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Mehr und mehr arbeitete sich Anna Pawlowna in einen Gemütszustand hinein, der ihr allmählich gefährlich zu werden drohte. Sie durchwühlte ihr Inneres nach Empfindungen, die sie in dem Glauben bestärken sollten, daß sie im Grunde ihres Herzens eine Nihilistin sei. Sie analysierte ihre Gefühle, um den Nerv zu entdecken, der sie mit dem Volke verband. Unbefriedigt vom Leben, in ihrer Frauenehre tödlich beleidigt, suchte sie fieberhaft nach einer Erhebung ihrer ganzen Existenz und glaubte dieselbe mehr und mehr in der Hingebung an eine Sache zu finden, die sich durchaus als das Gegenteil dessen dartat, was ihre gewohnte Umgebung ausmachte. Sie erhitzte ihre Phantasie, denn nur so konnte es kommen, daß sie die Gestalt des Mannes aus dem Volke, durch dessen Liebe sie sich von der erlittenen Schmach reinigen wollte, in einem künstlichen Dämmerlichte, in einer Beleuchtung sah, die sie von Sascha nur das erkennen ließ, was sie selbst von ihm erkennen wollte.
Während sie solchermaßen sich von ihrem ganzen Leben loslöste und sich innerlich für ein vollständig anderes Dasein vorbereitete, fand sie Haltung genug, dem Prinzen in gewohnter Weise gegenüberzutreten. Allerdings sah sie ihn nur bei den Mahlzeiten, zu denen stets Gäste geladen waren. Der Prinz war eifrig mit den Vorbereitungen des Kaiserfestes in seinem Hause beschäftigt, wobei Anna Pawlowna ihm nicht nur keinen stillen Widerstand entgegensetzte, sondern ihm sogar entgegenkam. Übrigens konnte der Termin für die Reise des Zaren nicht bestimmt werden, ehe nicht von allen Seiten Vorsichtsmaßregeln getroffen waren. Man sprach davon, daß über diesen Vorbereitungen der Sommer vergehen konnte. Dem Verlangen des Prinzen jedoch, Natalia Arkadiewna aus dem Hause zu entfernen, widerstrebte Anna Pawlowna auf das entschiedenste. Solange der Prinz in Moskau blieb, mußte die Kammerfrau bei der Prinzessin schlafen, eine Einrichtung, über welche im Palais viel geflüstert wurde.
Ein einziges Mal, kurz vor der Abreise des Prinzen, sprachen die beiden Gatten allein; nur wenige Worte.
»Sie lieben, Madame?«
»Ja.«
»Ihren Vetter, Boris Alexeiwitsch.«
Anna Pawlowna zuckte verächtlich die Achseln.
»Also dann einen andern.«
»Suchen Sie!«
»Das werde ich, und ich werde ihn finden und töten.«
»Oder er Sie.«
Sie wandte ihm den Rücken und ging langsam Zum Zimmer hinaus. Denselben Abend reiste der Prinz fort.
Eine große Erregung bemächtigte sich Anna Pawlownas. Sie blieb mehrere Tage auf ihrem Zimmer und empfing nur Wera, in deren Gegenwart sie ruhiger ward, deren unerschütterliche Entschlossenheit einen starken Eindruck auf sie machte und sie dem Nihilismus näher brachte, als alle ihre Sophistik das vermochte. Die Prinzessin verstand es, das Gespräch jedesmal auf Sascha zu bringen und erfuhr auf diese Weise alles, was sie zu erfahren wünschte. Begierig hörte sie auf Weras enthusiastische Schilderungen. Etwas wie Neid erwachte in ihr, Neid, daß sie bis dahin von einem so reinen Dasein nichts gewußt, nichts mit einem solchen gemein hatte. Unwillkürlich zog sie Vergleiche, durch deren Ergebnis sie sich tief gedemütigt fühlte, denn gerade der Vergleich zeigte ihr die Unsittlichkeit, ja Verworfenheit mancher Zustände, die sie bis dahin gedankenlos, als hergebracht, hingenommen hatte. So kam sie schließlich allen Ernstes dahin, Heil und Rettung für sich und für die Gesellschaft einzig in einer Vereinigung mit dem Volke, in einer Läuterung durch das Volk zu sehen.
