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Vierundzwanzigstes Kapitel

Jeden Abend sang Tania in dem Tingeltangel des Herrn Dimitri Sassinow Volkslieder und jeden Abend war der Saal überfüllt. Wladimirs Geliebte war der Liebling von ganz Moskau geworden, in ganz Moskau sang man die Lieder der Bäuerin Tania, auf den Gassen, in den Schenken, in den Salons. Es gehörte zum guten Ton, daß selbst Damen der besten Gesellschaft den Tempel des Herrn Sassinow besuchten, um die Bäuerin Tania singen zu hören. Ihr Auftreten bildete auf der Spezialitätenbühne das Ereignis des Abends; und Abend für Abend erschien sie wie beim ersten Mal. Sie grüßte nie, stand fast im Hintergrund, sah vor sich nieder; und wenn im Hause der Sturm sich gelegt hatte, begann sie zu singen, niemals sehr laut. Es herrschte während ihres Gesanges stets dieselbe Stille, welcher stets derselbe Aufruhr folgte; das Publikum konnte sich nicht satt hören, und Tania mußte singen und singen. Selbst die Pariser Chansonettensängerin und die Künstler und Künstlerinnen auf dem Trapez vermochten gegen die Bäuerin aus Eskowo nicht aufzukommen.

Wladimir hielt Wort; er wich nicht von Tanias Seite. Nie wieder durfte sie in jenem abscheulichen Saal warten, bis an sie die Reihe kam. Herr Sassinow hatte für sie ein eigenes Kabinett herstellen lassen, in das nicht einmal diese moralische Persönlichkeit Zutritt erhielt. Zum erstenmal in seinem ereignisvollen Leben geschah es Herrn Sassinow, daß er nicht wußte, was er davon halten sollte? Die junge Person, die noch dazu die Geliebte eines verbummelten Studenten war, schien in der Tat tugendhaft zu sein, in der Praxis des Herrn Sassinow ein so unerhörter Fall, daß dieser erfahrene Spezialist sich einem Problem gegenüber befand, welches für seinen Verstand unlösbar war. Alle Aufforderungen, alles Drängen seiner zahlreichen Kunden, bei der delikaten Angelegenheit den freundlichen Vermittler zu machen, wies Herr Sassinow mit einem schwermütigen Kopfschütteln, einem Achselzucken, einem schmerzlichen Seufzer zurück.

Als der Monat sich seinem Ende näherte, wollte Herr Sassinow mit Wladimir für den nächsten Monat abschließen – für eine ganze Reihe von Monaten! Doch Wladimir mochte nicht. Herr Sassinow bot das Doppelte und glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als Wladimir auch die doppelte Summe ablehnte. Herr Sassinow bot also das Dreifache und wurde, als Wladimir eisig blieb, in einer Weise grob, wie er es in seinem ganzen Leben noch nicht geworden war. Als selbst dieses nichts half, brach Herr Sassinow in Tränen aus. Das Brüderchen sollte ihn doch nicht ruinieren! Aber das Brüderchen schien nichts lieber zu tun.

Wladimir befand sich, solange Tania auf der Bühne stand, jedesmal in einem solchen Grade von Erregung, als müßte er seinen Verstand verlieren und dieser Zustand steigerte sich von Abend zu Abend. Diese Schaustellung seiner Geliebten war ihm eine Prostituierung derselben. Von seinem Platz hinter den Kulissen aus konnte er sehen, wie sich hundert Augengläser auf Tania richteten und nicht von ihr abließen. Mit seiner zerrütteten Einbildungskraft stellte er sich vor, wie sie von allen diesen Blicken gemustert wurde, wie an ihr Glied für Glied von diesen Blicken gewissermaßen betastet und entkleidet wurde, bis sie zuletzt nackt und bloß in ihrem ganzen Liebreiz vor den Augen aller der Begehrlichen stand. Dann mußte er sich gewaltsam zurückhalten, daß er nicht vorstürzte um Tania von ihren Schändern fortzureißen. Wäre er nicht schon für sie bezahlt worden, er würde sie für keinen Preis länger haben auftreten lassen; hätte er die Mittel besessen, er würde Herrn Sassinow das Dreifache der empfangenen Summe vor die Füße geworfen und sie mit sich genommen, sie irgendwo versteckt, sie lebendig begraben haben.

