Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der bedeutendste und ernsteste der Sophisten steht auch der Zeit nach an ihrer Spitze. Es ist Protagoras – der Name bedeutet: »Der erste auf dem Markte« –, um 485 bis 480 in demselben Abdera geboren, das auch des etwas jüngeren Begründers der Atomistik Heimat war. Aber den anders gearteten, ehrgeizigen Protagoras zog es ins öffentliche Leben hinein, zu Ruhm und Erwerb. Er wurde »Sophist« und begann etwa vom dreißigsten Jahre ab ein unstetes Wanderleben, das ihn besonders oft nach Athen führte, wo er, in den angesehensten Kreisen gern gesehen, ja hoch verehrt ward und darum öfters auf längere Zeit verweilte. »Wir bewunderten ihn wie einen Gott wegen seiner Weisheit,« läßt Plato, obwohl sein Gegner, in seinem Dialog Theätet den Sokrates von ihm sagen. Insbesondere gewann unser Sophist die Gunst des Perikles, der ihn 443 mit dem Auftrage betraute, für die einzige von Athen gegründete und aus allen Griechenstämmen besiedelte Kolonie Thurioi in Unteritalien Gesetze zu entwerfen, ähnlich wie der liberale Philosoph John Locke zwei Jahrtausende später die Verfassung für die neue nordamerikanische Kolonie Süd-Carolina erdachte. In Thurioi hat er dann wohl mit dem Erbauer der Stadt, Hippodamos, mit dem Geschichtsschreiber Herodot und dem uns bekannten Naturphilosophen Empedokles verkehrt. Später nach Athen zurückgekehrt, erlebte er noch seines Gönners Perikles Unglück und Tod. Aber auch er selbst sollte von Verfolgungen wegen seiner freien Gesinnung getroffen werden. Er hatte in seiner Schrift »Ueber die Götter« gleich zu Anfang den kühnen Satz auszusprechen gewagt: »Bezüglich der Götter bin ich nicht imstande, zu wissen, daß sie existieren, noch daß sie nicht sind; denn vieles hindert, das zu wissen: die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens.« Trotz des vorsichtigen Ausdrucks, der eigentlich nicht den Götterglauben angriff, sondern nur die Möglichkeit ihrer sicheren Erkenntnis bezweifelte, wurde ihr Verfasser von einem der aristokratischen Vierhundert – entweder im Jahre 411 oder 415 – angeklagt und die bereits herausgekommenen Exemplare seiner Schrift (er soll sie im Hause seines Freundes, des Dichters Euripides, haben vorlesen lassen) durch Staatsbeschluß auf öffentlichem Markte verbrannt. Auf der Flucht nach Sizilien erlitt Protagoras, wie es heißt, Schiffbruch und fand dabei seinen Tod. Er wurde so, nach Anaxagoras, das zweite Opfer seiner philosophischen Ketzerei.
Leider sind über Protagoras zwar viele unzuverlässige Einzelnachrichten, aber von seinen Schriften selbst kaum zwanzig Zeilen überliefert; und der beste Berichterstatter über ihn, Plato, in seinem Dialog Protagoras und (über seine Lehre) im »Theätet«, ist philosophisch sein Gegner. Für seinen Unterricht forderte der berühmte Mann hohe Honorare, stellte es jedoch den Schülern, die sich überfordert meinten, anheim, durch eine eidlich im Tempel abgegebene Erklärung sich selbst einzuschätzen.
Seine Schriften bezogen sich, den uns fast allein erhaltenen Titeln zufolge, vorzugsweise auf ethische Dinge, nebst den verwandten Gebieten der Erziehung, Rechtswissenschaft und Politik. Ein unleugbares Verdienst erwarb sich der vielwissende Sophist als erster Begründer der Grammatik, indem er in seiner Schrift »Ueber die Sprachrichtigkeit« die Bedeutung der Modi, des verschiedenen Geschlechts der Hauptwörter und ähnliche Fragen behandelte und in seiner Kritik auch vor dem glänzenden Namen Homers nicht zurückscheute. Von der Erziehung meinte er, daß die Lehre der Naturanlage und der Uebung bedürfe, und daß man von jung auf lernen müsse. »Es gibt weder eine Technik ohne Studium noch ein Studium ohne Technik«, und: »Nicht sproßt Bildung aus der Seele, wenn man nicht in große Tiefe dringt.«
Auch mit Rechtsfragen scheint sich Protagoras gern beschäftigt zu haben, wie ja auch die haarspaltenden Athener es liebten. Mit Perikles soll er sich einmal einen ganzen Tag lang über die Frage gestritten haben: wer für eine bei einem Kampfspiel erfolgte unabsichtliche Tötung eines der Kämpfenden zu bestrafen sei, der Veranstalter des Spiels, der Schleuderer des Wurfspießes oder – der Wurfspieß selbst! In der Politik scheint er zwar Demokrat, jedoch durchaus kein Umstürzler gewesen zu sein. Wenigstens erscheinen ihm in dem Mythos (Sage), den Plato in dem nach ihm benannten Dialog ihn vortragen läßt, Sitte und Recht als die unentbehrlichen Stützen der Gesellschaft.
