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(6. Jahrhundert)
Nach der Geschichtsauffassung von Karl Marx ist die wirtschaftliche Entwickelung von Ausschlag gebendem Einfluß nicht bloß für die rechtliche und politische Gestaltung, sondern auch für den geistigen Inhalt bestimmter Völker in bestimmten Geschichtsperioden. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, wie weit diese Auffassung wissenschaftlich berechtigt ist. Sie trifft jedenfalls in bedeutendem Maße zu für den Entstehungsort der ältesten griechischen Philosophie. Ihre Heimat ist nicht das um 600 wirtschaftlich noch ganz unentwickelte Athen, geschweige denn der weltabgeschiedene Kriegerstaat Sparta, sondern das in Handel und Gewerbfleiß am weitesten fortgeschrittene Kolonialland, d. h. die kleinastatischen, mazedonischen und süditalienischen Küsten des Mittelmeeres, an denen griechischer Wagemut und Unternehmungsgeist, namentlich im achten und siebenten Jahrhundert, einen reichen Kranz blühender Pflanzstädte gegründet hatte. In diesem dem fremdstämmigen Binnenland vorgelagerten kolonialen Küstenland entwickelte sich weit früher als im althellenischen Mutterland eine blühende Handels- und in ihrem Gefolge auch eine rege politische, wissenschaftliche und künstlerische Kultur, die freilich bei dem raschen Anwachsen des Wohlstandes zu fast mühelos erworbenem Reichtum auch mancherlei sittliche Schäden mit sich brachte.
Am weitesten den anderen voraus war wiederum der regsame jonische Stamm, der in der Mitte der fruchtbaren kleinastatischen Westküste und auf den ihr benachbarten Inseln sich angesiedelt hatte. Hier erklangen am frühesten die Gesänge Homers, hier entstand zuerst die Lyrik (Liederdichtung), die bereits geschlossene, in sich abgerundete, dichterische Einzelpersönlichkeiten voraussetzt, hier setzten die Anfänge der Geschichtschreibung ein, hier wurden die ersten großen Werke der bildenden Kunst, wie der 590 begonnene berühmte Artemistempel zu Ephesus, geschaffen. Und, was für uns das Wichtigste ist, auf diesem Boden wuchsen durch die nähere Verbindung mit den alten, früher entwickelten Kulturvölkern des Orients: den Phöniziern, Aegyptern, Chaldäern usw., die ersten Anfänge der Wissenschaft früher und reicher als in Althellas empor. Nicht bloß das Münzwesen, Maß und Gewicht, die Gliederung der Zeit, sondern vor allem auch die Schrift, diesen »Umgestalter der Menschheit« (Th. Birt), empfing der Grieche von den östlichen Nachbarn. Jetzt erst konnte der Kaufmann rechnen und seine Bücher führen, jetzt erst das Volk seine Gesetze und das Bürgerrecht aufschreiben, das fortan statt des bisherigen Königswillens galt. Und dann folgte, mit dem zunehmenden Handelsverkehr, nicht bloß eine erstaunliche Bereicherung der geschichtlichen und geographischen Kenntnisse und ein damit zusammenhängender weiterer geistiger Blick, sondern auch eine immer stärkere Naturbeherrschung durch die Naturerkenntnis: durch die von den Aegyptern übernommene Geometrie, die von den Chaldäern empfangene Mathematik und Astronomie.
In dem reichen und glücklichen, durch die Natur und Kultur in jeder Weise begünstigten Jonien aber war wiederum die blühendste und mächtigste Stadt, die Mutter ihrerseits von angeblich nicht weniger als 80 Tochterstädten an den Ufern des Mittel- und des Schwarzen Meeres, das an einem Küstenvorsprung günstig gelegene Milet. Hier blühten, bis die Besiegung und Zerstörung der Stadt durch die Perser 494 ihr ein Ende bereitete, nicht bloß Seehandel und Industrie, sondern auch wissenschaftliche Forschung. Die ersten drei Philosophen, von denen uns die Geschichte Kunde gibt, sind Milesier gewesen: Thales, Anaximandros und Anaximenes.
