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Als der Arzt Trafford House verlassen hatte, begab er sich geradewegs zum Totenbeschauer.
Endlich sah er seinen Weg klar vor sich, nun bestand kein Grund mehr, die Totenschau über das unglückliche Weib zu scheuen, die ihre Lüge so schnell und bitter gebüßt hatte. Es war ihm auch klar, daß die Dienerschaft erst dann befriedigt sein würde, wenn das offizielle Urteil des Totengerichts über den Fall vorläge. Andererseits wußte Tarleton aber auch, daß Sir Charles Beaumanoir auf alle Fälle versuchen würde, die wirklichen Tatsachen vor der Öffentlichkeit verborgen zu halten, und der Arzt hoffte, daß es ihm gelingen würde, beide diametral entgegengesetzten Wünsche der Dienerschaft sowohl als auch des Ministers – zu erfüllen, ohne das Bewußtsein mit sich herumzutragen, daß er die Justiz in die Irre geführt hätte.
Er kannte den Totenbeschauer schon aus früheren Fällen her, die klar und offen genug gelegen hatten, um keine Heimlichkeiten nötig zu machen, und so verstanden sich die beiden Herren ohne große Worte. Der Sachverständige beschränkte sich darauf, seinem Kollegen mitzuteilen, daß er in das Haus des Herzogs von Altringham gerufen worden wäre, um dort die Todesursache der Zofe Ihrer Gnaden festzustellen. An ihrer Leiche hätte ein vergifteter Pfeil gelegen, jedoch wären keinerlei Spuren von Gewalttätigkeit zu beobachten gewesen. Er erwähnte so nebenbei, daß der Herzog ein Verwandter des Ministers sei, aus welchem Grunde er, Tarleton, froh wäre, daß die Sache so glatt läge. Die Tote wäre Anhängerin der Rauschgiftmanie gewesen. Die Herzogin, ihre Herrin, hätte sich natürlich den Vorfall sehr zu Herzen genommen, und er glaube sicher, daß das Totengericht jede Rücksicht auf Ihre Gnaden bei der Verhandlung nehmen würde. Der Totenbeschauer hörte mit ernster Miene diesen Worten zu und drückte sein Bedauern aus, daß der Herzog sich einem derartigen Unglück ausgesetzt sähe. Er glaube, daß eine Geschworenenbank, aus Geschäftsleuten des Westens zusammengesetzt, am geeignetsten wäre, um die betrübliche Angelegenheit mit dem nötigen Zartgefühl zu handhaben, und er hoffe, daß das Verfahren ohne weitere Belästigungen für Ihre Gnaden verlaufen werde. – Dadurch erschien es klar, daß das einzig mögliche Urteil des Totengerichts auf Selbstmord lauten würde. – Wahrscheinlich würde das Gericht – so schloß der Beamte – gleichzeitig ein paar Worte des Mitgefühls für die so schrecklich getroffene Herzogin beifügen.
Die beiden Herren brauchten sich nichts mehr zu sagen, um einander zu verstehen. Beide waren Beamte des Innenministeriums, und beiden war es vollkommen klar, daß letzten Endes die Verantwortung für alles auf den Schultern des Ministers ruhte. Der Totenbeschauer wußte genau, daß Tarleton seine Hand nicht dazu bieten würde, um ein wirkliches Verbrechen zu vertuschen. Später konnte man – so sagte sich Tarleton – dem Beschauer vielleicht bei einer Flasche Wein und einem intimen Essen die wirklichen Tatsachen immer noch mitteilen. Die beiden Beauftragten des Gerichts schüttelten einander die Hände und verabschiedeten sich voll Achtung für die Diskretion des andern.
Tarleton brachte den Tag mit der Erledigung anderer Sachen zu, die sich infolge der Ereignisse in Trafford House angesammelt hatten. Er konnte seine ganze Geisteskraft immer auf den gerade von ihm bearbeiteten Fall konzentrieren, ohne daß er seine andern Arbeiten vernachlässigt hätte. Es war deshalb bereits neun Uhr abends, ehe er die Zeit fand, an den beabsichtigten Besuch des Verwalters zu denken und damit seine Gedanken wieder auf das Geheimnis des herzoglichen Hauses zu richten, dessen Lösung sich endlich klarer und heller aus dem bisherigen Dunkel abhob. Er wußte, daß Burrowes nur deshalb einen nervösen Zusammenbruch erlitten hatte, weil er das Geheimnis, das er hütete, nicht mehr tragen zu können vermeinte. Wahrscheinlich fühlte er sich für den zweiten Mord verantwortlich, weil dieser möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn nicht die Spuren des ersten vertuscht worden wären; vielleicht erblickte er auch eine Ähnlichkeit seiner Haltung mit der des zweiten Opfers, soweit das schuldige Bewußtsein des Verschweigens der Tatsachen in Frage kam, und erwartete ein gleiches Schicksal. Der Arzt sah jedenfalls dem Besuch gespannt entgegen; er würde nun erfahren, wie der Verwalter sich die Lage ausgemalt hatte. – Endlich betrat Burrowes das Zimmer, vor Angst zitternd und nur eine traurige Karikatur seines früheren Selbst.