So kam es, daß Wladimir in seinem Haß gegen alles, was nicht »Volk« war, jedes Maß überschritt, und daß ihn schließlich eine wahrhaft neronische Vernichtungswut ergriff. Hatte er Tania, ohne ihr ein Wort zu gönnen, nach Hause gebracht, so lief er zu Sascha, um zu inspizieren, wie dieser vorwärts kam; oder er ruhte bei Natalia aus, sich gemeinsam mit dieser Fanatikerin an wahnsinnigen Vorstellungen von einer Vernichtung alles Bestehenden, an Visionen von Massenmorden berauschend. Oder er hielt mit dem Exekutivkomitee Versammlungen ab, die nachts auf freiem Felde, mitten auf der winterlichen Steppe stattfanden. Denn die Verschworenen glaubten nicht genug Sicherheitsmaßregeln treffen zu können, welche sie vermehrten und steigerten, je näher die Katastrophe heranrückte. Wenn Wladimir den Palast Anna Pawlownas betrachtete – und er umschlich ihn stundenlang – so sah er ihn bereits in rauchenden Trümmern liegen; wenn er die Prinzessin mit ihrem neuesten Liebhaber oder irgendeinem anderen von »jenen« erblickte, so mußte er denken, du gehörst gleichfalls zu denen, die wir zerreißen werden! Nur eins tat ihm leid, daß er nicht auch das Kunstinstitut des Herrn Sassinow in die Luft sprengen konnte, wenn alle jene es füllten, die seine Geliebte reizend fanden und ihren Gesängen Beifall zujauchzten.

Während sein Geist unter diesen Gewalten stand, bereitete er sich vor, von Tania und ihrem Sohn zu scheiden, für ewig sich von diesen beiden zu trennen. Denn mehr und mehr schwand ihm die Hoffnung, bei dem Putsch mit dem Leben davonzukommen, in dem Fall wenigstens, daß die Mine mit einer Lunte entzündet werden mußte, was durchaus wahrscheinlich, was ziemlich gewiß war. Es schien ihm überflüssig, für eine andere Möglichkeit Sorge zu tragen. Sollte er indessen am Leben bleiben, so war alles ins Werk gesetzt, um mittels der Pässe der Fürstin ohne diese Dame ins Ausland zu fliehen.

Wenn Wladimir gegen Morgen zurückkam, fand er immer weniger den Mut, sich ins Haus zu begeben. Er sah in dem Zimmer das Licht brennen, und er stand draußen in der grauen Dämmerung, bei grimmiger Kälte und starrte zu dem Lichtschein hinauf. Er wußte, drinnen saß Tania und wartete auf ihn; er bildete sich ein, ihre Stimme zu hören, und fühlte die Versuchung, ins Haus zu stürzen, sein Weib und seinen Knaben an die Brust zu reißen und mit ihnen leben zu bleiben.

Aber mit einem Ächzen riß er sich vom Anblick des Lichtes los, schlich hinein in die Kammer, wo Natalia Arkadiewna ihn erwartete; den Terroristen die Terroristin, die so lange leben bleiben wollte, bis sie mit ihm sterben konnte, und die Tag und Stunde zählte, bis ihre toten Glieder sich mit den seinigen vereinigen würden.

Als Colja erfuhr, wohin Wladimir sich Abend für Abend mit Tania begab und was dort geschah, ging er schweigend aus dem Zimmer und weinte bitterlich; weder zu Tania noch zu Sascha sprach er ein Wort von der Sache. Eines Abends mußte Wladimir notwendig das Komitee aufsuchen und sich daher entschließen, Tania einmal nicht zu begleiten. Statt seiner sollte Colja gehen und Natalia bei dem Kinde bleiben. Als Wladimir jedoch dem Knecht die Mitteilung machte, weigerte sich Colja entschieden zu gehorchen; Wladimir wurde wütend und schlug ihn, was Colja sich gefallen ließ, ohne eine Miene zu verziehen. Aber begleiten wollte er das Täubchen nicht, Wladimir konnte sein wichtiges Vorhaben nicht ausführen und Colja blieb zu Hause.

Auch sonst verursachte Colja seiner Gebieterin seit kurzem viel Kummer. Colja hatte Geheimnisse vor ihr; Tanias getreuer Colja Geheimnisse! Wenn das möglich sein konnte, was in der Welt wäre dann nicht möglich gewesen?! Tania wußte es auch nicht. Aber Tania beobachtete Colja und Tania blieb dabei, daß es nichts gab, was unmöglich gewesen wäre; denn Colja hatte Geheimnisse. Jede Nacht – sie wußte es ganz genau – schlich er sich fort, kam erst gegen Morgen zurück, war den Tag über verschlafen und mürrisch und hatte selbst für Tanias Knaben nur Murren und Gebrumm. Es war ihm ganz gleich, ob das Kerlchen ihn tüchtig an seinem Zottelbart packte; das Kerlchen mochte daran zerren und reißen, so mächtig es konnte, Colja lachte nicht mehr darüber.

Diese völlige Umwandlung ihres Getreuen kostete Tania viele Tränen. Colja sah es ruhig mit an, zwinkerte wohl mit den Augen, blieb jedoch der verdrießliche, mürrische Colja. Was sollte er tun? Er hätte es dem Täubchen ja doch nicht sagen können, daß er, Colja, sich seit kurzem auf das Nachdenken verlegt hatte; niemand würde es ihm geglaubt haben.

