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Am Abend traf man sich in der Preobraschenskaja-Vorstadt. Die Läden des Gartenhauses waren fest geschlossen, so daß kein Lichtstrahl hindurchdringen konnte; überdies hielt Colja auf dem Hofe Wache. Sowohl die Fürstin wie Anna Pawlowna kamen zu Fuß, Boris begleitete Wera und Natalia, Sascha kam allein. Er war der letzte.
Man begrüßte sich und wartete auf Wladimir Wassilitsch, der bereits seit dem Morgen von Hause abwesend war. Jeder war in seinem Gemüt mit ganz anderen Dingen beschäftigt, als mit denjenigen, um derentwillen man sich zusammengefunden. Einer beobachtete den anderen und fand in dem Benehmen eines jeden dieses und jenes Auffällige. Boris Alexeiwitsch mußte lächeln, als er die Fürstin Danilowsky erblickte, in einem eigens für diese Gelegenheit komponierten Kostüm, darin die Dame wie eine Salonpetroleuse aussah. Natürlich merkte er sofort, warum sie gekommen war; er drückte indessen sein höchstes Erstaunen darüber aus, sie in der Preobraschenskaja-Vorstadt zu treffen, beglückwünschte sie zu ihrem Entschlusse, der Sache des Volkes angehören zu wollen und stellte ihr Wera vor, deren Schönheit auf die Fürstin einen geradezu vernichtenden Eindruck machte. Kaum vermochte sie sich zu beherrschen. Wera sah sie mit großen Augen an, vollständig ahnungslos, wodurch sie das Mißfallen der vornehmen Dame erregt haben könnte.
Mit Sascha sprach Wera kein Wort und vermied es, ihn anzusehen; so bemerkte sie denn nicht, daß auch Sascha sich am liebsten vor ihr verborgen haben würde. Anna Pawlowna hatte sie bei ihrem Kommen auf die Wange geküßt und freundlich angeredet, aber keine Antwort erhalten. Selbst Natalia Arkadiewna gegenüber hatte Wera das Gefühl, als ob sie sich von ihr entfernt hätte. Ihre Einsamkeit drückte ihr das Herz zusammen. Boris Alexeiwitsch mußte sie verstehen; denn wenn er zu ihr redete, hatte seine Stimme etwas so Weiches, Mildes, Trauriges; mit solchen Augen und solcher Stimme dachte sie sich Puschkins Onegin. Als Tania mit einer Lampe eintrat, erschrak sie fast. Unwillkürlich wandte sich Wera Boris zu, als wollte sie aus seinem Gesicht ablesen, welchen Eindruck auch auf ihn die holdselige Erscheinung machte. Tania war ja Puschkins Tatjana! Es versetzte ihr den Atem, als sie sah, wie Boris Alexeiwitsch Tania voller Erstaunen anblickte. Aber nur einen Augenblick. Dann wandte er sich wieder zu ihr, sie fragend, ob er morgen kommen dürfe, um ihr das Gedicht weiter vorzulesen?
»Warum wollen Sie mir das Buch nicht lassen?« meinte sie leise. »Bitte, geben Sie es mir.«
Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Das geht nicht. Sie müssen sich mein Vorlesen wohl oder übel gefallen lassen. Es macht mir überdies ein unsägliches Vergnügen, denn Sie haben ein wahres Genie, zuzuhören.«
»Wie?«
»Sie erleben, was Sie hören.«
»Soll ich das nicht?«
»Gewiß. Ein Dichter müßte glücklich sein, Ihnen sein Werk vortragen zu dürfen.«
»Ich verstehe aber nichts von Poesie.«
»Das ist es eben! Wenn Sie die Poesie ›verständen‹, so würden Sie bald aufhören, sie zu empfinden. Und Empfindung – das ist alles.«
»Ich wußte gar nicht, daß es so Herrliches auf der Welt gäbe.«
»Wie die Poesie es ist?«
»Wie das Gedicht, das Sie mir vorlesen.«
»Aber gestehen Sie nur, Onegin selbst ist Ihnen verhaßt. Seien Sie aufrichtig!«
»Ich fürchte mich vor diesem Manne. Er wird Tatjana unglücklich machen – er muß es.«
»Muß er?«
»Gewiß. Das liegt in seiner Natur, er kann gar nicht anders.«
»Wie gut Sie ihn verstehen!«
»Ich verstehe ihn gar nicht,« erwiderte Wera eifrig. »Aber ich fühle, daß es so sein muß. Er tut mir leid.«
»Onegin? Er geht auch in der Tat durch Tatjana zugrunde. Ein schöner Tod. Sehen Sie nur, wie die Fürstin uns beobachtet.«
Wera blickte um sich.