Die Gestalt dieses »Oberanführers« oder »Stammvaters« (Ahnherrn) der Philosophie, wie ihn Aristoteles nennt, ist so von Sagen verdunkelt, daß es schwierig ist, einen sicheren Wahrheitskern herauszuschälen. Namentlich die antike Hauptquelle unserer philosophie-geschichtlichen Kenntnisse, des im dritten nachchristlichen Jahrhundert schreibenden Diogenes Laërtius »Leben und Meinungen berühmter Philosophen«, umgibt ihn mit einer solchen Fülle von anekdotenhaften Nachrichten, daß es nicht ganz einfach ist, das Wahrscheinlichste davon festzustellen. Als solches ergibt sich über sein Leben und seine allgemeine wissenschaftliche Persönlichkeit etwa folgendes:
Thales stammte aus einer vornehmen milesischen Familie, die ihren Ursprung auf den berühmten phönizischen Sagenhelden Kadmos zurückleitete. Er lebte zwischen 625 und 545, war also ein Zeitgenosse des reichen Lyderkönigs Krösus und des weisen Solon aus Athen. Er soll seinen Mitbürgern auch ein guter politischer Ratgeber gewesen sein, indem er sie von einem Bündnis mit Krösus abhielt und so vor der Unterwerfung durch Cyrus rettete, während seine innerpolitische Mahnung zu einem Zusammenschluß aller kleinasiatischen Griechenstädte zu einem Bundesstaat leider nicht durchdrang. Aber seine Haupttätigkeit fiel doch auf das Gebiet der eben erst entstehenden jungen Wissenschaften, der Mathematik, Physik und Astronomie. So soll er mehrere mathematische Lehrsätze entdeckt, die ägyptischen Priester die Höhe ihrer Pyramiden aus deren Schatten zu messen gelehrt, den Himmel als Hohlkugel erkannt, seine seefahrenden Landsleute auf das Sternbild des kleinen Bären als Nordweiser hingewiesen und das Jahr in 365 Tage eingeteilt haben; auch auf dem Gebiete der Wasserbautechnik war er erfahren. Das Merkwürdigste aber war, daß er die am 28. Mai 585 während einer Schlacht zwischen den Persern und Lydern eintretende Sonnenfinsternis richtig voraussagte; natürlich kann er das noch nicht auf dem Wege moderner mathematischer Berechnung, sondern wohl nur auf dem Grunde der von den Chaldäern (Babyloniern) gesammelten erfahrungsmäßig-genauen Beobachtungen der zwischen den einzelnen Finsternissen verstreichenden Zeiträume vermocht haben.
Indes dies feste Verwachsensein mit den positiven Wissenschaften kann ihn allem noch nicht zum Philosophen stempeln, und diese Eigenschaft ist ihm denn auch neuerdings (z. B. von H. Leisegang) bestritten worden. Aber wenn wir dem Bericht des Aristoteles (im dritten Kapitel des ersten Buches seiner »Metaphysik«) folgen – und wir haben keinen Anlaß, ihm zu mißtrauen –, so hat Thales als erster unter den Griechen die Weltentstehung nicht mehr religiös-mythologisch, sondern wissenschaftlich zu erklären versucht, indem er nicht mehr eine Gottheit, sondern einen Stoff als Urgrund der Dinge annahm. Eine solche Ur-Sache glaubte er im Wasser zu finden. Die Begründung kennen wir leider nicht mehr, da schon zu Aristoteles' Zeit kein zuverlässiges schriftliches Wort mehr von ihm vorhanden gewesen zu sein scheint. Denn dieser stellt seinerseits nur Vermutungen über die möglichen Gründe des Thales auf: daß aller Same feucht sei, daß auch die Lebenswärme sich aus dem Feuchten entwickele; wozu wir uns wohl noch die unendliche Wandelbarkeit gerade des flüssigen Elements hinzudenken dürfen. Wasser war ja auch das Lebenselement seiner Heimat. Nur, wo Wasser fließt, sprießt das Leben. Millionen Jahre hindurch lebten Pflanzen und Tiere einzig im Wasser. Und wenn sich Thales die Erde als eine Scheibe vorstellte, die auf dem sie rings umgebenden Meere schwimme, so wissen wir heute, daß in der Tat über zwei Drittel der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind.