Endlich raffte sie sich gewaltsam zu einem Entschlusse auf, durch dessen Ausführung sie die Brücke hinter sich abzubrechen gedachte: sie ließ Sascha sagen, daß sie sich nach ihrem Landhaus in Kunzewo begebe und ihn dort zu sprechen wünsche. Noch in derselben Stunde verließ sie die Stadt, nur von einem Diener und ihrer vertrauten Kammerfrau begleitet.
Kunzewo lag nur neun Werst von Moskau entfernt und war mit der Bahn bequem zu erreichen. Viele vornehme Familien besaßen dort Landhäuser, zierliche Gebäude aus Holzwerk mit schönen Parks. Gärtner und Hausmeister erschraken, als sie die Barina so unerwartet ankommen sahen. Nichts war vorbereitet, doch gab es im Garten eine Fülle von Blumen und das Wetter war köstlich, hell und warm, der Himmel von kleinen weißen Wölkchen bezogen, die von Düften durchströmte Luft berauschend, daß sie zu Kopf stieg wie junger Wein, die Seele mit heißer, süßer Sehnsucht füllend.
Während das Haus geöffnet und in aller Eile für einen mehrtägigen Aufenthalt der Herrin hergerichtet wurde, ging Anna Pawlowna in den Garten. Sie entsann sich des ersten Frühjahrs, das sie in Kunzewo zugebracht hatte. Gleich nach der Trauung war sie mit ihrem Manne angekommen und hatte hier ihre Flitterwochen verlebt. Die Erinnerung an diese Zeit überkam sie, daß sie stehenblieb und beide Hände vor das Gesicht schlug. Übrigens mußte sie sich gestehen, daß ihre Ehe nur durch einen Zufall vor der gewöhnlichen Entwicklung solcher Verbindungen bewahrt geblieben: sie war stolzer als andere Frauen, vielleicht auch kälter. Die Leidenschaft, der sie sich jetzt mit kühler Reflexion hingeben wollte, war etwas so ganz anderes, als alle anderen derartigen Verhältnisse, daß sie ohne Scham daran denken konnte. Andere Frauen wollten glücklich sein – sie wollte beglücken! Immer von neuem legte sie sich ihre Beweggründe zurecht, immer von neuem kam sie zu der Überzeugung, daß ihre Handlungsweise das einzige Mittel sei, ihrem Leben noch einigen Wert zu verleihen.
Wenn er kam – was sollte sie ihm sagen?
Nichts; er liebte sie ja.
Aber er schaute zu ihr auf wie zu einer Gottheit. So würde die Gottheit sich zu ihm herabneigen müssen.
Sie stellte sich dabei sein Gesicht vor, ein so strahlendes, von Glück verklärtes Menschenantlitz!
Anna Pawlowna schloß die Augen und stand so lange Zeit, das Haupt der Sonne zugewendet. In tiefen Zügen atmete sie die Frühlingsluft ein; eine nie gekannte Empfindung von Ruhe und Sicherheit überkam sie. Dabei fühlte sie mit einer Art von seligem Schreck, wie jung sie noch immer war und wie das Leben noch vor ihr lag. Sie brauchte es nur zu erfassen.
Als sie die Augen wieder öffnete, erschien ihr alles schöner, reicher, strahlender. Mit Entzücken sah sie, wie die Sonne die jungen Blättchen durchleuchtete, daß sie gleich Smaragden an den Bäumen glänzten; wie am Himmel das goldige Gewölk zerflatterte; wie die Schwalben hin und her schossen, bald mit der weißen Brust die Erde streifend, bald hoch durch die Lüfte fahrend; wie an den bunten Blumen gelbe und weiße Schmetterlinge hingen, Bienen und Käfer alles Blühende umsummten.
Dann pflückte sie Narzissen und violette Krokus und steckte sie sich an die Brust und ins Haar.
Nun ging sie ins Haus.