Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ihre Entstehung und ihre Grundzüge
Die bisherige Philosophie der Griechen war, wie wir sahen, in der Hauptsache Naturphilosophie gewesen. Man hatte nach einem von der Wissenschaft, nicht der religiösen Sage (Mythologie) diktierten Ursprung der Welt gesucht, hatte die Gesetze von deren Weiterbildung zu erforschen gestrebt. Tiefsinnige metaphysische Systeme hatten einander in rascher Folge abgelöst, von denen in der Regel, wie es fast immer gegangen ist, das nachfolgende den vorausgegangenen den Garaus zu machen bestrebt war. Gewiß, unbeeinflußt von diesem Wechsel der Systeme hatte die echte, rein von der Erfahrung geleitete Naturforschung, insbesondere in den Kreisen der Aerzte und ebenso in der Schule der Atomisten, bereits ihren stillen Gang langsamen, aber unaufhaltsamen Fortschritts begonnen. Ja, sie fängt eben jetzt an, sich zunächst sachlich, später auch in ihren persönlichen Vertretern von der gemeinsamen Mutter Philosophie allmählich loszulösen. Die mathematische und astronomische Einzelforschung der jüngeren Pythagoreer (s. Seite 47), die medizinische des berühmten Arztes Hippokrates von der Insel Kos (460-377) gehören hierher. Aber gerade in jenen wechselnden Systemen hatte sich die schöpferische Kraft und Tiefe griechischen Philosophierens zwar zunächst glänzend ausgestaltet, jedoch in gewissem Sinne auch erschöpft. Wer sie alle hintereinander aufmerksam durchdacht hatte, der mußte, wie Sokrates, zum Zweifel an der Möglichkeit einer endgültigen Lösung kommen. Zumal wenn er einander so widerstreitende und beiderseits doch mit den anscheinend beweiskräftigsten Gründen verfochtene Anschauungen, wie die Heraklits und der Eleaten, deren Widersprüche auch durch die nachfolgenden Vermittlungsversuche des Empedokles und des Anaxagoras nicht beseitigt werden konnten, vor seinem geistigen Auge vorübergehen ließ. Und während gerade die hervorragendsten unter den bisher aufgetretenen Denkern, ein Parmenides und Heraklit, ein Empedokles und Demokrit die Zuverlässigkeit der Sinnenerkenntnis gründlich erschüttert hatten, war durch Männer wie Zenon das, was bisher am festesten schien, als leerer Schein erwiesen worden. Kein Wunder, wenn sich viele mit Sokrates überhaupt von der Naturforschung abwandten und meinten, die Bäume und die Landschaft da draußen könnten uns nicht belehren, ja wenn sie die Möglichkeit einer allgemeingültigen Wahrheit überhaupt bezweifelten.
Dazu kam ein anderes. Bisher war, wie neuere Untersuchungen wahrscheinlich gemacht haben, die Wissenschaft in kleineren, fest geschlossenen Genossenschaften gepflegt worden. Jetzt trat sie, infolge einer völligen Umkehrung der inneren und äußeren politischen Verhältnisse, hinaus auf den Markt des Lebens. Und zwar nicht mehr draußen in den Kolonien, die zum großen Teil ihre Unabhängigkeit und ihren früheren Glanz eingebüßt hatten, sondern in dem Mutterlande selbst, d. h. fast ausschließlich in Athen, das jetzt immer mehr nicht bloß zum wirtschaftlichen und politischen, sondern auch zum geistigen Vorort des gesamten Griechentums wurde, zur »Bildungsschule von Hellas«, wie der Geschichtsschreiber der Zeit Thukydides den großen athenischen Staatsmann Perikles sagen läßt. Nicht daß alle die von uns zu nennenden Denker gebürtige Athener gewesen wären – das war, wie wir sehen werden, nur bei den wenigsten von ihnen der Fall –, aber es zog jeden, der geistig etwas zu sagen hatte, nach dieser glänzenden Stadt, die immer mehr der Mittelpunkt aller politischen und wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Interessen ganz Griechenlands wurde.
