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Auf der Elea entgegengesetzten Seite, an der Ostküste der süditalischen Halbinsel, da wo die Bucht von Tarent in das offene Jonische Meer übergeht, lag das schon im achten Jahrhundert gegründete und zu einer reichen Handelsstadt herangeblühte Kroton. In diese, auch durch eine medizinische Schule berühmte Stadt wanderte in seinen reiferen Mannesjahren der um 580 auf der Insel Samos als Sohn eines Steinschneiders geborene Pythagoras ein. Wahrscheinlich aus politischen Gründen. Denn die Insel und Stadt Samos hatte zwar damals bereits einen hohen Grad von Kultur, besonders auch in der Technik, wie Diels gezeigt hat (Tempel der Hera, Tunnelbohrungen), erreicht, war aber unter die Botmäßigkeit eines sogenannten »Tyrannen«, d. i. Alleinherrschers, des uns durch Schillers Ballade bekannten Polykrates, gekommen, dem sich, wie es scheint, Pythagoras nicht fügen wollte. Letzterer war ein Mann von vielem Wissen, wie ihm auch sein Gegner Heraklit nachsagt; er hatte es sich anscheinend nicht bloß durch Studien, sondern auch durch ausgedehnte Reisen erworben, muß überhaupt eine mächtig imponierende Persönlichkeit gewesen sein. Um so bedauerlicher ist, daß wir fast nichts Zuverlässiges über ihn wissen. Denn es mangelt zwar über ihn und über den von ihm gestifteten Ordensbund keineswegs an Nachrichten; aber deren echter Kern ist so stark von allen möglichen Legenden (Sagen) überwuchert, daß sich die Wahrheit nur schwer herausschälen läßt.
Nach den Wundererzählungen über ihn, die sich bis zur Zeit der »Neu-Pythagoreer« im dritten und vierten nachchristlichen Jahrhundert immer mehr anhäufen, ist er ein Sohn Apolls, oder gar eine Verkörperung dieses Gottes selbst, mindestens aber ein großer Wundertäter, Prophet und Religionsstifter. So scheint denn der von ihm in Kroton gegründete Bund oder Orden in erster Linie eine religiöse, mit den Formeln des damaligen Mysterienwesens (s. oben, S. 11) umgebene Bruderschaft gewesen zu sein, in die nur die höheren Gesellschaftsschichten Einlaß fanden, und die dadurch von selbst ein aristokratisches und, weil er Einfluß auf die öffentlichen Sitten erstrebte und erlangte, auch politisches Gepräge gewann. Der pythagoreische Bund – sein enger Freundeszusammenhang auch noch in späterer Zeit ist uns durch Schillers »Bürgschaft« von Jugend auf geläufig – dehnte seinen Einfluß auch auf eine Reihe anderer Städte »Großgriechenlands« aus. Es kam vielfach zu Reibereien mit seinen Gegnern, namentlich den unteren Schichten der Bevölkerung und deren Führern, denen er mit Schroffheit entgegentrat. Politische Kämpfe dieser Art veranlaßten den Ordensstifter, noch in seinem Alter nach der ihm freundlicher gesinnten Nachbarstadt Metapont auszuwandern, wo er um 500 v. Chr. gestorben sein soll und sein Andenken noch nach einem halben Jahrtausend zu Ciceros Zeiten in Ehren gehalten wurde. Nach mehreren Menschenaltern, sicher zwischen 450 und 410, fand eine allgemeine Erhebung Wider die Pythagoreer statt. Ihr Vereinshaus in Kroton wurde verbrannt; diejenigen, welche nicht getötet wurden, flüchteten nach Rhegion an der Südspitze Italiens oder nach Altgriechenland, insbesondere Theben in Böotien, wo wir ihnen alsbald wieder begegnen werden.
