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Kapitel VI.
Anaxagoras

A. Leben und Persönlichkeit

Mit der ehrwürdigen Gestalt des Anaxagoras betreten wir zum ersten Male den klassischen Boden Attikas. Anaxagoras war zwar – zu Anfang des fünften Jahrhunderts – in der bescheidenen Kleinstadt Klazomenai bei Smyrna in Kleinasien geboren, hat jedoch seine eigentliche philosophische Wirksamkeit erst in Athen ausgeübt, wohin er als beinah Vierzigjähriger (etwa 462) auswanderte. Und hier kam er nun gerade recht, um jenes klassische Zeitalter der Blüte griechischer Kunst und Wissenschaft mitzuerleben, ja es mit herbeiführen zu helfen, das, nach dem Namen des großen demokratischen Staatsleiters Perikles genannt, noch heute mit unvergänglichem Zauber aus uns Nachgeborene wirkt. Von der Politik freilich hielt sich der Landfremde grundsätzlich fern. Vielleicht weil er eben nicht athenischer Vollbürger, wahrscheinlicher aber noch, weil sein Wesen ganz der selbstlosen, theoretischen Forschung hingegeben war, wie es wohl im Hinblick auf ihn, seinen Lehrer und Freund, der große Tragödiendichter Euripides, als höchstes Lebensglück preist. Soll er doch schon in seiner Vaterstadt, zu deren vornehmen Geschlechtern das seinige zählte, um sein Hab und Gut sich nicht gekümmert, sein Land den Schafen zur Weide, sein Erbe den Verwandten überlassen und auf den Himmel als sein Vaterland hingewiesen haben.

Nach Athen hat ihn wahrscheinlich der Olympier Perikles selbst – ob durch seine jonische Landsmännin, die schöne und kluge Aspasia, angeregt, ist ungewiß – gezogen. Jedenfalls standen beide Jahrzehnte lang in vertrautestem geistigen Verkehr und hat der große Staatsmann, wie in Platos Phädrus ausdrücklich bezeugt wird, seine philosophischen Anschauungen von dem weisen Klazomenier entnommen. Im Gegensatz zu seinem leidenschaftlichen, schwärmerischen und etwas eitlen Zeitgenossen Empedokles war Anaxagoras eine ernste, nüchterne, leidenschaftslose Natur, voll Würde in seiner Erscheinung, seine Schreibart klar, prosaisch, wenn auch der Anmut nicht entbehrend, und rein sachlich. Wie die meisten Philosophen vor Sokrates, war er zugleich Mathematiker und Astronom, auch der Physik und Chemie ergeben. Von seinem Buche »liebet die Natur«, das in gefälliger Prosa geschrieben und zu Athen für eine Drachme (= 80 Goldpfennig) zu haben war, sind 22 Bruchstücke erhalten. Es kann nicht vor 467 verfaßt worden sein, denn es berücksichtigt bereits einen in diesem Jahr vorgekommenen, den Griechen bis dahin noch ganz unbekannten Fall von Meteorsteinen.

Gerade weil er ein Freund des Perikles war, richtete sich der Haß einflußreicher Volksführer kurz vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, wie gegen den berühmten Bildhauer Phidias und gegen Perikles' Gattin und frühere Geliebte Aspasia, so auch gegen den vernunftgläubigen Anaxagoras. Er ist der erste hervorragende Gelehrte, der wegen »Gottlosigkeit«, d. h. Leugnung der Staatsgötter, angeklagt und verurteilt wurde, weil er das Verbrechen begangen hatte zu behaupten, die Sonne (Helios) sei ein rotglühender Stein, und der Mond (Selene) bestehe aus Erde. So mußte er denn noch in hohem Alter seine Wahlheimat verlassen; Perikles soll ihn wenigstens aus dem Gefängnis befreit haben. Er verbrachte seine letzten Lebensjahre in der kleinasiatischen Stadt Lampsakos, die nach seinem um 428 erfolgten Tode ihm zum Andenken dem Geiste und der Wahrheit einen Altar errichtete. Ganz im Gegensatz zu dem stolzen Empedokles, der seinen Tod sozusagen selbst vorher in Szene setzte, bat sich Anaxagoras, wie es heißt, auf dem Sterbebette von den Bürgern von Lampsakos nur die Gunst aus, daß sein Todestag in Zukunft – für die Kinder schulfrei sein sollte.