Wenn ferner nach einer anderen Stelle des Aristoteles (in seiner Schrift »Ueber die Seele«, I, 5) unser Naturphilosoph geglaubt haben soll: »Alles sei voll von Göttern«, so ist dieser Ausdruck zu unbestimmt, um sichere Schlüsse daraus zu ziehen. Er wollte mit dieser, der Anschauungsweise seines Volkes (s. Einleitung) entnommenen, dichterisch klingenden Wendung vielleicht nur sagen, daß alle Kraft im Stoffe liege und insofern aller Stoff beseelt sei; wie er das im einzelnen von dem Magneten, der das Eisen anzieht, behauptete: eine Lehre, die man später als Hylozoismus (Stoffbelebung) bezeichnet hat, und die bei unseren neuesten Naturphilosophen, wie Haeckel und den meisten »Vitalisten« (Verfechtern einer besonderen »Lebenskraft« in den Dingen) wiederkehrt.
Wie dem nun auch sein mag: das Wichtigste ist, daß – anscheinend doch von Thales – nicht mehr ein Gott wie der Urvater Okeanos (Ozean) oder dessen Gattin, die Mutter Thetys, die Tochter des Himmels (Uranos) und der Erde (Gaia), sondern eben ein Stoff als Urgrund alles Seienden aufgestellt wurde, somit das chemische Problem (wissenschaftlich zu untersuchende Frage) des Urstoffes als erstes philosophisches Problem aufgestellt worden ist.
Ein weiterer Fortschritt auf diesem Wege erfolgte durch Thales' Nachfolger, seinen Landsmann
Auch die Gestalt dieses zweiten Milesters steht noch nicht klar umrissen vor uns. Wenig jünger als Thales – er lebte von 610 bis 546 – zeichnete er sich gleich diesem, als dessen Schüler er bezeichnet wird, durch mathematische und astronomische, zudem auch noch geographische Kenntnisse aus. Er soll den Gebrauch der in Babylon erfundenen Sonnenuhr in Griechenland eingeführt haben; vor allem aber entwarf er die erste Weltkarte und dazu eine Himmelskarte zur Orientierung der Seefahrer während der Nacht. Auch er diente seiner Vaterstadt als Politiker, indem er die Anlage ihrer Pflanzstadt Apollonia am Schwarzen Meere leitete. So ist es denn wohl erklärlich, daß seine Mitbürger eine Ehrenbildsäule von ihm aufstellten, deren Ueberreste heute im Berliner Museum für Völkerkunde stehen (Diels). Er hat auch – denn von Thales steht in dieser Beziehung Sicheres nicht fest – die erste philosophische Schrift geschrieben, der ihrem Gegenstande nach später, wie allen Schriften der ersten griechischen Naturphilosophen, der Titel »Ueber die Natur« beigelegt wurde.
Von dieser Schrift ist nun glücklicherweise wenigstens ein kurzes Bruchstück in dem Bericht eines spätgriechischen Gelehrten (Simplicius) erhalten, welches also lautet: »Woraus aber die Dinge entstehen, darein müssen sie auch wieder vergehen, gemäß dem Schicksal; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.« Eine düstere, mystisch gefärbte Weltanschauung spricht aus diesen seltsamen Worten. Dadurch, daß die Dinge überhaupt ein Sonderdasein führen, nehmen sie nach dieser Anschauung ein Unrecht, eine Schuld (Diels übersetzt sogar: Ruchlosigkeit) auf sich, für die sie durch ihren Untergang, ihre Wiederauflösung ins Allgemeine büßen müssen. Worin besteht aber dies »Allgemeine«, wie wir es vorläufig genannt haben?
Anaximandros (in der lateinischen Namensform Anaximander) bezeichnet es mit dem griechischen Worte Apeiron, wörtlich »das Grenzenlose«, was sowohl räumlich als »das Unendliche« oder ganz allgemein als »das Unbestimmte« verstanden werden kann. Er charakterisiert es dann weiter als »unsterblich« und »unvergänglich«. Strittig ist, ob er es als eine Mischung von verschiedenen Elementen, etwa ein Mittelding zwischen Erde und Wasser betrachtet, oder, was wahrscheinlicher ist, seine Zusammensetzung ganz unbestimmt gelassen hat. Im letzteren Falle wäre ein philosophischer Fortschritt über Thales hinaus darin zu erblicken, daß er mit seinem »Apeiron« kein bestimmtes sinnliches Element, sondern einen bloß gedachten, an sich unbestimmten Stoff als Urgrund der Dinge angenommen hat.