Welcher Art war nun die »pythagoreische Lebensführung«, die der Stifter in seiner religiösen Gemeinschaft einführte? Auch darüber sind für die Zeit der Gründung nur Vermutungen erlaubt. Dreierlei aber scheint doch schon früh, und zwar in innerem Zusammenhang miteinander, den theoretischen Grundstock des pythagoreischen Glaubens gebildet zu haben: Die Verwandtschaft des Menschen mit den Tieren, die daraus hervorgehende Enthaltung von der Fleischnahrung und die Lehre von der Seelenwanderung. Auf sittlichem Gebiete ging damit eine ernste Lebensführung Hand in Hand. Wir haben zwar auch darüber bestimmte Kunde erst aus späterer Zeit, aber keinen Anlaß, sie auch für die Lebenszeit des Pythagoras selbst zu bezweifeln. Einfachheit, Mäßigkeit, Abhärtung zum Zweck der Gesundhaltung von Leib und Seele, Selbstbeherrschung, strenge Unterordnung unter das Gesetz, Treue gegen Götter, Eltern, Freunde: das waren die von den Mitgliedern verlangten Tugenden. Man hat von ihnen nicht ohne Grund gesagt, daß sie der dorisch-spartanischen Art verwandt seien. Indes Pythagoras selbst war Jonier und die Krotoniaten doch wohl auch nur zum Teil von dorischer Abkunft. Man könnte ebenso gut von einer Verwandtschaft mit italischer oder altrömischer Art sprechen. Jedem Ordensgenossen war außerdem tägliche Selbstprüfung auferlegt: Was tat ich? Worin fehlte ich? Ein lebhafter Sinn für feste Ordnung der Lebensführung zeichnet jedenfalls die Pythagoreer aus.
Allein wichtiger für uns ist an dieser Stelle ihre Philosophie, ihre Lehre. Auch auf diesem Felde steht über den Stifter des Bundes kaum etwas anderes mit Sicherheit fest, als daß er die Aufmerksamkeit seiner Jünger, – und zwar über das praktische Bedürfnis hinaus, mithin aus rein wissenschaftlichem Antrieb – auf die Mathematik und die Zahlen gelenkt habe, wie ja auch der bekannte geometrische Lehrsatz, daß in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden anderen Seiten ist, auf ihn zurückgeführt wird. Auch die Beschäftigung mit der Astronomie, der musikalischen Harmonie und die Uebertragung dieser Harmonie sowohl auf die Lehre von den Gestirnen wie auf das sittliche Leben, endlich die Lehre von der Seelenwanderung gehen höchstwahrscheinlich auf Pythagoras selbst zurück. Da jedoch kein einziger schriftlicher Satz von ihm vorliegt, sondern die uns überlieferte Lehre von Aristoteles nur den »sogenannten Pythagoreern« zugeschrieben wird, von denen bestimmt mit Namen Genannte erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts auftreten, so behandeln wir, ohne über ihren zeitlichen Ursprung etwas Bestimmtes feststellen zu wollen, diese zusammenfassend als
Wir finden sie vor allem in den erhaltenen Bruchstücken aus der Schrift des Pythagoreers Philolaos, der gegen Ende des 5. Jahrhunderts in dem bis dahin ziemlich unphilosophisch gebliebenen Theben lebte und unter anderen die in Platos Dialog Phaidon (lateinisch Phädo) vorkommenden Simmias und Kebes zu Schülern gewann. In derselben Böoterstadt wirkte um diese Zeit oder bald nachher auch der dem Blutbad in Kroton entronnene Lysis, dessen Schüler der junge, später so berühmt gewordene Epaminondas wurde. Nächst den 1819 von dem berühmten Philologen A. Boeckh in Berlin herausgegebenen Philolaos-Fragmenten, sind die zuverlässigsten Berichterstatter über die pythagoreische Lehre, sowohl in Hinsicht auf Zeitnähe als Urteilsfähigkeit, natürlich die beiden großen Denker Platon und Aristoteles, die uns beide manches über sie berichten.