B. Naturphilosophie

Gleich Empedokles und den Eleaten, erklärte auch Anaxagoras ein Entstehen und Vergehen der Dinge für ausgeschlossen. An Empedokles insbesondere erinnert es, wenn er in Fragment 17 der Dielsschen Zählung sagt: »Das Werden und Vergehen nehmen die Hellenen mit Unrecht an; denn kein Ding wird noch vergeht es, sondern aus vorhandenen Dingen setzt es sich durch Mischung zusammen und scheidet sich auch in sie. Und so würden sie richtig das Werden Mischung und das Vergehen Scheidung nennen.« Allein im Unterschiede von dem Sizilianer – seinem Vorgänger nicht der Zeit (denn er ist ihm gleichaltrig), sondern der Sache nach – nimmt er nicht etwa vier Elemente (»Grundwurzeln«), sondern, im stärksten Gegensatz zum Einheitsprinzip der Eleaten, unendlich viele » Samen« der Dinge an, die in unendlich kleinen Bestandteilen von allem, z. B. von Fleisch, Knochen, Gold, Blumen, von Anfang an vorhanden waren. »Alle Dinge,« so begann sein Buch, »waren zusammen, unendlich sowohl der Menge wie der Kleinheit nach; denn auch das Kleine war unendlich.« Aether (reine Himmelsluft) und Dunstluft aber hielten alles nieder, da sie beide unbegrenzt waren: eine Lehre, die an seinen jonischen Landsmann Anaximenes (Kap. I, 3) und zugleich an Parmenides (Kap. III) erinnert. Aus der dunklen und dichten Dunstluft entstanden durch weitere Verdichtung die Erde und die übrigen, als glühende Steinmassen – daher die Meteorsteine, die vom Himmel herabfallen – aufgefaßten Himmelskörper. Aus der anfangs, wie bei Anaximander, schlammartig gedachten Erde gingen, von den aus Luft und Aether niederfallenden Keimen befruchtet, die lebenden Wesen hervor.

Das Eigentümliche und Neue an der Weltentstehungslehre des Anaxagoras bilden nun eben diese zahllosen Keime oder, wie der schon oben erwähnte bezeichnende Ausdruck lautet: Samen der Dinge, die durch das All in unendlich feiner Weise verteilt waren, mannigfaltig an Gestalt, Farbe und Geruch. Vordem war alles vermischt, das Feuchte und das Trockene, das Warme und das Kalte, das Lichte und das Dunkle. Nun aber verband sich das Gleichartige miteinander, während das Ungleichartige sich abstieß. »Denn wie sollte Haar aus Nicht-Haar entstehen können und Fleisch aus Nicht-Fleisch?« Das erinnert wieder an Empedokles, während der Satz, daß es niemals ein Kleinstes, sondern immer nur ein noch Kleineres geben könne, weil die Existenz des Seienden auch durch immer weitere Teilung nicht vernichtet werden kann, bereits zu den Problemen des Atomismus (Kap. VII) führt. So waren alle Dinge schon in allem gegeben und brauchten sich daher nur die gleichartigen Teile zu verbinden, von Aristoteles später als »Homoio-Merien« (= ähnliche Teile) bezeichnet.

Auch der Mensch setzt sich aus solchen Teilen zusammen. Seine » Seele« wird von Anaxagoras, wie von allen älteren morgenländischen und griechischen Denkern, noch durchaus nur als Prinzip des Lebens, eigentlich als Atem oder Hauch – denn das ist die Grundbedeutung des griechischen Wortes für unsere »Seele« (Psyche) – betrachtet. Im Gegensatz zu Empedokles lehrte er, daß unsere Sinnesempfindungen nicht durch das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte hervorgerufen werden, wie wir z. B. das kalte Wasser durch die Wärme der Hand, das Süße durch den Unterschied vom Sauren empfinden. Ursinn ist ihm der Tastsinn und der Mensch deshalb das vernünftigste unter den Tieren, weil er Werkzeuge hervorbringende Hände besitzt. Uebrigens erscheint ihm jede Wahrnehmung von Unlust, als einem Ausdruck des Entgegengesetzten, begleitet. Auch er mißtraut, wie Heraklit, Parmenides und Empedokles, der Erkenntnisfähigkeit der Sinne: »Wegen ihrer Schwäche sind wir nicht imstande, die Wahrheit zu erkennen«; und unterscheidet deshalb von dem unvollkommenen sinnlichen Wahrnehmen das vollkommenere Denken, von dem jedem Menschen soviel innewohnt, als in ihm von dem allgemeinen Denkstoff enthalten ist.