O, es war ein kluger Colja! Keiner sagte ihm etwas, und er wußte alles. Er wußte, daß das große Grab bald fertig sei und daß nächstens Begräbnis war. Es konnten drei und fünf Tote – es konnten drei- und fünfhundert sein. Ferner wußte er, daß der Faden vermutlich nicht brennen würde, daß man vermutlich mit einer Lunte anzünden mußte und daß derjenige, der das tat, dabei umkam. Und dieser kluge Colja wußte, wer hinabsteigen wollte, um auf ein Zeichen die Fünfhundert in die Luft zu sprengen, die Fünfhundert und sich selbst. Aber Colja hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß ein anderer die Sache tun müßte. Und zwar mußte es einer sein, um dessen Tod dem Täubchen das Herz nicht brach. Sie sollte leben bleiben! Denn sie sollte über ihren Knaben lachen, wenn dieses Wunderkind seine Kapriolen aufführte. Sie sollte aber auch weinen um einen, der sie geliebt hatte und der für sie gestorben war, der sich aus der Welt geschlichen hatte, aus der wunder-, wunderschönen Welt, in welcher Tania und ihr Knabe zurückblieben. Sie sollte um ihn weinen, ihn dann vergessen und glücklich sein.

Und dieser merkwürdige Colja grübelte noch etwas anderes aus. Er hatte gehört, daß jene sterben müßten, weil sie die »Feinde« des Volkes wären. Die Feinde des Volks – – Colja kam auf ganz wunderliche Gedanken. Wie, wenn man zuerst diejenigen aus der Welt schaffte, die sich die Freunde des Volks nannten? Was wollten sie eigentlich? Solange das russische Volk geknutet worden war, hatte es sich ganz wohl befunden; aber als man aufhörte, das Volk als »Seelen« zu betrachten, stand es da wie einer, der etwas verloren hatte und der nun suchte und suchte. Gar zu gern hätte Colja gewußt, was die Freunde des Volks dem Volke eigentlich zu schenken gedachten? Soviel Colja auch sann, darauf kam er nicht, daß die Freunde des Volks diesem mit Gewalt zu Seelen verhelfen wollten.

Kurze Zeit vor Ostern vernahm man in Moskau, daß der Zar seine Reise angetreten hatte, mit einem großen Gefolge, unter dem auch Prinz Petrowsky genannt wurde. Über die näheren Dispositionen der kaiserlichen Reise verlautete nichts, ebensowenig wie die Route bezeichnet war, die der Zar durch sein Reich zu nehmen gedachte. Doch nahm man für sicher an, daß der Monarch zu Ostern in Moskau sein würde; wenigstens sollte am ersten Ostertag im Palast Petrowsky ein Fest stattfinden, zu welchem der ganze Adel der Stadt Einladungen erhielt. Es wurde erzählt, daß Anna Pawlowna den Palast vom Keller bis zum Boden hatte untersuchen lassen, daß man indessen nicht das geringste Verdächtige gefunden, daß jedoch das Haus trotzdem Tag und Nacht polizeilich bewacht würde.

Auch sonst wurden die Nachforschungen nach nihilistischen Umtrieben mit neuem Eifer betrieben; um Bahnhof und Kreml wurden vollständige lebendige Ketten gezogen, der zehnte Mann in Moskau war ein Spion oder Geheimpolizist, wiederum fanden massenhaft Gefangennehmungen statt. Aber man entdeckte nichts.

Auch nach Sascha und Wera wurde gefahndet, Wladimir mußte sich bei Tag und Nacht in der geheimen Druckerei verborgen halten, und Natalia entging einer schweren Haft lediglich durch das Zeugnis des Arztes, welcher die Erklärung abgab, daß ihr Leben nur noch nach Tagen zählte. Auf Tania fiel kein Verdacht, ebensowenig auf Colja; geradesogut hätte man einen Hofhund oder Blödsinnigen anarchistischer Umtriebe wegen verhaften können.

So rückte Ostern heran. Der Zar sollte in der Tat an diesem Tage eintreffen; aber die Stunde seiner Ankunft ward so streng geheimgehalten, daß sogar die Spione des Exekutivkomitees sie nicht zu erfahren vermochten. Wahrscheinlich würde der Zar sich erst den Bewohnern Moskaus zeigen, wenn er nach dem Palast Petrowsky fuhr; denn es blieb dabei, daß das Fest in der heiligen Osternacht stattfinden sollte und daß Anna Pawlowna zu demselben den Kaiser erwartete.

Nach langer, langer Finsternis dämmerte endlich der Morgen auf, der für das russische Volk den Tag bringen sollte. Wladimir begrüßte den ersten fahlen Lichtschein dieses Tages, welcher für ihn der letzte sein sollte, in tiefer Ergriffenheit. Er hatte die ganze Nacht über in der Druckerei gesessen und geschrieben; dann begab er sich ins Haus zu den Seinen.


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