1. Das neue Prinzip: die Zahl
Das Eigenartig-Neue an der pythagoreischen Philosophie ist, daß hier zum ersten Male in der Geschichte des abendländischen Philosophierens nicht mehr ein mit den Sinnen wahrnehmbarer Stoff als Urgrund der Dinge aufgestellt wird, sondern ein reines Gedankending: die Zahl. Die Pythagoreer, so berichtet Aristoteles im fünften Kapitel des ersten Buches seiner Metaphysik, »beschäftigten sich zuerst mit der Mathematik, förderten sie und, in ihr auferzogen, hielten sie die mathematischen Prinzipien für die Prinzipien alles Seienden … Und in den Zahlen die Eigenschaften und Gründe der Harmonie erblickend, da ihnen das andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen nachgebildet erschien, die Zahlen aber das Erste in der gesamten Natur, faßten sie die Elemente der Zahlen als die Elemente aller Dinge auf und das ganze Weltall als Harmonie und Zahl«. Wenn man diese anscheinend übertriebene Hervorkehrung und Lobpreisung des Zahl-Prinzips verstehen will, so muß man sich von unseren gewohnten Vorstellungen losmachen, die wir das Einmaleins mit fünf oder sechs Jahren gelernt haben, denen das Zählen und Messen von Jugend auf gewissermaßen zur anderen Natur geworden ist. Damals war es der Menschheit noch etwas ganz Neues, und so mußte denn ihren Entdeckern seine Fruchtbarkeit unermeßlich scheinen, mußten sie zu der Ansicht kommen: »Ohne die Zahl läßt sich nichts erfassen noch erkennen.« Und: »Kenntnis spendend ist die Natur der Zahl, führend und belehrend über jegliches Zweifelhafte und Unbekannte. Denn niemandem wäre das Geringste von den Dingen weder an sich noch in ihren Verhältnissen zueinander offenbar, wäre nicht Zahl und ihre Wesenheit. So aber macht sie, der Seele es anpassend, alles der Wahrnehmung erkennbar.« Dazu kam das Bewußtsein der unbedingten Gewißheit, die der Arithmetik eigen ist. »Nichts von Lug nimmt die Natur der Zahl, die Harmonie besitzt, in sich auf,« schreibt Philolaos, denn »Lug ist der Natur unversöhnlicher Feind, die Wahrheit dagegen eigen und angeboren dem Geschlechte der Zahl.«
2. Anwendung auf die Wissenschaften
Eine glänzende Bestätigung dieser mathematischen Gesetzlichkeit ergab sich ihnen dann bei ihren mannigfachen, auf die Geometrie, die Physik, die Musik, die Astronomie – also so ziemlich alle damals bestehenden Wissenschaften – gerichteten Studien. Als Mittelglied zwischen der Zahl und der Natur erschien ihnen das Symbol der Geometrie, das Winkelmaß. Und von arithmetischen Sätzen über die Quadratverhältnisse der Zahlen aus (z. B. 32 + 42 = 52) sind sie wahrscheinlich zu geometrischen Lehrsätzen gekommen, wie zu dem noch heute nach dem Namen ihres Meisters genannten. Auch auf den physikalischen Begriff des Leeren, der im übrigen erst in der Atomistik (s. Kap. 7) zu voller Beleuchtung kommt, haben sie schon aufmerksam gemacht. Und indem sie zuerst die Zahlenverhältnisse der Saitenlänge auf der Zither, aus denen die Tonhöhe und der Wohlklang hervorgehen, genau bestimmten, schufen sie die mathematische Grundlage der musikalischen Harmonie. Sie stellten die Intervalle (Zwischenräume) zwischen den Tönen mathematisch fest, unterschieden bereits Klanggeschlechter und Tonarten. Den Gedanken der Harmonie übertrugen sie schließlich auch auf das ganze All, dem sie vielleicht (vgl. S. 23) zuerst den Namen des Kosmos (= Ordnung) verliehen haben. Sie waren in ihrer Kenntnis der Astronomie ihren Zeitgenossen weit voraus. Haben sie doch schon gelehrt, daß die Erde und die übrigen Gestirne leuchtende Kugeln seien, die in zahlenmäßig bestimmten Abständen kreisförmig – wie es dann weiter in der dichterisch-bildnerischen Sprache der Zeit heißt – ihren Reigen um das heilige Zentralfeuer, die »Burg des Zeus« oder den »Herd des Weltalls«, aufführten. Ja, die Syrakusaner Hiketas und Ekphantos, die zu den Pythagoreern gezählt werden und im vierten Jahrhundert lebten, sollen bereits die Drehung der Erde um ihre Achse behauptet haben.