C. Die Lehre vom »Geist«

Diese letzte, übrigens an Heraklit erinnernde Vorstellung bringt uns nun auf die dem Anaxagoras eigentümliche Lehre vom Nus, einem Begriff, den man gewöhnlich mit »Vernunft« oder »Geist« wiedergegeben hat, obwohl beide dem ursprünglichen Sinne, den das Wort bei unserem Philosophen hat, kaum entsprechen dürfte. Denn was ist dieser » Geist«?

Nach den eigenen Worten seines Urhebers ist er zwar »unendlich und selbstherrlich und mit keinem Dinge vermischt, sondern allein bei sich selbst«, und »über alles, was immer eine Seele hat, Großes wie Kleines, hat er die Herrschaft«. Er besitzt auch jegliche Einsicht über jegliches Ding. Er »ordnet« und »kennt« alle Dinge. Aber dennoch vermag ihn der griechische Denker noch nicht rein geistig, immateriell (= unstofflich) zu fassen. Er heißt zugleich »das dünnste und reinste aller Dinge«, bleibt also Materie, wenn auch, um eine Wendung Kants zu gebrauchen, so »überfein« ausgesonnen, »daß man darüber schwindlig werden möchte«. Höchstens kann man ihn als eine den Stoff beseelende Kraft denken, ähnlich wie Heraklits Logos, Pythagoras' Zahl, Empedokles' Liebe und Haß. Das geht auch aus der frühesten Tätigkeit hervor, die unser Naturphilosoph ihm beilegt. Denn eben der »Nus« machte dem Wirrwarr des Urzustandes dadurch ein Ende, daß er »von irgend einem kleinen Punkte aus« eine Wirbelbewegung hervorbrachte, die dann immer weiter um sich griff und alle zukünftige Scheidung und Bildung der Stoffe bewirkte. So bleibt »er, der immer ist«, denn auch »dort, wo alles andere ist«, nämlich »in der (ihn) umgebenden Masse und in dem, was sich daran anfügte, und in dem von ihr Ausgeschiedenen«.

Mit dieser im wesentlichen doch körperhaften Auffassung des »Geistes« stimmt auch, was Plato in seinem Dialog Phädo (97 C) den Sokrates äußern läßt: »Ich hörte einst jemand aus einem Buche vorlesen, das, wie er sagte, von Anaxagoras war und behauptete, daß der Geist ( nus) es sei, der die Welt ordne und die Ursache von allem sei. Ich freute mich über diese Ursache, und es schien mir gewissermaßen alles in Ordnung zu sein … Indes meine wundervolle Erwartung wurde gründlich getäuscht, als ich beim Weiterlesen fand, daß der Mann von dem Geiste gar keinen Gebrauch machte und ihm gar keine bestimmte ursächliche Kraft in der Ordnung der Dinge zuschrieb, vielmehr den Lüften und den Teilen des Aethers und den Gewässern und vielen anderen merkwürdigen Dingen.« Diese platonische Stelle hat dann wahrscheinlich wieder Aristoteles im Auge, wenn er im vierten Buche seiner Metaphysik sich dahin vernehmen läßt: Anaxagoras gebrauche den »Geist« nur als Lückenbüßer, um durch ihn die Bildung der Welt zu erklären und, sooft er um eine Erklärung verlegen sei, weshalb etwas notwendig so sein müsse, ziehe er ihn heran, im übrigen jedoch mache er eher alles andere zur Ursache des Geschehenden als den Nus.

Auch die Tatsache, daß Anaxagoras von den Göttern nichts zu wissen behauptete, sowie, daß keine Sätze ethischen Inhalts von ihm überliefert sind, spricht gegen die von manchen neueren Gelehrten behauptete Auffassung des Nus als eines sittlich-geistigen Prinzips im Sinne unserer »Vernunft«.

In der Astronomie und Erdkunde weist die Anschauung des Anaxagoras manche Fortschritte auf. Zwar ging er hinter die Eleaten zurück, wenn er die Erde als eine in der Mitte der Welt ruhende flache Scheibe betrachtete, getragen von der Luft, die infolge der Erdbreite nicht nach oben entweichen könne. Aber er sah bereits Sonne und Sterne als feurige Steinmassen an, glaubte an unzählige Welten, meinte, daß der Mond Ebenen und Berge wie die Erde trage und bewohnt sei, erkannte die wahre Ursache der Mond- und Sonnenfinsternisse und der Gewitter, erklärte die jährlichen Anschwellungen des Nil aus der Schneeschmelze in Aethiopien u. a. m. Auch die Pflanzen besitzen ihm zufolge, insofern sie Anteil am Nus haben, eine Seele.