Nun aber zu dem Hauptsatze von Protagoras' Philosophie. Er fand sich gleich zu Anfang seiner von der menschlichen Erkenntnis handelnden Schrift, die den selbstbewußten und polemischen (»kriegerischen«) Titel: »Die Niederwerfenden« (nämlich Reden) trug, und lautete: » Der Maßstab aller Dinge ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.« Man hat bis in die neueste Zeit viel darüber gestritten, wer unter » der Mensch« zu verstehen sei: ob der Mensch als Gattung (wie namentlich Laas und Gomperz, die dem Protagoras nahe stehen, meinen), oder der Mensch als Individuum (Einzelperson) mit seinen wechselnden Vorstellungen und Empfindungen, wie schon Plato in seinem Theätet es aufgefaßt hat und in unserer Zeit der verdienstvolle Geschichtsschreiber der griechischen Philosophie Eduard Zeller und Paul Natorp. An sich ist natürlich beides möglich, ja auch beide Auffassungen in demselben Menschen miteinander vereinbar. Denn wenn Th. Gomperz für seine, die »generelle«, Auffassung das Goethe-Wort anführt: »Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, erwägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist«, so kann man dem mit Ueberweg-Prächter zwei andere, »individuelle«, Aussprüche Goethes entgegenhalten: »Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist,« und: »Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so nenne ich's Wahrheit; und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.«
Sachlich haltbar ist nach unserer Ansicht nur die erste, die generelle Auffassung, die überhaupt nach unserem Urteil die notwendige Voraussetzung aller, insbesondere der idealistischen, Philosophie bildet; » der Mensch« wäre dann ungefähr so viel als die menschliche Vernunft. Allein man kann natürlich auch Gründe für die andere, die individuelle, Auffassung beibringen. Man kann sagen: Jede Vorstellung besitzt nur bedingte Wahrheit, nämlich für den betreffenden wahrnehmenden Einzelnen unter den Bedingungen seines jedesmaligen Wahrnehmens. Dem Kranken erscheinen z. B. manche Dinge anders als dem Gesunden, dem Laien als dem Fachmann, und so fort in tausend Fällen. Eine allgemeingültige Wahrheit, eine Wissenschaft ist freilich für denjenigen, der diese Auffassung folgerecht zu Ende denkt, unmöglich. Aber verteidigt worden ist sie oft genug, so noch neuerdings von dem »Pragmatismus« des Amerikaners James oder dem »Humanismus« (weil eben auf das für den einzelnen Menschen [homo] Fruchtbare sich beziehend) des Engländers Schiller, der seine auf Protagoras zurückgehende Meinung lebhaft auf dem Internationalen Philosophen-Kongreß zu Heidelberg 1908 verfocht.