3. Metaphysische Anwendungen
Begeistert von dem neuen Prinzip, sagt Philolaos einmal: »Du kannst aber das in der Zahl liegende Wesen und ihre Kraft nicht bloß, in den dämonischen und göttlichen Dingen walten sehen, sondern auch überall in allen menschlichen Werken und Worten, sowie auch in allen technischen Verrichtungen und in der Musik.« Wir haben das zum Teil schon im vorigen Abschnitt bewahrheitet gesehen, nehmen aber, wie sich von vornherein denken ließ, daneben auch eine Ausdehnung des neuen Prinzips über die Grenze der Wissenschaft hinaus, in das Gebiet des Metaphysischen (»hinter« der Natur Liegenden) wahr. So sollen die geraden Zahlen das Unbegrenzte ausdrücken, während die ungeraden, weil sie der Zweiteilung eine Schranke setzen, das Begrenzende darstellen sollen. Diesem Urgegensatz wurden dann weiter folgende angereiht, wobei der zuerst genannte Begriff jedesmal das Begrenzende, Bestimmende, mithin auch Vollkommnere ausdrückt:
1. Eines – Vielheit
2. Rechtes – Linkes
3. Männliches – Weibliches
4. Ruhendes – Bewegtes
5. Gradliniges – Krummes
6. Licht – Finsternis
7. Gutes – Böses
8. Quadrat – Rechteck
Allein die einmal geweckte Phantasie ging noch weiter. Oder, wie Aristoteles sich ausdrückt, man suchte nicht im Hinblick auf die Tatsachen nach Erklärungen und Theorien (Lehrmeinungen), sondern zerrte im Hinblick auf gewisse Theorien und Lieblingsmeinungen an den Tatsachen und spielte sich sozusagen als Mitordner des Weltalls auf, wie ja so manche alte und neue Metaphysiker bis heute es getan haben.
So wurde zur Vervollständigung der als heilig geltenden Zehnzahl außer Erde, Mond, Sonne, den schon damals bekannten fünf Planeten und dem Fixsternhimmel als zehnte »Sphäre« (Kugel) noch eine sogenannte »Gegen-Erde« ersonnen. Die Entfernungen der Gestirne aber voneinander wurden nach den Abständen der musikalischen Töne berechnet, und weil alles in schneller Umdrehung befindliche einen Klang von sich gibt, eine himmlische »Sphären-Harmonie« erdichtet. Ja, wie öfters mit mathematischem Scharfsinn wunderlicher Weise mystische Phantastik sich verbindet, von den Arabern über Kepler bis zu Fechner und Zöllner im 19. Jahrhundert, so trieben die Pythagoreer – und erst recht die Neupyhthagoreer der nachchristlichen Zeit – die phantastischste Zahlensymbolik und Zahlenspielerei. Es hat noch einen guten Sinn, wenn 1 den Punkt, 2 die Linie, 3 das Dreieck, 4 die Pyramide bedeuten soll. Aber es klingt doch außergewöhnlich gekünstelt, wenn die Zahl 4 (als Gleiches + Gleiches) gleichzeitig die Gerechtigkeit, 5 (= 3 + 2, erste männliche + erste weibliche Zahl) die Ehe, 6 die Seele, 7 den Verstand, das Licht und die Gesundheit symbolisch darstellen soll usw.
4. Psychologisches und Ethisches
Natürlich haben die Pythagoreer, namentlich die jüngeren, auch Psychologie getrieben. Aber es läßt sich heute nur schwer entscheiden, was ihnen dabei eigentümlich und was von anderen Philosophen, wie Empedokles und Platon, übernommen ist. Sie scheint bei ihnen auf physiologischem Grunde zu ruhen und steht insofern vielleicht in Verbindung mit der Lehre des Arztes Alkmaion, der ein jüngerer Zeitgenosse des Pythagoras war und gleichfalls in Kroton lebte. Nach ihm beruht Gesundheit aus dem Gleichgewicht der Kräfte: Warm und Kalt, Trocken und Feucht, Süß und Bitter usw., Krankheit auf deren Störung. Wie Alkmaion den Sitz der Seele bereits in das Gehirn verlegte, so sah auch Philolaos das Gehirn als Prinzip des Verstandes und des Menschen überhaupt an, das Herz als das der Empfindung und des Tieres, den Nabel als das des Wachstums und der Pflanze, die Geschlechtsteile als das der Zeugung und aller Lebewesen zusammen, die ja alle blühen und wachsen. Und auf jenes Gleichgewicht der natürlichen Kräfte im gesunden menschlichen Körper gründet des Philolaos Schüler Simmias im platonischen Phädo die Vorstellung, daß auch die Seele auf einer Art Zusammenstimmung beruht, also eine Harmonie darstellt.
