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Zweites Kapitel

Die Kammerfrau wollte die Vorhänge zuziehen und Licht anstecken; aber die Prinzessin befahl, beides zu unterlassen. Um zehn Uhr kam der letzte Zug von Moskau, mit diesem würde der Erwartete bestimmt eintreffen. Sie konnte seine Ankunft auf die Minute voraus berechnen.

Der Himmel hatte sich bezogen, ein feiner, warmer Regen stäubte herab. Anna Pawlowna warf einen Schleier über den Kopf und begab sich wieder ins Freie, um Sascha entgegenzugehen. Sie war ganz ruhig, und ihr Herz schlug nicht stärker als sonst. Diese Wahrnehmung erstaunte sie selbst.

Sollte ich bereits mit allen Empfindungen fertig sein, ehe ich überhaupt nur empfunden? fragte sie sich selbst und fühlte eine Art von Enttäuschung darüber, daß sie nicht heftiger bewegt war.

Es war ein Frühlingsabend, wie man ihn nur in Rußland erleben kann. Selbst dem Boden schien Duft zu entströmen; in dem matten Dämmerlicht behielt alles seine Farbe, nur gedämpfter, tiefer schattiert. Zwischen den Rabatten und Beeten schlängelten sich die mit Kies bedeckten Wege wie silberhelle Bäche dahin, bis sie in den Finsternissen des Parkes verrannen. Vom Regen beschwert, beugten die Blumen ihre Kelche nieder, und wenn ein Luftzug durch die Bäume strich, sprühte es, leise rauschend, herab.

Jetzt mußte er kommen.

Denselben Augenblick sah sie ihn. Um den Umweg, den die Straße machte, abzuschneiden, kreuzte er eine Wiese. Er lief fast.

Er wird ganz naß werden. Wie unverständig!

Mitten im Wege blieb sie stehen, ihr Gesicht ihm zugewandt. Er war noch zu entfernt, um sie erkennen zu können; wie hätte er sie auch dort vermuten sollen! Während Anna Pawlowna ihn erwartete, beobachtete sie sich.

Sie blieb ruhig.

Jetzt öffnete er die Gartentür – das Schloß wollte gar nicht aufgehen! Unter seinen schweren, hastigen Schritten knirschte der Kies. Nun erkannte er sie. Er schien betroffen, er kam zögernd näher; gewiß machte er ein äußerst erstauntes Gesicht.

Der Gedanke daran war ihr in einer Weise unangenehm, daß sie sich abwandte, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Und plötzlich begann ihr Herz zu schlagen, daß es sie wie ein heftiger Stich durchfuhr, plötzlich überkam sie eine Unruhe, eine Angst. Da war er schon neben ihr.

»Ich erhielt Ihre Nachricht so spät, ich hatte so viel zu tun. Glücklicherweise kam ich noch zur rechten Zeit zur Bahn. Wie gütig von Ihnen, mir zu schreiben. Es ist hoffentlich nichts vorgefallen, Sie sind wohl?«

»Ich wollte Sie sehen, ich habe mit Ihnen zu reden.«

»Es ist hoffentlich nichts vorgefallen?« wiederholte er angstvoll. Er sah sie an und erkannte, daß ihre Wangen gerötet waren. Sie hat geweint, dachte er und erschrak, daß es ihm den Atem versetzte.

»Es ist vieles vorgefallen,« erwiderte Anna Pawlowna mit fester, lauter Stimme, auf ihre eigenen Worte lauschend. »Ich habe erkannt, wie die Menschen sind und wie Sie sind. Ich bin von Ekel ergriffen worden. Ich würde am liebsten aufhören zu leben, so fühle ich mich von allem angewidert, so – –«

Aber er unterbrach sie.

»Sie sind unglücklich! Sie möchten sterben! So jung, so gut, so schön! Das ist nicht möglich.«

Er stand vor ihr, sie voller Entsetzen anblickend, bebend, totenblaß.

»Das ist nicht möglich, nicht möglich!« murmelte er in einem fort, mit zitternden Händen seinen Rock auf- und zuknöpfend. »Wie kann so etwas möglich sein? So jung, so gut, so schön!«

Große Tränen traten ihm in die Augen und rannen langsam seine Wangen herab. Er achtete erst darauf, als Anna Pawlowna in einem ganz eigentümlichen Ton ihn fragte: »Sie weinen? Weinen Sie um mich?«

Hastig wandte Sascha sich ab, etwas Unverständliches stammelnd. Er mußte an Marja Carlowna denken, die auch so schön und so unglücklich war, um die er auch geweint hatte. Freilich, jene war schlecht! schlecht! schlecht! Und er schämte sich seiner um sie vergossenen Tränen. Denn wenn er schon um Marja Carlownas Schicksal geweint hatte, was sollte er dann tun, wenn Anna Pawlowna so vor ihm stand, mit einem solchen Gesicht! Wenn Anna Pawlowna zu ihm sprach, mit einer solchen Stimme: »Ich bin unglücklich und ich möchte am liebsten aufhören zu leben.«

Er stöhnte laut auf.

»Sie weinen um mich,« wiederholte die stolze Frau leise. Und noch leiser setzte sie hinzu: »Sie, der Sie mich retten können.«

»Ich?«

Es klang wie ein Schrei.

»Begreifen Sie denn nicht, sehen Sie denn nicht – –«

Aber er begriff nichts, er ward von Schwindel erfaßt. Er sah nichts; wie dichter Nebel legte es sich vor seine Augen. Durch alle seine Sinne klang und tönte es: sie möchte sterben und ich kann sie retten. Ich, ich!

»Kommen Sie ins Haus,« hörte er sie endlich sagen, wiederum mit jenem Ton in der Stimme, der ihn erbeben machte bis in sein tiefstes Herz hinein. Gleich einem Berauschten ging er neben ihr dem Hause zu. Es war ihm, als sproßten vor ihr am Wege Blumen auf, als bedeckte sich die ganze Erde mit Blüten. Waren plötzlich am Himmel Sonnen aufgewirbelt oder sonst Wunder geschehen, es hätte ihn nicht in Erstaunen versetzt; denn: diese Stimme, dieser Ton! Und daß er sie sollte retten können – –

Auch Anna Pawlowna fühlte, daß sich etwas Großes in ihrer Seele vollzog.

Sollte ich ihn wirklich lieben können? dachte sie und erschrak beinah über das, was sie bei dieser Vorstellung empfand. Ich würde ihn überreich machen, ich würde an ihn verschwenden, ich würde – – Aber das ist ja Tollheit! Tollheit! Mein Gott, wenn es doch möglich sein könnte, wenn ich doch noch glücklich würde; für eine Stunde, einen Augenblick, einen Atemzug glücklich – –

Und sie hätte in dieser Stunde für einen solchen Augenblick ihr Leben gegeben.


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