Eine solche Lehre wäre dann vollendeter »Relativismus« und, insofern er sich auf die sinnliche Wahrnehmung als einzige Erkenntnisquelle stützt, »Sensualismus« (über die beiden Ausdrücke vgl. unsere »Einführung«, Band 1 der »Philosophie«). Vorgebeugt hat Protagoras einer solchen Auffassung seiner Ansicht jedenfalls nicht. Vielmehr sprechen dafür die wenigen von ihm in dieser Beziehung überlieferten Sätze. So meinte er: »Von jeder Sache gibt es zwei einander widersprechende Auffassungen«, die beide gleich berechtigt sind. Ja, die Redekunst kann die minder zutreffende als die stichhaltigere hinstellen, »die schwächere Sache zur stärkeren machen«. Und sogar die exakteste (zuverlässigste, genaueste) aller Wissenschaften, die Mathematik, hält solchem Zweifel in seinen Augen nicht stand, da er deren reine Linien, Kurven usw. in der »Wirklichkeit« vermißte: »Die sinnlich wahrnehmbaren Linien sind nicht von der gleichen Art wie die, von denen der Mathematiker redet. Es ist nichts sinnlich Wahrnehmbares in dieser Weise gerade oder rund.«
Mit dem recht bedenklichen, im schlimmen Sinne advokatenhaften Grundsatz, daß Redekunst die schwächere Sache zur stärkeren zu machen imstande sei, hing es zusammen, daß Protagoras seine Schüler zur Ausfechtung von »Redekämpfen« in der Volksversammlung und vor Gericht tüchtig zu machen suchte, also zur Schlagfertigkeit in der Debatte anleitete. Natürlich suchte er ihnen – denn unsolide war er nicht – auch die dazu nötigen sachlichen Kenntnisse beizubringen; er vergleicht einmal Gebildete und Ungebildete mit Gesunden und Kranken. Und sein Ziel blieb die geistige und sittliche Ausbildung des einzelnen. Aber der Nachteil solcher Grundsätze scheint uns doch größer als der Vorteil.
Protagoras sammelte, wie schon angedeutet, eine zahlreiche, ihn begeistert verehrende Schar von Schülern um sich, von denen jedoch nur der Mathematiker Theodoros von Kyrene sich einen bekannten Namen erworben hat. Auf religiösem Gebiet ging noch radikaler als Protagoras der Dichter Diagoras von Melos vor, der sich mit dem Holze eines Bildes des »heiligen« Herakles sein Gemüse kochte mit der spöttischen Bemerkung, das sei die »dreizehnte« von dessen bekannten (zwölf) »Arbeiten«, und auf dessen Kopf wegen Verspottung der Mysterien von der athenischen Behörde ein Preis von einem Talent (etwa 5000 Mark!) gesetzt war.
Noch weiter in der Anzweiflung aller allgemeingültigen Wahrheit, d. h. Wissenschaft, als Protagoras gingen
und seine Schüler
An einem Sommertage des Jahres 427 vor Christus, als bereits vier Jahre des peloponnesischen Krieges vorüber waren, gab es in der athenischen Volksversammlung, die auf der »Pnyx«, dem in Terrassen sich abstufenden Westabhang des Burgberges, der Akropolis, abgehalten wurde, mehr Aufregung als sonst. Als Sprecher einer Gesandtschaft der ostsizilischen Kleinstadt Leontinoi trat der glänzendste Redner der Zeit auf, um die Hilfe Athens gegen die übermächtige Nachbarin Syrakus zu erbitten. Es war Gorgias, der – um oder vor 480 geboren – bereits zahlreiche Redetriumphe an anderen Orten gefeiert hatte und nun auch in dem für solche Dinge sehr empfänglichen Athenervolke zahlreiche Bewunderer und Anhänger gewann. Als echter Sophist ließ er sich nirgends dauernd nieder, kam aber jedenfalls mehrmals nach Athen. Seine letzte Lebenszeit brachte er an dem Hofe des Fürsten Jason von Pherä in Thessalien zu. Dort soll er, unvermählt geblieben, in einem Alter von mehr als hundert Jahren gestorben sein, mit dem gelassen ausgesprochenen Scherzwort auf den Lippen: »Schon beginnt der Schlaf mich seinem Bruder (dem Tode) zu überantworten.«
Gorgias liebte es, im Purpurgewande und mit großem Prunke aufzutreten. Er hat auch zweimal vor riesigen Festversammlungen in Delphi und Olympia gesprochen, während er zu Athen eine feierliche Grabrede zu Ehren der im Kriege Gefallenen hielt. Er stiftete sich selbst eine goldene Bildsäule in Delphi; eine andere, von seinem Großneffen ihm zu Ehren in Olympia aufgestellte, verkündete in ihrer Aufschrift der Nachwelt, daß »keiner der Sterblichen eine schönere Kunst ersonnen« habe, »um die Seele für die Leistungen der Männertugend zu stählen«.
