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Werden und Sein:
Heraklit und die Eleaten
Eine der interessantesten Gestalten der antiken Philosophie, unter den Vorsokratikern ohne Frage die interessanteste ist Heraklit (griechisch: Herakleitos), der Weise von Ephesos. Seine Persönlichkeit tritt uns bereits viel klarer vor Augen als die der drei alten Milesier; schon allein dadurch, daß uns von ihm, der bereits dem Altertum sowie den Kirchenvätern bedeutend erschien, nicht weniger als 126, freilich meist nur aus einem Satze oder gar Satzfetzen bestehende Bruchstücke erhalten sind.
Wir bleiben mit Heraklit in der kleinasiatischen Heimat der griechischen Philosophie. Die größte Stadt nach Milet, das reiche und blühende Ephesos, war seine Vaterstadt, in der er anscheinend den bei weitem größten Teil seines Lebens zugebracht hat. Um 535 geboren, hat er ihre wechselvollen politischen Schicksale: Unterwerfung durch die Perser, den vergeblichen jonischen Aufstand (500-494) und, wenn er, wie man annimmt, erst 475 gestorben ist, auch ihre Wiederbefreiung durch die siegreichen Griechen des Mutterlandes miterlebt. Er stammte aus vornehmstem Blut, dem einstigen ephesischen Fürstengeschlecht, das seine Herkunft von dem letzten Athenerkönig Kodros ableitete, gab jedoch die ihm kraft dieser Abkunft zustehende priesterliche Würde, die auch mit einem Vorsitz bei bestimmten Wettkämpfen verbunden war, freiwillig auf. Von den innerpolitischen Kämpfen in seiner Heimatstadt hielt er sich nach dem Siege der ihm widerwärtigen Demokratie (Volksherrschaft) völlig fern, folgte aber weder dem Rufe des persischen Großkönigs an dessen Hof, noch dem nach dem republikanischen Athen, der Urheimat seiner Väter, sondern zog sich in die Einsamkeit zurück: wie es heißt, in das die Stadt überragende berühmte Heiligtum der Göttin Artemis, in dem er auch seine Schrift niedergelegt haben soll.
Mehr als diese wenigen uns aus dem späten Altertum überkommenen Notizen über sein Leben, erzählen uns von seiner Persönlichkeit die zahlreichen aus seinem Buche erhaltenen Bruchstücke; denn bei ihm trifft es zu, wie bei wenigen: der Stil (die Schreibart) zeigt den Menschen an. Stärker als bei irgendeinem anderen Vorsokratiker tritt hier die Persönlichkeit hervor. Heraklit ist sich offenbar bewußt, daß er eine völlig neue Bahn eröffnet, die er durch eigenes Gedankenringen gefunden hat. » Ich erforschte mich selbst,« erklärt er einmal mit stolzem Selbstbewußtsein. Die erhaltenen kurzen Bruchstücke machen fast den Eindruck, als ob sie mit Absicht in solche kurze, scharf geschliffene Form gegossene Einzelaussprüche (»Aphorismen«) seien, die gewissermaßen einsame Gespräche des Denkers mit sich selbst darstellen: wie sie uns von Goethe, Schopenhauer, Nietzsche und vielen anderen her vertraut sind. Er ist durch und durch Geistesaristokrat, der sich stolz von der verächtlichen Menge absondert: »Einer gilt mir Zehntausend, falls er der Beste ist.« Die Menge ist taub für die Wahrheit, auch wenn sie sie vernommen, besteht aus »Leuten, die weder zu hören noch zu reden verstehen«, die »am Dreck sich ergötzen«. »Vollgefressen liegen die meisten da wie das liebe Vieh.«
Aber nicht nur gegen die urteilslose Menge wendet er sich, sondern auch gegen die Lieblinge der ganzen Nation: gegen Hesiod (s. S. 14), gegen den Lyriker Archilochos, ja selbst gegen den großen Homer: »Homer verdiente, aus den Preiswettkämpfen verwiesen und mit Ruten gestrichen zu werden, und ebenso Archilochos.« Ebenso auch gegen die zeitgenössischen Philosophen Pythagoras und Xenophanes, denen er »Vielwisserei« statt »Verstand« vorwirft. Desgleichen wider den Geschichtsschreiber Hekataios. Seine philosophischen Landsleute Thales, Anaximandros, Anaximenes allein scheint er mit seinen beißenden Angriffen verschont zu haben.