Der erste Gedanke des Arztes war, seinem Besucher ein starkes Getränk zu verabreichen, aber dieser lehnte höflich ab.
»Besten Dank, Herr Doktor, aber das, was ich sagen will, wird mich aufrecht erhalten. Ich werde mich wohler fühlen, wenn ich alles vom Herzen habe.«
Er unterbrach sich und atmete hastig.
»Ich bin gekommen, um Ihnen die volle Wahrheit zu sagen, und ich bedaure außerordentlich, daß ich es nicht von Anfang an getan habe. Aber Sie wissen, ich bin ein alter Mann und Angestellter des Herzogs und brachte es nicht übers Herz, alles offen zu sagen. Ich versuchte es ja selbst so lange wie möglich, nicht daran zu glauben, aber die Sachen sind zu weit gediehen, und etwas muß unbedingt getan werden. Ich kam nur, um Ihnen zu sagen, wer der Mörder ist. Es ist Seine Gnaden, mein Herr, der Herzog von Altringham.«
Sogar bei dieser schweren Beschuldigung schien es, als böte es dem alten Diener des Hauses besondere Befriedigung, diesen gutklingenden Titel seines Herrn auszusprechen. Er unterbrach sich, um zu sehen, wie seine dramatische Eröffnung auf den Arzt wirken würde.
Wenn er jedoch erwartet hatte, daß sein Geständnis höchste Überraschung bei Tarleton hervorrufen würde, so fand er sich gründlich getäuscht. Es gab in diesen Fällen wohl keine einzige Lösungsmöglichkeit, die der Arzt nicht schon seit Tagen in seinem Geist umhergewälzt hätte. Die Möglichkeit, daß der Herzog den ersten Mord begangen hätte, war bei ihm schon am Anfang aufgetaucht, als Sir Philipp Blennerhasset eine weitere Teilnahme an der ärztlichen Untersuchung so absolut verweigert hatte, und sie war auch dadurch wahrscheinlicher gemacht worden, daß Burrowes vielleicht das Werkzeug seines Herrn bei der Ausführung des Mordes gewesen war. Die Hauptwirkung, die die Eröffnung des Verwalters bei ihm auslöste, war, daß er diesen von nun an von aller Mitschuld freisprechen konnte. Aber noch blieb Aufklärung darüber übrig – ob und wie weit der Herzog als Schuldiger in Frage käme, oder ob die Anschuldigung nur auf die übergroße Angst Burrowes' zurückzuführen wäre. Darum mußte er den Verwalter zu weiteren Berichten veranlassen.
Er zog seine kostbare Repetieruhr aus der Tasche und begann, dieselbe an ihrem kurzen Band heftig hin und her zu schwingen, was darauf hindeutete, daß er seinen Geist rege arbeiten ließ.
»Fahren Sie fort,« sagte er dem erwartungsvoll ihn anblickenden Burrowes. »Ich höre. Sagen Sie mir aber nur das, was Sie verantworten zu können glauben.«
Burrowes zögerte, er schien keinen Anfang zu finden. Dann brach er los:
»Vor allen Dingen, Doktor, muß ich Ihnen sagen, daß dieser Montacute, oder Dunlop, wie sein richtiger Name lautete, der Gatte der Herzogin war.«
Krach! Die Tausendmark-Uhr flog in weitem Bogen aus den Händen des Arztes über die halbe Stube. Endlich war der Arzt zum ersten Male überrascht; alles hatte er zu hören erwartet, nur das nicht! –
Er erhob sich, aufgeregt vor sich hin murmelnd, und hob sein geliebtes Spielzeug wieder auf. Glücklicherweise war der Teppich sehr dick, und das Andenken an königliches Wohlwollen war nicht beschädigt worden. Er hielt die Uhr an sein Ohr und freute sich der silbernen Klänge des Schlagwerkes. Dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück und setzte sich, beschämt, daß seine Nerven derart reagiert hatten, wieder hin, den Verwalter in Erwartung der weiteren Enthüllungen scharf anblickend.
