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Nicht an den Fluren des Ganges oder im Tieflande der Mongolen, nicht in den fruchtbaren Ebenen des Euphrat und Tigris noch im Lande der Pyramiden hat die eigentliche Wiege der Philosophie gestanden, sondern im kleinasiatischen Griechenland. Gewiß, auch in den alten Kulturländern des fernen Ostens hat es so etwas Aehnliches wie Philosophie, hat es tiefsinnige Weltanschauungssysteme gegeben. So im China des sechsten Jahrhunderts vor Christus, wenn Meister Lao, d. h. der Alte, an den Anfang der Dinge das Tao, d. i. einen namenlosen Urgrund, setzte, aus dem der Schöpfer des Alls, aller Kräfte und aller Tugenden hervorging, der auch dem Handeln der Menschen den richtigen Weg weist, und zu dem der Weise wieder emporstrebt, indem er sich von allem Sinnlichen löst und auf sich selbst zurückzieht. Und wenn im Gegensatz zu dieser tiefsinnigen Weisheit, zu der wohl nur wenige durchdrangen, ein Jahrhundert später der nüchternere Meister Kung (von den Jesuiten in Confucius latinisiert) eine dem Durchschnitt seines Volkes besser angepaßte, darum auch heute noch in Blüte stehende rein praktische Sitten-, Staats- und, wenn man will, Religionslehre schuf.
Philosophischer angelegt als die übrigen Orientalen (Morgen- oder Ostländer), sind die uns als Indogermanen stammverwandten Hindus des alten Indiens. Hier sind eine ganze Reihe teils philosophischer, teils theologischer, aber zum Teil auch dem Materialismus zuneigender, mit indischer Gedankenfeinheit ausgesponnener Systeme entstanden, deren Kern die Lehre vom Brahman, dem die ganze Welt hervorbringenden, erhaltenden und wieder in sich zurückschlingenden All-Einen, und die vom Atman, der Menschenseele, bildet, die nur in dem Gedanken Ruhe zu finden vermag, daß sie mit dem All-Einen eines Wesens ist. Der bei uns bekanntesten, in den heiligen Büchern der Vedas vorliegenden, daher Vedanta-Philosophie genannten Richtung dünkt sogar die ganze Welt, einschließlich unseres eigenen Ich, nur Trug und Schein, mit dem Schleier der Maya (der täuschenden Sinne) verhüllt; Wahrheit liegt nur in Brahman, d. h. der Gottheit. Diese Lehre, die uns im neunzehnten Jahrhundert Schopenhauer, sein Jünger Paul Deussen und der deutsch-englische Religionsforscher Max Müller (Oxford) nahe zu bringen versucht haben, ist aber im Grunde doch weit mehr theologischer oder theosophischer als philosophischer Natur. Und vor allem, sie liegt völlig abseits von unserer abendländischen Art des Denkens. Erst neuerdings hat der auch bei uns in Europa erschienene indische Dichter und Denker Rabindranath Tagore eine Versöhnung dieser altindischen Theosophie (= Gottesweisheit) mit dem abendländischen Denken herzustellen sich bemüht, indem er neben dem Versenken der Einzelseele in das All doch auch das Recht der Persönlichkeit stark betont und diese von müßiger Beschaulichkeit zu tatkräftigem Handeln führen will.
Im Gegensatz zu der die Menschheit in streng voneinander geschiedene Klassen (»Kasten«) trennenden Brahmareligion der indischen Gelehrten, die dort mit den Priestern (Brahminen) dasselbe sind, ist der bereits um die Zeit des Lao und Confucius gleichfalls auf indischem Boden erwachsene, jedoch durch Verfolgungen nach Hinterindien, Japan, China und anderen Ländern verdrängte Buddhismus eine Religion für die leidenden Massen, denen sie als höchstes Ziel Abwendung von allem leidenschaftlichen Begehren und Eingehen in das ewige Verlöschen (»Nirwana«) predigt. So ist die Religion des edlen, freiwillig arm gewordenen Königssohnes Buddha, auch wenn man von ihrem vielfachen Verzerren ins Götzenhafte absteht (das sie ja mit dem Brahmanismus, der antiken Religion, und zum Teil doch auch mit dem – Christentum teilt), im wesentlichen doch bloß religiöse Heilslehre, unserer Ansicht nach mit ihrer leidenden Ergebung und Unterdrückung auch der gesunden Sinnlichkeit im Kerne ungesund, wie sehr sie auch, vielleicht gerade deshalb, heute manchen Europäern – auch bei uns in Deutschland gibt es neubuddhistische Zeitschriften – imponieren mag.