Was ihn mit ihnen verband, wissen wir, bei dem Mangel zuverlässiger Nachricht von jenen, nicht mit Sicherheit. An den düster-geheimnisvollen, gefühlsgeschwellten Ton des einzigen erhaltenen anaximandrischen Fragments (s. S. 20) erinnert auch die vielfach dunkle und schwere Art des ephesischen Weisen. Schon im Altertum nannte man daher Heraklit den »Dunklen«, und nach Sokrates, der allerdings den vollsten Gegensatz zu ihm, die reinste Verstandesklarheit, verkörpert, bedurfte es eines delischen (von der Insel Delos stammenden), d. h. besonders vorzüglichen Tauchers, um bei ihm bis zum tiefsten Grunde vorzudringen. Manchmal klingt seine Sprache geradezu orakelhaft; er selbst weiß es und will es vielleicht auch. Denn an ihn selber fühlt man sich gemahnt, wenn er von der »Sibylle« spricht, die »mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes tönt«, und mit ihrer Stimme über tausend Jahrs reicht »kraft des Gottes«; oder, wenn er von diesem selben Gotte der Weissagungskunst (Apollo) sagt: »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, spricht nicht und verbirgt nicht, sondern deutet nur an.« Dennoch möchten wir ihn nicht so eng, wie Professor Joël in Basel es überhaupt mit der jonischen Naturphilosophie tut, mit dem Geiste der Mystik verschwistern; denn andererseits zieht er doch wieder sehr kräftig wider die »Nachtschwärmer, Magier, Bacchanten, Mänaden und Mysterienbesucher« los, tadelt die »unheilige« Art der Einführung in die Mysterien, schilt die Bacchantenfestzüge zu Ehren des Weingottes schmutzig, findet in rechter Weise dargebrachte Opfer selten und vergleicht das Anbeten von Götterbildern dem Geschwätz mit stummen Hauswänden. Und wenn jemand Reinigung von Blutschuld dadurch sucht, daß er sich selber mit Blut befleckt, wie es in gewissen Geheimdiensten geschah, so gleicht er einem, der in Kot getreten ist und sich nun mit Kot abwaschen wollte. Vor allem aber scheidet ihn von der Mystik sein Drängen zur Klarheit und Vernunft. Doch damit kommen wir von seiner Persönlichkeit zu seiner
Logik, Physik und Ethik, also die Wissenschaft vom Denken, von der Natur und vom sittlichen Handeln, sind bei diesen frühesten griechischen Denkern noch nicht so streng voneinander getrennt, wie sie es in späterer Zeit waren. Dennoch behandeln wir sie, der besseren Uebersichtlichkeit wegen, eine jede für sich. Wir beginnen mit der Naturphilosophie.
Höchstwahrscheinlich haben auch schon die drei Milesier sich nicht mit dem Forschen nach dem Ursprung alles Gewordenen begnügt, sondern auch dessen Entwickelung behandelt; bei Anaximandros ist das sogar sicher (s. S. 21 f.) Aber erst Heraklit hat, wie es scheint, dies Entwickelungsprinzip zu dem Kernsatz seiner Philosophie gemacht mit den zwei Worten: Panta rei (wörtlich = alles fließt), d. h. Alles ist in beständigem Flusse, in ewigem Wechsel und Werden begriffen. »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen;« denn neue und immer neue Gewässer ergießen sich in sein Bett; schon während wir in ihn hinabsteigen. Alles kommt und geht, naht und entfernt sich, zerstreut sich und sammelt sich wieder. Aus Einem wird Alles, aus Allem Eines. Auch die Sonne ist neu an jedem Tag. Das ganze Weltall gleicht einem fortwährend umgerührten Mischtrank.
Und zwar, das ist das Zweite, vollzieht sich dies beständige Werden, diese ewige Entwickelung der scheinbar so beharrlichen Dinge in Gegensätzen: der Krieg oder Streit ist der »Vater« aller Dinge. Aber in Gegensätzen, die sich ihrerseits wieder zur Einheit zusammenschließen. »Alles entsteht durch den Streit,« aber »das auseinander Strebende vereinigt sich, und so entsteht aus dem Gegensätzlichen die schönste Harmonie«. Und wie in der äußeren Natur, so steht es auch auf dem Gebiete des Geistigen. Leben und Tod, Entstehen und Vergehen, Wachen und Schlafen, Mischung und Trennung, Alt und Jung, Gerade und Krumm, Hohes und Tiefes, Teil und Ganzes, Eintracht und Zwietracht, Männliches und Weibliches, ja sogar Gutes und Böses: es ist alles dasselbe, alles nur verschiedene Formen des gleichen Prozesses (Werdegangs). So wird die Welt der unbegrenzten Gegensätze schließlich zu einer großen Harmonie, »in sich zurückkehrend, gleich der des Bogens und der Leier«, wie das von Heraklit gebrauchte, etwas dunkle Bild für das Auseinandergehende, das wieder zueinander strebt, lautet.