Und da hier zugleich die demokratische Verfassung unter Kleisthenes, Ephialtes und Perikles sich immer mächtiger entwickelte und nicht mehr bloß adeliger Geburt, persönlicher Tapferkeit oder überragendem Reichtum Raum gab, sondern auch bürgerlicher Tüchtigkeit, theoretischer Bildung und Redegewandtheit die einflußreichsten Stellen im Staatswesen öffnete, so wurde auch der Bildungsdrang innerhalb des Volkes ein immer stärkerer. Und auch das Bildung-, das Mannesideal überhaupt ein anderes. Bisher war dasselbe vorwiegend ritterlichen Stiles gewesen, wie es in unserem Mittelalter war und heute noch in den Resten unseres Junker- und Offizierstums fortlebt: derjenige der beste (griechisch: aristos, daher Aristokratie oder Adelsherrschaft eigentlich = Herrschaft der »Besten«), der in körperlicher Tüchtigkeit, gymnastischen und ritterlichen Uebungen den anderen voran war, wozu nur noch ein wenig Musik, Dichterlektüre und die Elementarkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen kamen. Jetzt wurde das Bildungsideal ein unendlich erweitertes. Wer in der neuen Zeit voran kommen wollte, mußte die im Leben wirksamen Kräfte kennen und zu beherrschen verstehen, vor allem auch des Wortes mächtig sein, das ihm im Rate, in der Volksversammlung, an der Gerichtsstätte zum Siege verhalf. Diesem Bedürfnis kam die Tätigkeit der Sophisten entgegen.
Das Wort »Sophist«, mit demselben Worte »Sophia« (= Weisheit) zusammenhängend, von dem die Bezeichnung »Philosophie« stammt, bedeutete ursprünglich einen auf irgendeinem geistigen Gebiete, einer »Weisheit« tüchtigen Mann, ohne jeden ungünstigen oder tadelnden Nebensinn. Der erste griechische Geschichtsschreiber Herodot – auch er diente ja durch die von ihm verbreiteten Geschichts- und geographischen Kenntnisse dem neuen Bildungsideal – nennt »Sophisten« voll Achtung die weisesten Leute ihrer Zeit, wie Solon und Pythagoras, der Dichter Kratinos den Homer und Hesiod, Aristoteles die »sieben Weisen«, Xenophon den Sokrates und dessen Jünger Antisthenes, der Redner Lysias sogar den schärfsten Gegner der »Sophistik«, Plato. Wie sind also die Sophisten zu dem üblen Beigeschmack gekommen, der ihrem Namen bis heute anhaftet?
In erster Linie wohl daher, daß wir sie fast ausschließlich nur aus der einseitigen ungünstigen Beleuchtung ihrer philosophischen Widersacher: Sokrates, Aristoteles und vor allem Plato, sowie aus den Karikaturen der Komödie, insbesondere des »ungezogenen Lieblings der Grazien« Aristophanes kennen, während sie eigentlich erst im neunzehnten Jahrhundert in dem Intellektualisten (Verteidiger der Verstandesseite) Hegel und einzelnen seiner Schüler einerseits, in aufklärerisch gesinnten Positivisten wie den englischen Liberalen Grote und Lewes, den deutschen Philosophen Laas, Theodor Gomperz und Friedrich Nietzsche (in seiner positivistischen Zeit) anderseits Verteidiger gefunden haben.
