ihr hinübergeblickt? Was hatten sie zusammen über sie geflüstert? »Seht! Dort steht Wera Iwanowna, die Geliebte von Alexeiwitsch! Nach vier Wochen, gut gerechnet, kann ein anderer sie nehmen, er mag sie dann nicht mehr.«

Freilich hatte einer der beiden im Park wenigstens gemeint: »Er hat sie noch nicht.«

Aber der zweite erwiderte: »Er wird sie haben! Diese Nacht noch.«

Und: Er wird dich haben – wird dich haben – wird dich haben, schrie es in Weras Seele. Ganz laut sagte sie hinzu: »Diese Nacht noch.«

Jetzt hatte sie das Haus umschritten, jetzt konnte sie sich hinein stehlen, hinauf schleichen – gerade wie Sascha, wie der liebe Sascha, der arme Sascha.

Und wieder murmelte sie vor sich hin: »Ach, Sascha, Sascha!«

Eben wollte sie ihr Vorhaben ausführen, als auf der Treppe ein Diener ihr entgegenkam: »Da sind Sie ja! Man sucht Sie im ganzen Hause. Das erste Bild hat bereits angefangen und Sie stehen im dritten. So kommen Sie doch!«

Ja so; die Bilder! Die Bilder hatte sie ganz vergessen. Und Boris Alexeiwitsch hatte doch eigens die Bilder arrangiert, um sie zu bekommen – diese Nacht noch! Schade, daß sie ihm den Spaß verderben würde. Gott im Himmel, sie ging immer noch als heilige Jungfrau gekleidet! Welche Gotteslästerung! Und sie mußte hinein, sie mußte den Kelch leeren; der Diener wich nicht von ihrer Seite. Allerdings hätte sie Boris Alexeiwitsch sagen lassen können, sie wäre plötzlich erkrankt. Es wäre aber gelogen gewesen, denn sie fühlte sich wohl, durchaus wohl, und sie wollte um dieses Menschen willen nicht lügen. In Gottes Namen denn! Dem Diener folgend, dachte sie: Nun, das wird schnell vorübergehen. Nur das Leben nicht, das dauert lange, so lange.

Sie wandte sich, um sich in den Saal zu begeben, Boris kam ihr entgegen; eilig, aufgeregt.

»Wo bist du? Was soll das heißen? In welche Verwirrung bringst du uns! Sollen wir deinetwegen die ganze Gesellschaft warten lassen? Schnell hinein! Du mußt den Mantel höher fassen. Hier sind die Lilien. Jetzt brauchst du die Blumen noch nicht anzusehen.«

Sie schlug die Augen auf.

»Mein Gott, was ist dir?«

»Mir ist wohl.«

Sie hatte erwartet, daß sie nicht würde reden können, daß ihr die Stimme versagen würde. Nun konnte sie nicht nur reden und das ganz ruhig, ganz gelassen; ihre Stimme klang sogar wie gewöhnlich. Seltsam!

Sie sah ihn an. Er war in seinem Kostüm herrlich. Zum erstenmal fiel ihr auf, daß er ein schöner Mann sei. Daran hatte sie noch niemals gedacht; sie mußte es diesen Augenblick denken, sich wundernd, daß sie es denken konnte.

Boris ging mit ihr dem Saale zu. Sie kamen durch das Gewächshaus, das matt erleuchtet und ganz einsam war. Er riß sie an sich.

»Küsse mich!«

Und sie küßte ihn zum erstenmal.

»Wera! Wera!«

Aber sie löste sich von ihm, ging von ihm fort und trat in den Saal, wo sich in einem abgeschlossenen Raum die Mitwirkenden versammelten. Wera sah nicht auf. Auch jetzt flüsterte man, als sie hereinkam.

Es war erstickend heiß, die Kerzen flimmerten, ein Summen gedämpfter Stimmen drang herüber; dann begann die Musik, dann ging vor dem zweiten Bilde der Vorhang auf.

Rauschender Applaus.

Das Bild, darin Wera stand, war von Boris, weil man sie nirgends finden konnte, verschoben worden; es sollte das letzte sein. So hatte sie denn Zeit.

Boris befand sich auf der Bühne, aber andere Herren näherten sich ihr und machten ihr Komplimente über ihre Schönheit. Wera hörte alles mit an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann und wann erwiderte sie etwas, irgendein gleichgültiges Wort.

Auf einmal sah sie sich mit Anna Pawlowna allein. Diese trat auf sie zu, blickte ihr starr in die Augen und murmelte: »Du liebst ihn?«

Wera schwieg.

»Antworte!«

»Ich liebe ihn.«

»Aber er liebt dich nicht.«

»Das weiß ich.«

Die Prinzessin starrte sie an, als ob sie eine Wahnsinnige vor sich hätte.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es.«

»Und das sagst du so ruhig?«

»Warum nicht? Übrigens, was geht es Sie an?«

»Was es mich angeht?«

»Da Sie doch die Geliebte Saschas sind – –«

Anna Pawlowna wurde totenblaß, ihr schönes Gesicht verzerrte sich, sie ballte ihre Hand und erhob sie.

»Schlagen Sie nur zu,« sagte Wera kalt, ohne zurückzutreten.

Mit einem Laut, wie das Zischen einer Schlange, ließ Anna Pawlowna den Arm sinken.

»Wera Iwanowna, Ihr Bild kommt an die Reihe, Gehen Sie, bitte, auf die Bühne.«

Wera ging auf die Bühne, stellte sich hin, neigte den Kopf und sah auf den Lilienstengel.

»Wera Iwanowna, Sie müssen lächeln,« rief Boris ihr zu. »Lächeln Sie.«

Und Wera lächelte.

Dann fühlte sie, daß er an ihrer Seite niederkniete und zu ihr emporsah; mit einem Ausdruck, einem Blick voller Anbetung, Verzückung, Seligkeit – –

Jemand rief: »Bewegt euch nicht, es fängt an!«

Die Musik begann, der Vorhang ging in die Höhe.

Wera regte sich nicht und lächelte. – – Der Vorhang schlug rauschend zusammen und ging dann wieder auf, vier-, fünfmal. Das Publikum konnte sich nicht satt sehen.

Die Gestalten lösten sich; Wera fühlte sich festgehalten, hörte flüstern: »Meine Heilige!«

Sie zuckte zusammen wie von einer Natter gestochen.

Boris trat von ihr weg, zu Anna Pawlowna, der er die Hand küßte.

»Sie waren wunderbar.«


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