Von diesen allgemeinen Vorstellungen aus ist auch Heraklits Lehre von dem Feuer als Urgrund alles Seienden oder vielmehr Werdenden zu verstehen. Aristoteles und andere griechische Berichterstatter, denen man früher ohne weiteres glaubte, haben es sich doch zu leicht gemacht, wenn sie den Ephesier einfach als vierten in der Reihe der altjonischen Naturphilosophen, nur mit einem neuen Urstoff, eben dem Feuer, sich vorgestellt haben. Wenn Heraklit von dem Weltall spricht, das da war, ist und sein wird ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und verlöschend nach Maßen (oder: sein Erglimmen und sein Verlöschen sind dessen Maße), so ist das bei unserem bilderreichen Denker wohl kaum ganz buchstäblich zu nehmen, zumal da das Feuer weniger als lodernde Flamme, denn als feuriger Hauch, gleich der Seele (»Psyche«) gefaßt wird. Allerdings ist die stoffliche Auffassung auch vorhanden: Aus dem Feuer soll durch Umwandlungen, eigentlich »Wendungen«, erst Flüssiges (Wasser), dann Festes (Erde) hervorgehen: »der Weg nach unten«. Und umgekehrt wird wieder aus Erde Wasser, aus Wasser Feuer: »der Weg nach oben«, in stetem Kreislauf. Und wenn wir hören, daß die Welt einst aus Feuer geworden und dereinst wieder in Feuer sich auflösen wird, um sich aufs neue zu bilden, so erinnert uns das nicht bloß an ähnliche Gedanken Anaximanders oder der deutschen Göttersage (Muspilli); sondern wir brauchen für den Begriff des »Feuers« nur den Feuerball unserer Sonne einzusetzen, um diese uralten Vorstellungen mit den Lehren der modernen Astronomie einigermaßen in Einklang zu setzen.
Aber das Feuer bleibt für unseren Denker nicht bei dieser bloß stofflichen Bedeutung. Es wird, weil noch beweglicher und lebendiger als Wasser und sogar als die Luft, schließlich fast zum bloßen Sinnbild des beständigen Wechsels: In Feuer setzt sich alles um und das Feuer in alles, wie – und nun kommt aus der Feder des Bürgers der großen Handelsstadt ein recht kaufmännisches Bild – Ware in Gold und Gold in Ware. Ja, es wird selbst mit dem Göttlichen, der allwaltenden Dike, d. h. dem Recht oder dem Schicksal, gleichgesetzt. In diesen Gedankenzusammenhang gehört vielleicht auch das orakelhafte Wort: »Alles steuert der Blitz.«
Wie weit Heraklit den über allem und in allem waltenden Logos (eigentlich = Wort) schon als eine Art Weltvernunft aufgefaßt hat, läßt sich bei der bruchstückhaften Ueberlieferung und der bilderreichen Sprache des »Dunklen« nicht mit Sicherheit entscheiden. Jedenfalls noch nicht als eine ihrer Natur gemäß stets nach Zwecken handelnde Macht; sonst würde er die Ewigkeit nicht mit einem spielenden Knaben vergleichen, der die Steine seines Brettes nach Willkür aufbaut und wieder zusammenwirft. Andererseits heißt es freilich wieder: »Die Lügenschmiede und ihre Helfershelfer wird Dike zu fassen wissen.« Und wieder zweideutig: »Eins, das allein Weise, will nicht und will doch auch wieder mit Zeus' Namen benannt werden.« Ein ander Mal heißt es dagegen entgegengesetzt: »Die Gottheit ist Tag, Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Ueberfluß Hunger: sie wandelt sich wie das Feuer.« Anscheinend hat er das Wesen des Göttlichen doch unbestimmt gelassen, wenn er erklärt: Ueber das Wort, mit dem sie am meisten fortwährend verkehren (zu tun haben?), den Lenker des Alls, entzweien sie sich, während die Dinge, auf die sie jeden Tag stoßen, ihnen fremd erscheinen. Nach Laërtius Diogenes zerfiel seine Schrift in einen naturphilosophischen, politischen und – theologischen Teil.