Die hier gemeinte Kunst ist die Redekunst. Denn, wenn Gorgias sich auch, wahrscheinlich in seinen jüngeren Jahren, mit der Naturphilosophie, namentlich Optik, seines Landsmannes Empedokles abgegeben hat – ein hinterlassenes Fragment gibt eine Begriffsbestimmung der Farbe, ein zweites bezieht sich auf Versuche mit dem Brennspiegel –, so war doch sein eigentliches Gebiet die Redekunst und die Lehre von ihr, die Rhetorik. Als Rhetor (Redelehrer) erscheint er denn auch in dem großen (aber unhistorischen) platonischen Dialoge, der nach seinem Namen genannt ist. War doch das Ursprungsland dieser Kunst, wie wir bereits bei Empedokles (Kap. V) sahen, seine sizilische Heimat. Namentlich groß war Gorgias in der Prunkrede, die er mit allen möglichen Kunstmitteln zu einem, allerdings denn auch häufig recht »gekünstelten«, Kunstwerk auszubilden suchte, dessen Hauptzweck darin bestand, in dem Hörer oder Leser »eine Ueberzeugung hervorzurufen«; weshalb Kant in seiner Kritik der Urteilskraft die Rhetorik eine »hinterlistige Kunst« nennt, welche »sich der Schwächen der Menschen zu ihren Absichten zu bedienen« und dieselben »als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß (S. 194, Anm. meiner Ausgabe).
Zwei solcher Reden, eine Rettung der schönen Helena gegen den Vorwurf, daß sie sich von Paris ihrem Gatten Menelaos habe entführen lassen, und eine Verteidigung des alten Sagenhelden Palamedes gegen den Vorwurf des Verrats der Griechen an die Troer, also in beiden Fällen der griechischen Heldensage entnommene Schulbeispiele, sind noch erhalten. Bei Helena bewährt sich das Naturgesetz, daß das Schwächere dem Stärkeren unterliegt, denn sie unterlag entweder göttlicher Schicksalsfügung oder dem Zwange der Gewalt oder der Ueberredungskunst ihres Entführers oder der Liebe. Der »Palamedes« gab ihm Gelegenheit, seine Anschauung von der Entstehung der menschlichen Kultur durch die Erfindungen bedeutender Männer zu entwickeln. Er beschäftigte sich auch mit der Hervorrufung der Illusion (gewollter Täuschung) in der dramatischen Kunst.
Auch über moralische Fragen hat er sich geäußert. Eine allgemeine Tugend für alle scheint er nicht anerkannt zu haben, sondern nur eine solche der verschiedenen Geschlechter, Lebensalter und Stände, und auch die scheint ziemlich oberflächlich gewesen zu sein: »Die Tugend des Mannes besteht in der Fähigkeit zu politischer Tätigkeit, wobei er versuchen wird, seinen Freunden zu nützen, seinen Feinden zu schaden und sich selbst vor Nachteil zu hüten. Auch die Tugend der Frau ist nicht schwer zu bestimmen: sie besteht darin, daß sie das Hauswesen wohl verwaltet, das vorhandene Gut erhält und ihrem Manne gehorcht. Wieder anders ist die Tugend des Kindes, des Mädchens und des Knaben, und wieder die des älteren Mannes, sei es des Freien oder des Sklaven. Denn jeder von uns hat in jedem Beruf und jedem Lebensalter für jede Aufgabe seine Tugend und meines Erachtens auch seine Untugend.« – Ueberhaupt war Gorgias als richtiger Rhetor und Literat aus allen Gebieten zu Hause. Er versprach einmal, allen auf alle Fragen zu antworten, zumal da ihn seit vielen Jahren niemand etwas Neues gefragt habe!