»Warum sieht sie immer her? Habe ich ihr etwas getan?«
»Sehr viel.«
»Was?«
»Sie sind schöner als sie.«
»Mein Gott!«
»Mit einem Wort, sie ist eifersüchtig.«
»Auf mich?«
»Sicher.«
Wera trat schnell von ihm fort; mit einer solchen heftigen Gebärde, einem solchen finsteren Blick, daß Boris sich auf die Lippen biß.
Wera ging auf Tania zu, welche die Lampe auf den Tisch gestellt hatte und nun in einer Verlegenheit dastand, die sie reizend kleidete. Ihre Freundin grüßte sie.
»Ach, Tania, wie freue ich mich, dich zu sehen. Wie geht es dir?«
»Recht gut. Wladimir Wassilitsch hat mir erlaubt, den Tee für die Herrschaften zu machen.«
Auch Natalia Arkadiewna näherte sich Tania und flüsterte ihr zu: »Du darfst dich nicht so grämen. Liebste. Jeder merkt dir an, daß du Kummer hast. Ist Wladimir Wassilitsch unfreundlich gegen dich?«
»Nein, nein! Wie kannst du denken! Er ist sehr nachsichtig, aber ich – –«
Sie begegnete einem Blicke Weras und verstummte, Wera mußte sich Gewalt antun, sich nicht zwischen die beiden zu drängen. Es war ihr unerträglich, Natalia Arkadiewna neben Tania zu sehen. Boris Alexeiwitschs Worte: »Sie ist in ihn verliebt,« der Ton, mit dem er sie gesprochen, das Lächeln, mit dem er sie begleitet, wollten ihr nicht aus dem Sinn. Und wie hatte sie zu Natalia Arkadiewna aufgeschaut!
Aber vielleicht war es nicht wahr. Sie nahm sich vor, mit Natalia Arkadiewna zu reden. Dabei fiel ihr ein, daß sie auch mit Sascha sprechen würde, sprechen müsse. Sie nahm sich vor, ihn um seinen Besuch zu bitten. In Anna Pawlownas Hause wollte sie ihn fragen, wollte sie seine Antwort hören. Oder noch besser, sogleich. Und sie näherte sich ihm.
Sascha saß in einer Ecke und starrte zu der Prinzessin hinüber, die sich in einem eifrigen Gespräch mit der Fürstin und ihrem Vetter befand. Jede ihrer Mienen beobachtete, bewachte er. Wie sie mit diesem feinen, schönen Herrn sprach; ganz anders als mit ihm! Zum erstenmal, seit sie sein geworden, sah er sie mit ihresgleichen verkehren. Nicht ein einziges Mal blickte sie zu ihm herüber, obgleich sie wissen mußte, wie es in ihm aussah, wie er nur Augen und Ohren hatte für sie, wie er nichts dachte und fühlte als sie. Plötzlich war sie ihm entfremdet, ihm entrückt und entrissen. Selbst ihre Bewegungen kamen ihm anders vor, und anders, ganz anders klang ihre Stimme. Vielleicht war sie froh, daß sie sich nicht mit ihm allein befand, nicht seine Küsse dulden, seine Küsse nicht erwidern mußte. Vielleicht stellte sie gerade jetzt, während er sich in Qualen verzehrte, Vergleiche an zwischen ihm, dem Bauernsohn, mit diesen Gliedern, diesem Gesicht, mit solchen groben Gedanken und Empfindungen, mit solcher wütenden Leidenschaft, und dem anderen, Boris Alexeiwitsch.
Er fühlte, wie es in ihm kochte, wie es zu seinem Gehirn drang, wie ein dumpfer Druck sich darauf legte. Er schloß die Augen. Da hörte er dicht neben sich Weras Stimme. Aber er öffnete die Augen nicht. Um keinen Preis der Welt hätte er sie jetzt ansehen können.
»Komm heraus, in den Hof, ich habe dich etwas zu fragen.«
Er wußte sofort, was sie ihn zu fragen hatte, aber er sagte: »Wir können uns nicht von hier fortstehlen; Wladimir Wassilitsch wird gleich kommen. Es sollen wichtige Dinge beraten werden.«
»Wichtige Dinge habe ich dir zu sagen. Also komm.«
Es war ein Ton in ihrer Stimme, dem nicht zu widerstehen war.
Sie trat von ihm fort und verließ nach einer Weile das Zimmer. Da stand auch Sascha auf, warf noch einen Blick auf die Prinzessin und folgte seiner Freundin. Anna Pawlowna, welche die beiden beobachtet hatte, sah ihm mit einem eigentümlichen Blicke nach.