Zweitens aber dadurch, daß man die Bezeichnung als »Sophisten« von etwa 450 ab im besonderen auf diejenigen anwandte, welche, von dieser Zeit an immer häufiger, von Stadt zu Stadt reisend gegen Bezahlung als Vortragende und Lehrer alles möglichen auftraten, vor allem aber sich der wohlhabenden Jugend als Erzieher zum »richtigen Denken, Sprechen und Handeln in öffentlichen und Privatangelegenheiten« anboten. Ihre Tätigkeit war also eine zweifache. Erstens suchten sie den Unterricht der der Schule entwachsenen höheren Jugend in ihre Hand zu bringen, um sie »zum Handeln und Reden, zur Leitung des Haus- wie des Gemeinwesens geschickt« zu machen, wofür sie entsprechendes, oft recht hohes, Honorar verlangten. Und zweitens hielten sie, man würde heute sagen: populär-wissenschaftliche Vorträge, zu Eintrittspreisen von einer halben Drachme (40 Pfennig) bis 4 Drachmen (3 Mark): entweder wohl vorbereitete über ein bestelltes Thema, oder aus dem Stegreif über irgendeine aus der Zuhörermitte aufgeworfene Frage; und entweder in öffentlichen Gebäuden wie den Ringschulen (»Gymnasien«), oder vor einem engeren Kreise im Hause irgendeines reichen Gönners, wobei es besonders auf schöne stilistische Form und rhythmischen Tonfall ankam.
So wenig wir heute etwas Entwürdigendes darin finden, daß Professoren und freie Vortragende für ihre Vorlesungen oder Vorträge Honorare annehmen, so sehr widerstrebte es der Anschauung des vornehmen Griechen jener Zeit, die Lehre der Weisheit auf solche Weise zum bezahlten Gewerbe zu machen. Bezeichnend dafür ist ein kleiner Zug aus der überhaupt mit prächtigem Humor zu einem satirischen Gemälde der Sophistik ausgestalteten Einleitung von Platos Dialog »Protagoras«. Der junge Hippokrates weckt noch im Morgengrauen Sokrates aus dem Schlaf mit der Kunde, der große Protagoras sei da. Aber als dann der nüchternere Freund den glühend Begeisterten fragt, ob er sich etwa, wie bei Phidias zum Bildhauer, bei Hippokrates zum Arzt, so bei Protagoras zum – Sophisten ausbilden wolle, da kann der junge Mann trotz aller Begeisterung nicht umhin, – verlegen zu erröten.
Damit soll nicht gesagt sein, daß das Streben aller Sophisten sich nur auf äußeren Ruhm und Gewinn gerichtet hätte, wie es bei manchen sicherlich der Fall war. Aber sie hatten doch – meist kamen sie aus kleinen Städten oder Stämmen, wie Gorgias aus der sizilischen Kleinstadt Leontinoi, Prodikos aus einem Städtchen auf der kleinen Insel Keos, Hippias aus der unbedeutenden Landschaft Elis, um dauernd nicht wieder dahin zurückzukehren – im Gegensatz zu dem Stadtbürger eines Athen etwas Wurzelloses an sich, auf das der Athener, trotz aller Bewunderung, im Grunde doch etwas verächtlich herabsah: ähnlich wie es dem Durchschnitts-Humanisten der italienischen Renaissancezeit geschah, dem Durchschnitts-Literaten oder -Journalisten der Gegenwart jetzt noch häufig geschieht. Gerade dadurch aber wurden sie dann veranlaßt, sich doppelt eifrig in Szene zu setzen, in prunkendem Auszug aufzutreten, sich als Alleswisser und Alleskönner zu geben, mit glänzender Redegabe, als vollendete Redekünstler sich zur Schau zu stellen: so daß man vielfach Sophistik und Rhetorik (Redekunst) gleichgesetzt hat? Hatte doch in der Tat im damaligen Hellas, mindestens in Athen, das Wort, die Rede eine Macht, wie nirgends sonst in der Welt: vor der brausenden Volksmenge in der Volksversammlung auf dem Markte, im Theater, an der Gerichtsstätte, kurzum vor der Oeffentlichkeit, die ja so wie so in Südeuropa eine viel größere Rolle spielt als im kälteren Norden, weil die Lehre dort viel inniger mit dem Leben zusammenhängt. Und die übermächtig gewordene Redegabe schwelgte dann, der ohnedies schon heißen südlichen Luft und Umgebung entsprechend, in allerlei Uebertreibungen, ja vielfach geradezu im Auf-den-Kopf-stellen der bisherigen theoretischen und sittlichen Anschauungen, wie wir das bei den einzelnen Sophisten noch sehen werden.