Wie hat sich nun dieser Urstoff weiter zu der heute bestehenden Welt entwickelt? Darüber haben sich auch gewiß Anaximandros' Vorgänger Thales und sein Nachfolger Anaximenes ihre Vorstellungen gemacht. Indes von Anaximandros allein sind sie uns überliefert worden. Danach schieden sich aus dem grenzenlosen, unbestimmten Urstoff, zunächst das Kalte und das Warme ab. Aus ihnen bildete sich das Flüssige und aus dem letzteren durch Austrocknen die Erde, so daß man in diesem Punkte an eine Anknüpfung des Schülers an den Lehrer (Thales) denken kann. Und nun lagerten sich die Stoffe nach ihrer Schwere. Den innersten Kern bildete die Erde, auf ihrer Oberfläche und um sie herum floß das Wasser, dann folgte die Luft und diese endlich war, wie der Baum von der Rinde, rund herum von einer kugelartigen Feuerschicht umgeben. Aus der letzteren lösen sich durch Bersten und Ringbildung Sonne, Mond und Sterne los, die unseren Planeten – eine Vorläuferin der pythagoreischen »Sphären-Harmonie« (s. Kap.4) – in zahlenmäßig bestimmten Abständen umkreisen.
Noch interessanter fast, weil an die moderne Abstammungslehre des Darwinismus erinnernd, ist Anaximandros' Lehre von der Entstehung und Fortbildung der lebenden Wesen, falls wir dem späten Berichte darüber Glauben schenken dürfen. Aus dem Meeresschlamm, der durch das allmähliche Austrocknen der Erde bloßgelegt wurde, stiegen die ersten Lebewesen ans Land, die dann ihre stachelige Haut abwarfen, wie der Schmetterling seine Larve, und sich überhaupt in Gestalt und Lebensweise den neuen Daseinsbedingungen anpaßten. Und wie die Haifische nach dem Volksglauben ihre neugeborenen Jungen wieder verschlucken, von neuem ausspeien usw., bis sie die zum Kampf ums Dasein erforderliche Reife bekommen haben, so geschah es auch mit den Vorfahren des Menschen, dessen Entwickelung natürlich am längsten von allen dauerte: wie man sieht, eine, wenn auch noch sehr rohe, Vorausahnung der modernen Deszendenztheorie (Abstammungslehre).
So entstand unsere Welt. Aber in ewigem Wechsel folgen einander nach des Milesiers tiefsinniger Lehre eine endlose Reihe neu entstehender und wieder vergehender Welten, von denen die uns bekannte nur einen vorübergehenden Sonderfall darstellt. Wie weit Anaximandros etwas vom Naturforscher im heutigen Sinne an sich hatte, muß natürlich dahingestellt bleiben. Unleugbar erinnert manches von seiner Lehre noch an den, wie es ein Forscher der Gegenwart (Karl Joël in Basel) ausgedrückt hat, »Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der Mystik«.
Am farblosesten steht des jüngsten und letzten der drei philosophischen Milesier
Leben und Persönlichkeit vor uns da. Wir wissen davon weiter nichts, als daß er als ein »Genosse« oder »Hörer« Anaximanders galt und beinahe ein Menschenalter später als dieser, zwischen 588 und 524, gelebt hat.
Schon Anaximanders Weltanschauungslehre hatte der Luft als der Vermittlerin zwischen der heißen Himmels- und der kalten Erdschicht eine bedeutende Rolle beigelegt. Anaximenes nun erhob sie zum grundlegenden Urstoff, aus dem durch Verdünnung das Feuer, durch Verdichtung oder Zusammenziehung das Kältere, nämlich: Wind, Wolken, Wasser und Erde hervorgehen. In gewissem Sinne ging er allerdings insofern hinter das Prinzip seines Vorgängers zurück, als er wiederum ein bestimmtes Element, eben die Luft, als Urstoff annahm; immerhin blieben bei der Wahl gerade dieses Urstoffes wenigstens die wichtigsten Eigenschaften des anaximandrischen »Apeiron« gewahrt, die Grenzenlosigkeit und die Beweglichkeit.