So war unser Denker in vielem seiner Zeit voraus, woher sich eben der Haß der ungebildeten Altgläubigen gegen den modernen Aufklärer schrieb, der so gar nichts auf das Walten der »Götter« zurückführte. Zumal da auch sein Freund Perikles sich gar nicht scheute, solche Aufklärung im Volke zu verbreiten, wie wenn er einmal seinem durch eine plötzliche Sonnenfinsternis erschreckten Steuermann die wunderbare Himmelsverdunklung durch Vorhalten seines Mantels verdeutlichte. Sein neues Nus-Prinzip muß jedenfalls selbst unter dem gewitzigten Athenervolk starkes Aufsehen erregt haben; man legte seinem Urheber den Namen »Nus« sogar als Spitznamen bei. Gewiß hat Anaxagoras mit ihm einen anerkennenswerten Anlauf in der Richtung des philosophischen Idealismus genommen; aber zu einer rein geistigen Auffassung, wie Sokrates und Plato sie brachten, hat er sich doch nicht durchzuringen vermocht.

*

Daß dies nicht der Fall, lassen auch die Lehren zweier von ihm beeinflußter, etwas nach ihm lebender Denker des fünften Jahrhunderts wahrscheinlich erscheinen: des Archelaos von Athen und des Diogenes von Apollonia, die wir anhangsweise an dieser Stelle kurz behandeln wollen.

Archelaos, der auch als Lehrer des Sokrates genannt wird, näherte sich wieder mehr Anaximenes, insofern auch er das Urgemisch der Dinge als luftartig ansah, das er dann durch die Gegensätze von Warm und Kalt, Dünn und Dicht ergänzte. Den Nus ließ auch er den Dingen, insbesondere auch den Tieren und Menschen, beigemischt sein. Uebrigens soll er bereits ethische Betrachtungen gepflegt, unter anderem zwischen natürlichem Recht und menschlicher Satzung unterschieden haben, was sonst erst den Sophisten (Kap. VIII bis X) zugeschrieben wird.

Auch Diogenes von Apollonia (auf Kreta) – nicht zu verwechseln mit dem ein Jahrhundert später lebenden berühmteren Cyniker Diogenes von Sinope – geht auf des alten Milesiers Anaximenes Luft-Prinzip zurück. Er preist in seiner Schrift über die Natur die Luft als das allgegenwärtige, alles verwaltende und in allem vorhandene göttliche Urwesen, das alles lenkt und alles beherrscht, durch das wir leben und erkennen. Denn, indem die Lust zum Atem in uns wird, ist sie auch die Quelle unseres Wahrnehmens, Fühlens und Denkens. Er wandte sich zwar auf diese Weise monistisch, d. h. die Einheit alles Gewordenen vertretend, gegen die vier Elemente des Empedokles, betont aber gleichzeitig die unendliche Wandlungsfähigkeit und Abstufungsmöglichkeit der Luft. Er ist, anscheinend stärker als Anaxagoras, medizinisch interessiert und hat sinnreiche Beobachtungen über Atmung, Blutumlauf, Zeugung und Sinneswahrnehmungen aufgestellt, auch, wie Alkmaion, den Sitz des Denkens in das Gehirn verlegt. Ja, die Luft wird ihm schließlich, als Weltatom und Weltseele, zu einer Art Weltvernunft, wie der »Nus« dem Anaxagoras. Kein Wunder, wenn daher der witzig-realistische Satiriker Aristophanes in seiner »Wolken«-Komödie neben Sokrates auch den Diogenes verspottete und die »Wolkenfrauen«, die mit Riesennasen begabt sind, um möglichst viel »Luftgeist« einzuatmen, in dessen Sinne den »König Wirbel« hochleben läßt, der den Vater Zeus entthront hat.

Auf den jüngsten der drei großen Tragiker dagegen, den bereits ganz in der geistigen Luft der Aufklärung lebenden Euripides, hat anscheinend neben Anaxagoras auch der Apollonier Diogenes philosophisch eingewirkt.

Wir kommen zum Schlusse zum letzten und vielleicht bedeutendsten aller vorsokratischen Philosophen: Demokritos von Abdera.


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