Auf dem Hofe erwartete ihn Wera und ging, ohne ein Wort zu sagen, ihm voraus, dem Schuppen zu. Es war eine finstere Nacht, nur wenige Sterne am Himmel. Sascha war die Dunkelheit lieb, konnte Wera ihm doch nicht ins Gesicht sehen. Während er möglichst langsam hinter ihr herging, legte er sich zurecht, was er ihr sagen wollte. Anna Pawlowna sei eine Göttin und er nicht wert, den Saum ihres Kleides zu küssen. Aber Wera Iwanowna – Was mußte Wera von ihr denken? Von ihr, die er bis in den Himmel erhob?
Da redete sie ihn an: »Sascha!«
»Nun ja, ich bin's. Warum hast du mich herausgerufen? Welcher Unsinn! Du hättest ebensogut drinnen mit mir reden können. Was soll das heißen?«
Er sprach wie in früheren Zeiten; unsicher und stockend. Sie ließ ihn ausreden und begann, als ob er nichts gesagt hätte, von neuem: »Wir haben einander lange nicht gesehen.«
»Es sind einige Tage her. Nennst du das lange?«
»Wo warst du? Doch danach will ich dich jetzt nicht fragen.«
»Und warum nicht? Frage nur.«
»Du wirst mir später alles von selbst sagen.«
»Es ist kein Geheimnis. Ganz Moskau kann es wissen, alle Welt! Ich war – –«
Aber sie unterbrach ihn.
»Schweige! Du würdest mir ja doch nicht die Wahrheit sagen; jetzt noch nicht.«
Und Sascha schwieg. Sie standen nebeneinander in der Finsternis. Beide mußten jener Osternacht gedenken, wo sie vor ihrem heimatlichen Steppendorfe auf der Landstraße beisammen gestanden und Wera ihre Augen angestrengt hatte, in das Gesicht ihres Freundes zu spähen. Aber Sascha blickte von ihr weg nach dem Hause hinüber, das in diesem Augenblick Anna Pawlowna beherbergte. Und er war nicht bei ihr. Was hatte er hier draußen bei Wera zu stehen, wenn sie dort drinnen bei Boris Alexeiwitsch war.
»Wo willst du hin?«
»Ins Haus.« Und er war schon einige Schritte von ihr entfernt.
»Einen Augenblick wirst du wohl noch bleiben können. Ich habe dich seit Wochen täglich erwartet, immer vergebens. Ich wußte, daß du heute hier sein würdest. Hauptsächlich deshalb kam ich.«
Zögernd und widerwillig zurückkommend, meinte er mürrisch: »Sprich nur; aber sprich schnell. Ich muß wirklich hinein.«
»Wir wollen wie gute Freunde miteinander reden, uns beraten und besprechen wie Bruder und Schwester.«
»Du bist sehr gut, du weißt, daß ich dich immer sehr liebgehabt habe; du bist weit besser als ich,« meinte er, nur um etwas zu sagen.
»Laß das,« erwiderte sie herbe. Dann sprach sie mit leiser, weicher Stimme weiter: »Als ich noch in Eskowo war, nicht aus noch ein wußte, meine Hände nicht regen konnte und meine Seele wie tot in mir fühlte, da kamst du zu mir. In der Osternacht kamst du und wecktest mich. Jetzt komme ich zu dir, möchte dich wecken, stehe vor dir und rufe dich an: »Sascha, Sascha! Was ist aus dir geworden?«
»Was soll aus mir geworden sein?«
Wera sprach weiter: »Schon als Kinder waren wir beide getreue Kameraden, zwei recht ehrliche kleine Leutchen. Das waren gute Tage: Weißt du noch? Im Sommer spielten wir zusammen auf der Wiese und im Birkenwäldchen und pflückten Blumen. Sie waren das einzige Schöne in unserem Leben. Anna Pawlowna – – Was hast du? Soll ich still sein?«
»Sprich nur; ich höre.«
»Und Anna Pawlowna war damals schon eine junge Dame und schon damals sehr stolz. Einmal sahen wir sie lachen, als vor ihrem Fenster ein Bauer geprügelt wurde – –«
Sascha fuhr auf: »Das war damals! Jetzt liebt sie das Volk. Sie lügt nicht!« rief Sascha heftig.