Das leitet uns denn auch zu ihren sittlichen Vorstellungen über, die ebenfalls das Gepräge des Harmonischen und des Geordneten tragen, und die wir schon oben, bei der Darstellung des Pythagoras selber, kennen lernten. Sie wurden in mannigfaltigen praktischen Lebensregeln und Sinnsprüchen späteren Geschlechtern weiter überliefert. Eine Sammlung derselben bietet z. B. das frühestens aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammende sogenannte »Goldene Gedicht«.
Daß der auch heute noch bei allen möglichen Naturvölkern, sowie den indischen Religionen zu findende, ja auch in manche europäische Gemüter höchster Kultur (Nietzsches Lehre von der »ewigen Wiederkunft«!) eingedrungene Glaube an die Seelenwanderung schon von dem Stifter der pythagoreischen Brüderschaft geteilt wurde, ergibt sich unter anderem daraus, daß schon der ihm beinahe gleichaltrige, besonnene und vielgewanderte Xenophanes in ziemlich spöttischem Tone die Anekdote von Pythagoras erzählt, dieser habe einmal, als er einen Hund mißhandeln sah und winseln hörte, voll Mitleid ausgerufen: »Laßt ab und schlagt ihn nicht! Denn es ist die Seele eines befreundeten Mannes, die ich an dem Ton ihrer Stimme erkenne.« Und der doch ziemlich zuverlässige Aristoteles bezeugt ausdrücklich: »Nach pythagoreischen Sagen gehen beliebige Seelen in beliebige Körper ein.« Auch der verständige Philolaos scheint daran zu glauben, wenn er sagt: »Es bezeugen aber auch die alten Theologen und Seher, daß infolge einer Art Buße die Seele mit dem Körper zusammengejocht und in ihm wie einem Grabe bestattet ist.« Der Pythagoreismus trifft in diesen Anschauungen mit den Geheimlehren der alten »Orphiker« (s. oben S. 12) zusammen. Doch das ist keine Philosophie mehr, sondern religiöse Mystik. Die Leser, die sich dafür interessieren, verweisen wir auf das vortreffliche Kapitel »Der orphisch-pythagoreische Seelenglaube« im ersten Bande von Theodor Gomperz' »Griechischen Denkern«.
Zu Platos Zeit, also in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts, gelangten übrigens die Pythagoreer auch in Unteritalien wieder zu Einfluß: einer ihrer edelsten Vertreter, der weise Archytas, steht längere Zeit an der Spitze des mächtigen Gemeinwesens von Tarent (vgl. den Roman »Agathon« unseres Wieland). Bald darauf aber verlieren sich alle Spuren des Pythagoreismus, der erst beinahe ein halbes Jahrtausend später aus dem Boden des römischen Weltreichs und in veränderter Gestalt aus kurze Zeit neu wieder erwacht.
Die drei Milesier Thales, Anaximander, Anaximenes nebst Heraklit, die Eleaten und Pythagoras bilden die älteste Stufe der griechischen Naturphilosophie. Nur ihre Ausläufer (Zenon, Melissos, Philolaos und die späteren Pythagoreer) gehören schon dem glänzendsten Jahrhundert der griechischen Geschichte, dem fünften vorchristlichen, an; sie selbst wirken fast durchweg noch im sechsten. Neben diese ältere tritt nun im fünften Jahrhundert eine jüngere Naturphilosophie, die von der älteren einzelnes übernimmt, aber doch selbständige Züge zeigt. Auch sie wird vertreten durch drei untereinander ganz verschiedene Gestalten: Empedokles, Anaxagoras und Demokrit.