Auch bei Anaximenes schwingt zwar ein spekulativer, sozusagen überwissenschaftlicher Leitgedanke mit, wenn der aus seiner Schrift erhaltene Satz echt ist: »Gleichwie unsere Seele Luft ist und uns dadurch zusammenhält, so umfaßt auch den gesamten Kosmos wehender Hauch und Luft.« Aber unter der »Seele« haben wir hier doch wohl die Grundbedeutung des griechischen Wortes »Psyche«, nämlich den Hauch des Atems als Lebensprinzip, zu verstehen. Und aus der weiteren Entwickelung durch Verdichtung und Verdünnung ergibt sich, daß auch der dritte Milesier sich sein »Prinzip«, seinen Urgrund, wesentlich körperlich gedacht hat. Dadurch, daß er Feuer, Wasser und Erde aus seinem Luft-Urstoff hervorgehen ließ, war übrigens die Lehre von den uns ja von der Schule her bekannten »vier Elementen«, die dann bei Empedokles (s. Kap. 5) zum Vorschein kommt, bereits vorbereitet.
Mit Anaximandros nahm auch sein Nachfolger einen ewigen Wechsel von Weltentstehung und Weltzerstörung an. Mit diesen metaphysischen, übersinnlichen Gedanken verbinden sich jedoch bei ihm auch naturwissenschaftliche Fortschritte. So erkannte er zuerst, daß der Mond seine Beleuchtung durch die Sonne empfängt, und unterschied die Planeten oder Wandersterne (so genannt, weil sie eine wechselnde Stellung am Himmelsgewölbe einnehmen) von den Fixsternen, die stets die gleiche Stellung zueinander – gleichsam »festgeheftet« – beibehalten.
In dem obigen, dem Anaximenes zugeschriebenen Satze ist uns auch ein Ausdruck begegnet, der sonst dem Pythagoras (Kap. 4) als erstem zugeschrieben wird: nämlich die Bezeichnung der Welt als Kosmos. Die Grundbedeutung des Wortes ist eigentlich: Ordnung. Bezeichnend für den Sinn der Griechen ist, daß ihre Philosophen also die Welt von Anfang an als eine geordnete auffassen, was wir in der pythagoreischen Lehre noch stärker betont sehen werden.
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Es seien bei dieser Gelegenheit gleich zwei Nachzügler unserer milesischen Naturphilosophen oder »jonischen Physiologen« (Naturkundigen), wie sie im Altertum gewöhnlich heißen, genannt: die im fünften Jahrhundert lebenden Denker Hippon und Idaios. Hippon, vielleicht ein Arzt, erklärte gleich Thales das Feuchte als den Urstoff alles Gewordenen und den eigentlichen Lebensquell; er galt der in Athen ja im allgemeinen konservativ gesinnten Satire der Komödie als gottloser Materialist. Der sonst unbekannte Idaios, aus dem sizilischen Himera stammend, soll das Luftprinzip des Anaximenes erneuert haben. Zwei andere, ihm verwandte Denker (Archelaos und Diogenes von Apollonia) werden wir erst später behandeln, weil sie bereits den Anaxagoras (Kap. 6) voraussetzen.
Die Ordnung dieser alten »Kosmologen« (so genannt wegen ihrer Lehre von dem Kosmos oder Weltgebäude) in eine bestimmte Reihenfolge ist überhaupt nicht ganz leicht. Wollten wir genau nach der Zeitfolge verfahren, so müßten wir jetzt, wie wir es auch in unserer größeren »Geschichte der Philosophie« (F. Meiner, Leipzig 1903, 6. Aufl. 1921) getan, mit Pythagoras und danach Xenophanes fortfahren, die aber wieder ihrerseits eng mit später lebenden Pythagoreern bzw. Eleaten zusammenhängen. Wir entscheiden uns vielmehr aus vorzugsweise sachlichen Gründen für eine andere, schon in unserer »Volkstümlichen Geschichte der Philosophie« (Stuttgart, Dietz Nachf. 1921, 3. Aufl. 1923) gewählte Reihenfolge: Heraklit, Xenophanes und die Eleaten, Pythagoras und die Pythagoreer.
Die drei Milesier hatten das philosophische Verdienst, die äußere Natur, auf die der philosophische Blick sich naturgemäß zunächst lenkte, von der religiösen Betrachtung gelöst und unter den Gesichtspunkt der Vereinheitlichung des Stoffes gebracht zu haben, der von der in ihm wohnenden Kraft noch gar nicht getrennt erblickt wird. Die nun folgenden Naturphilosophen bringen zwei neue, rein philosophische Gedanken in die Naturbetrachtung hinein: die des Seins und des Werdens.