»Das war damals,« sprach Wera Sascha nach. »Damals verachtete Anna Pawlowna das Volk, damals hatte sie Lust an seinen Leiden, damals haßtest du sie.«
»Ich, Anna Pawlowna – –«
»Du.«
»Wie ist das möglich? Wie konnte ich so schlecht sein? Ich Anna Pawlowna hassen; sie, die so gut, so stolz, so schön ist! Übrigens solltest du nicht in solcher Weise von ihr reden; wirklich nicht! Du begehst ein großes Unrecht gegen sie. Gerade wie Wladimir Wassilitsch und alle die anderen. Du kennst sie eben nicht. Ich kenne sie und ich – – Ich verehre sie. Das solltest du auch. Wirklich.«
Er stieß jedes Wort mühsam hervor und schwieg wie erschöpft von der Anstrengung, die das Sprechen ihn kostete. Wera wartete eine Weile und nahm dann in ihrer ernsten, eindringlichen Art ihre Rede wieder auf: »Damals kam Boris Alexeiwitsch nach Eskowo; er war hochmütig und gar nicht gut. Mich haßte er, weil – nun, weil ich auch stolz war. Du aber sagtest: Wenn ich ein Mann geworden bin, schütze ich dich vor ihm.« Sie schwieg, nach einer Pause schloß sie leise: »Jetzt bist du ein Mann geworden.«
»Aber Boris Alexeiwitsch tut dir ja nichts,« rief Sascha. »Du mußt wirklich nicht so wunderlich sein. Wovor soll ich dich schützen? Du schützest dich selbst, du bist stark.«
»Nenne mich nicht so!« fuhr Wera heftig auf. »Stark! Als ich noch in Eskowo war und dem Starosten verwehrte, sich mit Branntwein zu betrinken und Ungerechtigkeiten zu begehen, da war ich stark. Als ich in meiner Einsamkeit wartete und harrte, jahraus, jahrein, da war ich stark! Und ich war's, als du kamst und mich ins Leben hinausholtest, allmächtiger Gott, mit welchen Hoffnungen, mit welchem Glauben! Aber jetzt – –«
»Es tut mir weh, dich so reden zu hören,« murmelte Sascha. »Sehr weh tut es mir.«
Da trat sie auf ihn zu, umschlang ihn mit beiden Armen und flüsterte leidenschaftlich, mit ersticktem Schluchzen: »Sascha, mein treuer, lieber Freund, halte jetzt, was du als Knabe versprochen. Schütze mich! Schütze uns beide! Nicht vor der Welt, sondern vor uns selbst. Wir wollen einander helfen, stark zu sein, wir wollen miteinander leiden, zwei treue, ehrliche Kameraden, wie wir es als Kinder gewesen sind. Hilf uns beiden, daß wir – Sascha! Sascha! daß wir nicht beide schlecht werden.«
»Schlecht?« Er löste sich von ihr und trat zurück. »Schlecht?« wiederholte er mit heiserer Stimme. »Wie meinst du das?«
Wera hörte ihn mit Anstrengung Atem holen, sie wußte, was in diesem Augenblick in ihm vorging; aber sie durfte ihn nicht schonen, nicht ihn und nicht sich selbst.
»Ich meine,« sagte sie langsam und beinahe laut, »daß wir beide in Gefahr stehen, hier schlecht zu werden, hier an Leib und an Seele zu verderben; du durch Anna Pawlowna, ich durch Boris Alexeiwitsch.«
Sascha hörte nur den Namen seiner Geliebten. Er durch sie schlecht werden, er durch sie an Leib und Seele verderben! Und Wera war es, die ihm das sagte, Wera Iwanowna aus Eskowo! Er fühlte sich plötzlich von seiner Jugendfreundin durch einen Abgrund geschieden.
»Du weißt nicht, was du sprichst,« erwiderte er kalt.
Wera rief: »Ich weiß, daß wir fremd in dieser Welt sind und bleiben werden. Ich weiß, daß wir mit jenen nichts gemein haben und auch nichts gemein haben können. Ich weiß, daß wenn Anna Pawlowna dich jetzt an ihr Herz nimmt, sie dich über kurz oder lang mit Füßen treten wird. Ich weiß, daß es dir das Herz brechen wird, aber erst, nachdem du zu hassen gelernt, was du jetzt liebst, nachdem du verabscheust, was du jetzt verehrst, erst wenn jedes Gefühl in dir verwandelt und entstellt worden ist.«
Sascha wollte ihr antworten; er wollte ihr sagen, daß er ihr nicht glaubte, daß Anna Pawlowna seine Göttin bleiben werde, daß er ein glückseliger Mensch sei. Aber jemand kam von der Straße her auf den Hof, gewahrte sie und ging auf sie zu. Es war Wladimir Wassilitsch. Er fuhr sie an, was sie draußen zu suchen und miteinander zu tuscheln hätten, und gebot ihnen, mit ihm ins Haus zu gehen. Große Dinge seien geschehen, über dem Haupt des russischen Volkes loderten die Flammen des neuen Tages, blutrot werde die Sonne aufgehen.