Dennoch würden wir ihn vielleicht in unserer historischen Darstellung griechischer Philosophie gar nicht erwähnt haben, wenn wir nicht von zweifacher Seite – nämlich in einer fälschlich dem Aristoteles zugeschriebenen Schrift »Ueber Xenophanes, Melissos und Gorgias«, und bei dem freilich späten, aber zuverlässigen alexandrinischen Arzte Sextus Empirikus – einen im wesentlichen gleichlautenden Bericht über drei höchst auffallende philosophische Sätze des Gorgias besäßen, die folgendermaßen lauten: 1. Es existiert überhaupt nichts. 2. Wenn aber auch etwas existierte, so wäre es doch für den Menschen unfaßbar. 3. Wäre es aber auch faßbar, so wäre es doch unaussprechbar und unmitteilbar. Auf die höchst gekünstelte Beweisführung für diese unsinnigen Sätze wollen wir uns hier nicht einlassen. Sie ist so gekünstelt, wenn auch nicht ohne Geist und Scharfsinn, daß manche neueren Gelehrten, wie Heinrich Gomperz und H. Maier, sie für ein bloßes rednerisches Bravourstück von Sophistenkunst erklären, worauf auch schon der auffallende Titel der Schrift, in der sie standen: »Von der Natur oder dem Nicht-Seienden« (!) deuten könnte, der dann ein bewußtes Gegenstück zu des Melissos (oben S. 41 f.) Buch »Ueber die Natur oder das Seiende« gewesen wäre. Die Griechen und vornehmlich die Athener waren ja ein disputierfreudiges Volk, das an solchen Leistungen menschlichen Scharfsinns sein besonderes Vergnügen hatte.
Oder aber die Schrift könnte, durch ähnliche Beweisführungen des Eleaten Zenon in seinen »Aporien« (S. 40) angeregt, eine philosophische Gegenschrift gegen die Schule derer von Elea (Parmenides, Zenon, Melissos) gewesen sein, die sie mit ihren eigenen Mitteln schlagen wollte.
Wie dem nun auch sein mag; ein so vollendeter Skeptizismus, wie er in jenen drei Sätzen sich ausspricht, ist, um einen Ausdruck Kants zu gebrauchen, »gar keine ernstliche Meinung« mehr und macht aller Wissenschaft ein Ende. Man hat deshalb auch von einem philosophischen »Nihilismus« (einem »Nichts«-Standpunkt) des Gorgias gesprochen und diesen Standpunkt dahin formuliert, daß, wie Protagoras jede Meinung für wahr, so er (Gorgias) jede Meinung für falsch erklärt habe.
*
Wir möchten hier gleich noch einige besonders interessante Schüler des Gorgias anschließen. Wir denken dabei weniger an den Rhetor (Redelehrer) Polos, den Plato in seinem Gorgias-Dialog auftreten läßt, und der in einer besonderen Schrift, ähnlich seinem Meister, den Fortschritt der Kultur auf die technischen Erfindungen zu begründen versuchte, als an die sozial und politisch interessanten Gestalten des Lykophron und Alkidamas.
Lykophron, der in seiner Zweifelsucht so weit ging, daß er es sogar vermied, die Wörtchen »ist« oder »sind« als Satzband (»Copula«) in einem Urteilssatze zu gebrauchen, hat schon, ganz ähnlich wie zwei Jahrtausende später Rousseau in seinem Contrat social, die Lehre vertreten, daß das Gesetz, also auch der Staat nur ein »Vertrag« sei, »in dem man sich gegenseitig das Recht verbürgt«; daß er – offenbar der bestehende Staat – aber keineswegs imstande sei, »die Bürger zur Sittlichkeit und Gerechtigkeit zu erziehen«. Und in seiner demokratischen Gesinnung war er so weit fortgeschritten, daß er den Adel als »etwas ganz Hohles« bezeichnete, dessen »Vorzug unersichtlich« sei, und dessen »Würde lediglich auf dem Titel« beruhe.
Noch weiter ging Gorgias' Nachfolger in der Leitung seiner Rednerschule Alkidamas aus der kleinastatischen Landschaft Aiolis (Aeolien). Er nannte »Gesetz und Brauch« nicht bloß »herkömmliche« Herrscher der Staaten, gegen welche die Philosophie ihren Angriff richten müsse, sondern wagte es zum ersten und (soviel wir wissen) einzigen Male im klassischen Altertum, einer Einrichtung den Krieg zu erklären, vor der selbst ein Plato und Aristoteles Plato will in seinem »Staat« die Sklaverei nur unter Griechen aufgehoben wissen, Aristoteles findet sie so lange in der »Natur« begründet, als noch keine – Maschinen erfunden seien, die an ihre Stelle treten könnten! halt machten: der Sklaverei. Denn in einer Rede zugunsten der von Epaminondas befreiten und in Messenien angesiedelten spartanischen Staatssklaven (»Heloten«) sprach er den kühnen, damals noch unerhörten Satz aus: »Gott hat alle Menschen frei gelassen, die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht.«