Verbunden mit jener Wurzellosigkeit, der Abwesenheit vom »Erdgeruch« der Heimat wuchs dann fast bei allen ein gewisser Panhellenismus (Allgriechentum), ja ein Internationalismus (Uebervolktum) empor, das über alle völkischen und sozialen Schranken der Menschheit hinwegsah, keine Vorrechte des Adels mehr anerkannte, ja den Unterschied von Freien und Sklaven als in der »Natur« nicht begründet ansah. Wie weit damit ernste Gesinnung verbunden war, ob nicht vielmehr das Ganze als schöngeistiges Phrasengeklingel zu werten ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Andere Sophisten verstanden dagegen wieder unter dem Rechte der »Natur« gegenüber der Menschensatzung das freie Waltenlassen des brutalen Rechts des Stärkeren: so daß ein einheitliches Ziel der Sophistik überhaupt nicht zu erkennen ist.
Wenigstens kein anderes als das rein negative der Bestreitung allgemeingültiger Wahrheiten. Die bisherigen Philosophen waren von der Voraussetzung einer solchen ausgegangen. Selbst Heraklits beständiges »Fließen« der Dinge hatte eine über alles gebietende Weltvernunft nicht geleugnet. Jetzt erhebt sich – und darin liegt die grundlegende Bedeutung der Sophistik innerhalb der Entwickelung der griechischen Philosophie – zum ersten Male drohend und beweglich die Frage: Gibt es überhaupt allgemeingültige Wahrheiten für unser Denken und unser Handeln?
Und diese erschütternde Frage tauchte in einer Zeit auf, in der sich so wie so schon das ganze politische und soziale, materielle und geistige, technische und künstlerische Leben Griechenlands, in erster Linie natürlich wiederum Athens, in reißend schneller Entwickelung befand, die eine Umwandlung aller sittlichen Anschauungen, eine Abwendung von allem Hergebrachten in Sitte, Gesetz und Religion mit sich brachte, die nur noch des beinahe dreißigjährigen Bruderkrieges (431-404) zwischen dem attischen und dem peloponnesischen Bunde bedurfte, um eine völlige Umkehrung des Bestehenden, eine tiefgreifende Zerrüttung aller Verhältnisse herbeizuführen.
Trotz alledem würde man fehlgehen, wenn man in dem von uns im Vorigen entworfenen Zeitgemälde bloß die allerdings nicht mangelnden tiefen Schatten beachten wollte. Nicht minder große Lichtseiten waren mit dieser überraschenden Entwickelung verbunden. Die Entfesselung des Individuellen (Persönlichen) brachte doch zugleich auch dessen Befreiung (soweit sie in einer noch so gebundenen Zeit überhaupt möglich war) von ungesundem Zwang und bloßer Gewohnheit. Auch in der Philosophie. Die philosophische Lehre trat aus dem engen Kreis der Schule heraus auf den offenen Markt unter alle, die dafür empfänglich waren. Und man grübelte jetzt nicht mehr bloß in weltabgewandter Betrachtung den ewigen, kaum lösbaren Rätseln des Seins und Werdens, des Entstehens und des Untergangs der Welten nach; das Hauptstudium wurde jetzt der Mensch mit seinem Vorstellen, Fühlen und Begehren, seiner privaten und öffentlichen Betätigung. Das soll nicht etwa heißen, daß die Sophisten sich nicht gelegentlich auch mit Naturwissenschaftlichem beschäftigt hätten – das ist im Gegenteil von fast allen unter ihnen nachgewiesen –, aber sie beziehen es dann immer irgendwie auf den Menschen, betreiben insbesondere die Theorie der Sinneswahrnehmung und ähnliches. Von Erkenntnislehre, Psychologie und Ethik waren, wenn wir von dem bereits mit der Sophistik gleichaltrigen Demokrit absehen, nach unseren Quellen zu urteilen, in der bisherigen Philosophie erst dürftige Anfänge zu verzeichnen. Jetzt verdrängte die Beschäftigung mit sprachlichen, logischen, psychologischen, Erkenntnis- und sittlichen Problemen fast alles andere, wie schon die anstatt des bisherigen eintönigen »Ueber die Natur« aufkommenden Büchertitel – von den Schriften selbst ist leider so gut wie nichts auf uns gekommen – beweisen können. Der Mensch wird jetzt in der Tat »das Maß aller Dinge«, wie der Hauptsatz des Vaters der Sophistik lautet, den wir im folgenden Kapitel noch zu besprechen haben werden.