Aber auch mit der Seele und dem Erkennen des Einzelmenschen beschäftigte sich Heraklit, der, wie wir hörten, »sich selbst erforschte«, schon eindringlich; etwa zwei Fünftel der erhaltenen Aussprüche liegen auf diesem Gebiet. Auch auf die Menschenseele wird das Bild des Feuers übertragen: Die »trockene« Seele ist die beste, als ein Teil des göttlichen Urfeuers, das sie, wie der Blitz die Wolke, durchzuckt. Freilich die Meisten – wörtlich: »die Vielen«, Nietzsche würde sagen: die Vielzuvielen – folgen nicht dem »Allgemeinen« (Gemeinsamen), das heißt doch wohl der Stimme der Vernunft (des »Logos«), sondern dem eigenen Wähnen. Und doch sind die Sinne, sind »Augen und Ohren schlechte Zeugen der Wahrheit, wenn sie ungebildeten Seelen angehören«. Solche »hohle« Menschen pflegen bei jedem Wort, weil sie es nicht verstehen, starr dazustehen. Ihre »feuchten« Seelen gleichen einem strauchelnden Trunkenen, der von einem bartlosen Knaben geführt wird. Sie folgen nicht der einen Weisheit, die not tut, kennen nicht die Einsicht, die alles und jedes zu lenken weiß. Denn »gemeinsam« ist doch »allen das Denken«, und dies Denken »ist der größte Vorzug«. Kurz, der Zug zum Allgemeinen, Vernünftigen, Gesetzlichen ist auch bei Heraklit, dem Vertreter des beständigen Wechsels, durchaus erkennbar.
In seiner Erkenntnislehre, wie in seiner, allerdings aus dem verhältnismäßig wenigen Erhaltenen nicht mit voller Klarheit hervorgehenden, Ethik. Daß er im Grunde durch und durch Ethiker, d. h. Wertbetoner ist, zeigt schon seine Sprache. Joel macht darauf aufmerksam, daß nicht bloß die Zeit- und Bei-, sondern auch die Dingwörter, die Heraklit in seinem bilderreichen Stile gern gebraucht, meist Wert oder Unwert ausdrücken, so die Wörter: Gott, König, Glanz, Gold – Kot, Kehricht, Mist, Stroh, Spreu, Knabe, Ochse, Esel u. a. Gewiß, »dem Menschen ist sein Sinn (Gemüt) sein Dämon«, d. h. des Menschen Sinnesart oder Charakter wird ihm zum Schicksal. Und die Grenzen der Menschenseele »kannst Du nicht ausfindig machen, ob Du auch jegliche Straßen abschrittest, so tiefen Grund« – eigentlich »Logos«, hier zeigt sich wieder das vieldeutige Wort, das auch Goethes Faust mit seiner Uebersetzung so große Pein macht – »besitzt sie«. Aber eben deshalb ist es »Pflicht, dem Allgemeinen zu folgen«: wie im Denken, so auch im Handeln. Wie es Ferdinand Lassalle in seinem umfangreichen Werk über den Ephesier herausgefunden hat: »seine Ethik faßt sich in dem einen Gedanken zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: Hingabe an das Allgemeine«. »Die Weisheit besteht darin«, nicht bloß »die Wahrheit zu sagen«, sondern auch »nach der Natur zu handeln, auf sie hinhörend«, und dies Vernünftigsein ist eben die höchste Tugend. Das wahre Glück aber besteht nicht in körperlichen Lustgefühlen, sonst müßte man das Wohlbehagen der Ochsen und Esel beneiden, wenn sie Erbsen zu fressen finden. Mit dem eigenen Herzen streiten ist sicherlich hart. Die meisten sind eben schlecht, und nur wenige gut. Aber es ist nicht heilsam, wenn den Menschen alle ihre Wünsche erfüllt werden. Das Gemeinsame, nach dem alle streben müssen, bleibt das Vernünftigsein.
