Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir lassen das älteste, erst in unseren Tagen sich mehr und mehr aufhellende Zeitalter griechischer Kultur beiseite. Aber bei Homer müssen wir beginnen, weil dieser im ersten philosophischen, d. h. eben im sechsten Jahrhundert ja zur Bibel, zum Schulbuch, kurz zum allgemeinen Volksbuch geworden war, dessen Verse jedermann im Munde trug, zu dessen Anschauungen darum auch die Philosophen Stellung nehmen mußten. Ein Bild der homerischen »Weltanschauung« freilich können wir zumal demjenigen Leser nicht geben, der sie nicht aus eigener Lektüre des Vaters Homer oder doch eingehenden Berichten darüber kennt; sondern nur einige charakteristische Züge kurz zusammenfassen.
Vor allem muß man sich gegenwärtig halten, daß die beiden großen Epen, Ilias wie Odyssee, noch ganz vom ritterlichen oder »Herren«-Standpunkt aus geschrieben sind, genau so wie unsere großen deutschen Epen des Mittelalters, das Nibelungenlied und der Parzival. Das »Volk« erscheint als durchaus bedeutungsloser Zuschauer der Haupthandlung; es besteht aus »Knechten«, die sich für ihre Herren zu opfern haben. Die einzige Stelle, wo von dem Leben dieses Volkes etwas näher die Rede ist, findet man bei der ausführlichen Beschreibung des vom Schmiedegott Hephaistos gefertigten Riesenschildes des Achilles, auf dem eine Reihe von Bildern aus dem Leben einer Kleinstadt und ihrer ländlichen Umgebung angebracht sind (Ilias, Buch XVIII, Vers 490 ff.). Der Stärkere, manchmal auch der Schlauere (Odysseus!) siegt, wenngleich der Dichter auch mit dem edlen Ueberwundenen (Hektor) Mitgefühl hat. Neben Tapferkeit und Klugheit wird jedoch auch schon die Tugend des Maßhaltens gepredigt, im Gegensatz zu der »Hybris«, dem Frevelmut, der von dem über Götter und Menschen gleichmäßig waltenden Schicksal (der Moira) bestraft wird. Vaterlandsliebe, d. h. eigentlich nur Liebe zur engeren Heimat, Freundschaft, Edelmut gegen Bedrängte und Hilfeflehende, Achtung vor dem Weib als Gattin: das sind weitere Züge dieses Heldenzeitalters. Von religiöser Sehnsucht findet sich keine Spur. Der homerische Grieche ist so naiv, daß er über das Erdendasein nicht hinausdenkt. Selbst der hochgesinnte und stolze Achill, der ruhmvollste aller Griechenhelden vor Troja, möchte lieber der geplagte Ackerknecht eines armen Bauern als Herrscher im Reiche der Toten sein! Von philosophischer Moral ist in dieser ganzen, sehr natürlich geschilderten und deshalb uns noch fesselnden Welt menschlicher Leiden und Freuden selbstverständlich keine Rede.
Anders steht es schon mit dem im achten Jahrhundert, wahrscheinlich bald nach den homerischen Liedern entstandenen Lehrgedichte des im Böoterlande lebenden Hesiodos. Seine »Werke und Tage«, eine Art poetischen Bauernkalenders, geben zum ersten Male Kunde von der Werktagsstimmung des einfachen Volkes, und zwar eines hart arbeitenden Landvolkes, das unter dem Drucke und der Ausbeutung durch die ungerechten und bestechlichen »Fürsten«, d. h. regierenden Edelleute, seufzt. Er glaubt zwar an eine kommende Zeit ausgleichender Gerechtigkeit, wo es den Armen und Gedrückten einmal besser gehen wird. Aber auch dann wird Arbeit die höchste Menschentugend sein; denn vor die Erreichung der Tugend (Tüchtigkeit) und der damit verbundenen Befriedigung »haben die unsterblichen Götter den Schweiß gesetzt«. Hesiod, der früheste griechische Lehrdichter überhaupt, hat auch eine »Theogonie«, d. h. eine Lehre von der Entstehung und Fortpflanzung der Götter, verbunden mit einer Weltentstehungslehre, geschrieben, die jedoch noch keine in strengerem Sinne philosophischen, d. h. wissenschaftlichen, Bestandteile in sich birgt.
Auch in den verschiedenen griechischen Stämmen entwickelt sich eine verschiedene sittliche Eigenart. Der rauhe Kriegerstaat der Spartaner mit seiner »lykurgischen«, d. h. durch einen sagenhaften Gesetzgeber Lykurg geregelten Erziehung; im stärksten Gegensatz dazu die, zum Teil durch ihren üppigen Reichtum, zum Teil durch das nahe Morgenland früh verweichlichten Kolonialgriechen; in der Mitte zwischen beiden das maßvoll kluge, gebildete Volk der Athener.
Auch in den politischen und sozialen Verhältnissen treten in diesen Jahrhunderten stärkste Veränderungen ein. Das Königtum wird fast überall abgeschafft; statt dessen lebhafte, zuweilen wilde Parteikämpfe um die Herrschaft zwischen den alten Geschlechtern (der Aristokratie), dem mächtig in die Höhe gekommenen Neubürgertum (der Demokratie), oder auch den durch die Gunst der Masse auf den Thron gelangten kühnen »Tyrannen«. Die frühesten Philosophen, die wir kennen lernen werden, sind zum Teil Gesetzgeber ihrer Städte – Städte und Staaten ist ja für Alt-Griechenland fast dasselbe – gewesen.
Alle diese Umstände mußten allmählich auch ein lebhafteres Nachdenken über die sittlichen Fragen des Lebens hervorrufen, wie es sich in der im siebenten Jahrhundert aufkommenden Spruchdichtung geltend macht. Gewisse allgemeine Gedanken, wie der Trieb zur Selbsterkenntnis im' Denken, zum Maßhalten im Fühlen und Wollen waren allen Griechen mehr oder weniger gemein. Solche Sprüche, die ähnlich unseren Sprichwörtern im Volksmunde gang und gäbe waren, lauteten etwa: »Nur nichts übertreiben!«, oder: »Bedenke das Ende!«, oder: »Maßhalten ist das Wichtigste!«, oder: »Erkenne Dich selbst!«. Man legte sie dann mit Vorliebe allerlei klugen Leuten, wie Thales, dem ersten Philosophen, Solon, dem weisen Gesetzgeber Athens, Periander, dem klugen Tyrannen von Korinth, und ähnlichen in den Mund, woraus später die Sage von den sogenannten » sieben Weisen« entstanden ist.
Das alles aber hätte noch immer nicht die Entstehung der Philosophie unter den Griechen bewirkt, wenn nicht noch ein anderes hinzugekommen wäre: die Anfänge wissenschaftlichen Denkens. Damit sind wir endlich an unser eigentliches Thema herangekommen.