Und nicht bloß für den Menschen als Abstraktum (abgezogenen Begriff) ist die Sophistik interessiert, sondern auch für die Menschen in all der bunten Mannigfaltigkeit ihres wirklichen Daseins. Der Sophist ist als Anthropologe (Menschenkundiger) zugleich Ethnograph (Völkerbeschreiber), »er vergleicht die fremdesten Völker und, mit sichtlicher Freude an der Aufzählung des Mannigfaltigen, auch die Verschiedenheit der Hellenenstämme«, die bekanntlich in Dorer, Jonier, Achäer und Aeolier zerfielen. »Er stellt neben den Hellenen den Barbaren (= Nichtgriechen) ans Licht, neben den Männern die Frauen, neben den Freien die Sklaven, neben den heutigen frühere, ja älteste Zeiten. Er vergleicht die verschiedenen Lebensalter, die verschiedenen Charaktere und Affekte, empfiehlt vielerlei Beschäftigungen, treibt vielerlei Künste und Wissenschaften, schöpft aus vielerlei Quellen vielartige Reden, macht aus der Polyhistorie (Vielwisserei) eine Kunst, kann jedem auf jede Frage kurz oder lang und immer wieder anders antworten, kann sehr Verschiedenes je nach dem Publikum und mit sehr verschiedenen Wirkungen vortragen.« (So in einer sehr zutreffenden Charakteristik Joël a. a. O. S. 705 f., der zugleich für jeden dieser Sätze zahlreiche Belege zitiert.)
Wir gehen an dieser Stelle nicht weiter auf die von den Sophisten betriebene Vermenschlichung oder Rationalisierung (»Vernunfterklärung«) der Religion oder auf ihre schon oben angedeutete völlige Relativierung der Politik ein, die allen politischen Standpunkten gewissermaßen das gleiche Recht gibt. Das alles liegt eben in ihrer allgemeinen individualisierenden, d. h. alles aus dem Standpunkte der Einzelpersönlichkeit herleitenden Stellung begründet. Aber feststellen wollen wir doch, daß dieser aufklärerische Individualismus in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, d. h. eben der Blütezeit der Sophistik, sozusagen in alle Poren des athenischen Gemeinwesens eingedrungen war, daß er in gleicher Weise auch bei Thukydides, dem Geschichtsschreiber, bei Euripides, dem Dramatiker dieser Zeit, Eingang gefunden hat, ja auch auf die Gegner der Sophistik selbst, Sokrates und seine Schüler, abgesehen vielleicht nur von Plato, Einfluß übt. Gewiß, der von den Sophisten eingeführte Grundsatz der Selbständigkeit des Individuums auf dem Felde des Handelns und des Denkens mußte, schrankenlos angewandt, Uebel mannigfachster Art erzeugen, aber mit seiner Anerkennung war doch auch ein ungeheurer Fortschritt erfolgt: die Anerkennung der freien Persönlichkeit in Philosophie und Leben. Ohne sie wäre auch ein erfolgreiches Wirken derjenigen nicht möglich gewesen, die die Sophistik zu überwinden berufen waren: des Atheners Sokrates und seines größten Schülers Plato.
Die »Sophisten« stellen keine in sich geschlossene Bewegung dar, sondern sind eine »vielköpfige« Gesellschaft, von der jeder sein besonderes Gepräge trägt. So bildet sich denn auch in Platos Dialog Protagoras um jedes der drei dort geschilderten Häupter (Protagoras, Hippias, Prodikos) ein besonderer Hörer- und Anhängerkreis. Wir wenden uns zunächst den ältesten und bekanntesten unter ihnen zu, den um 480 v. Chr. geborenen Protagoras von Abdera und Gorgias von Leontinoi.