Das gilt natürlich auch, ja erst recht für das öffentliche Leben. »Wenn man mit Vernunft reden will, muß man sich stärken mit diesem allen Gemeinsamen, wie eine Stadt durch ihr Gesetz. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze aus dem einen göttlichen – wahre Religion fällt also schon für Heraklit zusammen mit wahrer Sittlichkeit und wahrer Staatskunst –, »denn es gebietet, soweit es will, und genügt allem und überwindet alles«. Ja, »Ueberhebung (Frevelmut) muß man noch eher löschen als eine Feuersbrunst«. Dagegen »soll das Volk für sein Gesetz kämpfen, wie für seine Mauer«. Natürlich ist Heraklit, nicht bloß seiner Geburt, sondern auch seiner Gesinnung nach, Aristokrat, wenn man will, Monarchist. Er erklärt einmal seinen Landsleuten, sie sollten sich alle Mann für Mann aufhängen lassen und den Unmündigen ihre Stadt überlassen, sie, die Hermodoros, ihren wackersten Mann, aus der Stadt gejagt hätten, mit den Worten: »Von uns soll keiner der wackerste sein, oder, wenn schon, dann anderswo und bei anderen.« Oft muß man dem Rate eines Einzigen folgen, dann nämlich, wenn er überlegene Einsicht besitzt. Deshalb müssen auch Strafen sein, um den Pöbel im Zaume zu halten. Uebrigens hängt Heraklits Herz nicht an einer Stadt. Er spricht nur selten von Ephesiern und Hellenen, sondern nur von »Menschen«. Wie sein Gott der Weltgott ist, so ist sein Staat der Weltstaat. Und doch ist in der Forderung von Maß und Gesetz, dem der Einzelne sich unterordnen muß, wenn er wahre Befriedigung für sich und andere erlangen will, wieder der Hellene in ihm mächtig.
Heraklit ist, wie wir sahen, ein durchaus ursprünglicher Denker, dessen Stärke nicht in wissenschaftlicher Einzelforschung, sondern in einer Art genialer Anschauung von Menschen und Welt liegt, eine Art antiker Faust, der mit den Rätseln des Daseins ringt. Darum hat seine Denkerpersönlichkeit schon im Altertum den größten griechischen Philosophen Plato angezogen, und selbst der nüchterne Aristoteles ist nicht ganz unberührt von ihm geblieben; später haben dann die Stoiker seine Natur- und Religionsphilosophie, insbesondere seine Lehre vom Logos als der Allvernunft weitergebildet und durch sie mittelbar auf die in dem ägyptischen Alexandria gepflegte religiöse Philosophie jüdischer und altchristlicher Färbung gewirkt. Ja, trotz seines altertümlichen, manchmal scheinbar in die dunklen Tiefen der Mystik sich verlierenden Stils ist er so modernen Denkern wie Friedrich Nietzsche sympathisch, der sich in Heraklits Nähe »wärmer und wohler« als bei irgendeinem anderen Philosophen fühlte, während einer der ältesten Kirchenväter (Justin) ihn einen Christen vor Christus nennt! Und, während ihn ein neuerer Gelehrter, der Württemberger E. Pfleiderer, in einer besonderen Schrift von 1886 ins »Licht der Mysterienidee« rücken will, erklärte der große Dialektiker Hegel, jeden Satz des Weisen von Ephesos in seine Logik aufnehmen zu können. Ja, so entgegengesetzte Naturen wie der gemütsinnige Schleiermacher, der hervorragendste evangelische Theologe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und die Verstandesschärfe Kämpfernatur Ferdinand Lassalles, des Mitbegründers der deutschen Sozialdemokratie, fühlten sich in gleicher Weise durch die Reize der dunklen Weisheit des Ephesiers so gefesselt, daß sie ihm eingehende Studien, der letztere sogar ein zweibändiges Werk, gewidmet haben: ein Zeugnis davon, daß dieser Verkünder der Gegensätze und ihrer Einheit auch die entgegengesetztesten Persönlichkeiten in der Philosophie-Geschichte in seinen Bann gezwungen hat.
Trotzdem hat Heraklit, vielleicht gerade infolge seiner aufs schärfste zugespitzten Eigenart und seiner stolzen Einsamkeit nicht, wie so viele andere Philosophen, eine »Schule« begründet. Als Anhänger von ihm ist nur ein gewisser Kratylos bekannt, den Plato gekannt und, nach dem er einen seiner Dialoge betitelt hat, der den Satz des Meisters, daß man nicht zweimal in den nämlichen Fluß steigen könne, ganz folgerichtig zu der Behauptung steigerte: auch nicht einmal könne man das tun. Aristoteles spottet: Kratylos habe schließlich gar nichts mehr behaupten zu dürfen geglaubt, sondern bloß noch den Finger bewegt.
Und daher war, wie wir wahrnahmen, selbst in dem Verfechter des beständigen Wechsels ein Zug zur Einheit vorhanden, der vom Werdenden zum Seienden führt, der freilich erst von einer anderen philosophischen Richtung konsequent ausgebildet wurde: den Eleaten.