Noch stärker religiöses Gewand trägt die um 600 von Zarathustra (lateinisch: Zoroaster) geläuterte altpersische Religion, deren Grundgedanke, der Glaube an einen von Beginn der Welt an existierenden Kampf zwischen dem Gott des Lichtes oder des Guten, den wir zu unterstützen haben, und dem Gott bzw. Reich des Bösen und der Finsternis, ohne Zweifel einen tief sittlichen Kern birgt.
Sicherlich enthält auch das Alte Testament der Israeliten tiefste sittliche Lebensweisheit. Wir brauchen nur an die dem weisen König Salomo zugeschriebenen Sprüche oder das Buch Jesus Sirach oder die Psalmen zu denken. Und die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel »Mose« mit ihrem Aufsteigen vom Unvollkommenen zum immer Vollkommneren ist ebenso sicher von einem philosophisch angelegten Dichter ersonnen worden, wie das Buch Hiob, in dem die jedem unverdorbenen und gerechten Denken sich immer wieder aufdringende Schicksalsfrage behandelt wird, wie sich das Dasein des Uebels auf Erden, das oft gerade die Besten am härtesten trifft, mit dem Dasein eines allgütigen und allmächtigen Gottes vereinen lasse; oder gar das Buch Koheleth, dessen erschütternde Predigt von der Eitelkeit alles menschlichen Lebens und Mühens gerade dem scheinbar reichsten und glücklichsten Menschen als »Weisheit Salomonis« in den Mund gelegt wird.
Die religiösen Vorstellungen der alten Assyrer, Babylonier, Phönizier und Aegypter endlich zeigen, soweit wir bisher von ihnen wissen, erst recht keine philosophische Begründung. Kurz, diese ganze Weisheit des Orients ist nicht auf dem Grunde wissenschaftlichen Denkens erwachsen. Anders war es mit dem Volke, dem die Philosophie auch ihren Namen verdankt: dem Volk der Griechen. Die Griechen oder, wie sie sich selbst nannten, die »Hellenen«, haben zuerst Philosophie im wahren Sinne des Wortes getrieben. Ja, sie haben, kann man ohne allzu große Kühnheit behaupten, schon fast sämtliche großen, die Menschheit von jeher und darum auch heute noch bewegenden, philosophischen Fragen, und zwar zum großen Teil in einfacher, deshalb für jeden gebildeten Menschen auch der Gegenwart noch verständlichen Weise behandelt, sie uns Heutigen sozusagen vorgedacht. Alle die philosophischen Richtungen, die nacheinander in der Philosophie-Geschichte auftauchen, und die wir in dem Einführungsbändchen dieser Sammlung vorläufig erklärt haben, vom Idealismus und Materialismus bis zum Individualismus und Sozialismus, sind, wenige Ausnahmen abgerechnet, schon bei den altgriechischen Denkern zu Tage getreten. Und ebenso haben die Griechen und ihre geistigen Erben, die Römer und die mittelalterliche Kirche, auch bereits fast sämtliche Einzelwissenschaften der Philosophie, wie Logik und Psychologie, Staats- und Religions-, Natur- und Geschichtsphilosophie, Ethik und Aesthetik gekannt und, wenn auch noch nicht so ins einzelne spezialisiert wie heute, betrieben. Ja, gerade diese einfachere, wir möchten sagen natürliche, weniger verwickelte und gekünstelte Gestalt, in der die philosophischen Probleme bei dem naiven Griechenvolk auftauchen und behandelt werden, macht gerade die Philosophie des Altertums zu einem besonders geeigneten Studium für den Anfänger. Freilich mußte sich die Philosophie, um eben Philosophie, d. h. auf sich selbst gegründete, von allen fremdartigen Einflüssen unabhängige Wissenschaft und Weisheitslehre zu werden, zuerst von den sie umklammernden und beschränkenden religiösen Vorstellungen befreien. Diesen Vorgang haben wir uns zunächst etwas näher klar zu machen.