»Ehe sie beide die Bühnenlaufbahn einschlugen, verheirateten sie sich, hielten aber ihre Eheschließung geheim, da sie wohl wußten, daß ein Ehepaar nicht solch gute Aussichten auf ein Vorwärtskommen haben würde. Die Herzogin – eigentlich müßte ich sagen Mrs. Dunlop – wußte genau, daß ihr Gesicht ihr Vermögen war, und daß die Kenntnis von ihrer Verheiratung leicht etwaige Bewunderer zurückschrecken würde. – Ich wünschte nur, es wäre bekannt geworden und hätte den Herzog auch abgeschreckt,« fügte der Verwalter bitter hinzu.
»Wie haben Sie denn das alles erfahren?« erkundigte sich der Arzt.
»Das werde ich Ihnen erzählen. Ich muß aber vorausschicken, daß es trotz der größten Geheimhaltung doch Leute gab, die sich fragten, ob nicht ein engeres Verhältnis zwischen den beiden bestünde. Man vermutete natürlich nur, daß sie sich etwas seien, was nicht gerade anständig wäre, aber die wirklichen Tatsachen wußte niemand. Inzwischen schienen sich die beiden jedoch satt zu bekommen, und zur selben Zeit tauchte auch die Möglichkeit eines Antrages Seiner Gnaden auf. Ich möchte damit nicht sagen, daß es sofort zu einem Antrag gekommen wäre, nein, er bot ihr zuerst eine gewisse ständige Rente – erst fünf- dann zehntausend Pfund pro Jahr, aber sie weigerte sich. Sie war zu klug und zu machtgierig, und als sie sah, wie sehr er in sie verschossen war, nahm sie sich vor, Herzogin zu werden. Ich war Liebesbote zwischen den beiden, und so konnte ich die Entwicklung der Dinge genau verfolgen.«
»Aber was tat denn der Gatte?«
»Wahrscheinlich hatten die Ehegatten sich geeinigt. Das weiß ich nicht. Wie ich schon sagte, waren die Beziehungen zwischen den beiden bereits abgekühlt, und Montacute, oder vielmehr Dunlop, bemühte sich um Lady Rosa. Seine Frau wußte davon aber nichts. Ich nehme an, daß sie sich besprochen hatten, die Ehe zwischen ihnen überhaupt nicht mehr zu erwähnen, und jeder konnte, wenn er wollte, wieder heiraten. Möglich, daß die Herzogin ihm auch einen bestimmten Geldbetrag versprochen hat; Genaues kann ich darüber nicht sagen.«
»Na, das ist ja auch nicht so wichtig.«
»Auch Seine Gnaden mußte sich überzeugt haben, daß sie eine ziemlich leichtfertige Dame gewesen war, aber er schloß beide Augen und heiratete sie. Sie fuhren nach Paris und wurden in der dortigen Botschaft getraut. Ich war Trauzeuge. Mademoiselle Prégut fungierte als eine Art Brautjungfer. Sie hatte schon früher mit Mrs. Dunlop zusammengewohnt und auch Kenntnis von der heimlichen Ehe erhalten. Das war natürlich der Grund, warum die Herzogin sie als Zofe, oder besser gesagt, als Gesellschafterin zu sich nehmen mußte.«
»Aber hat denn der Herzog, der doch sicherlich sah, was für ein Charakter sie war, keinen Widerspruch erhoben?«
»Er wagte es nicht, Herr, so wahr ich hier bin. Er wußte, daß das Schicksal seiner Frau mit dem der Zofe unwiderruflich verknüpft war, und daß er, wenn er seine Frau behalten wollte, auch die Zofe mit in Kauf nehmen mußte. Es war ein Fall, beide Augen zu schließen und Blindheit vorzuschützen.«
»Zweifellos haben Sie recht.«
»So war es auch, als die Familie anfing, Schwierigkeiten zu machen. Vor der Hochzeit hatte er seinen Angehörigen nichts gesagt, aber sobald sie davon erfuhren, fingen sie an, in der Vergangenheit der Herzogin herumzuwühlen. Sir Charles Beaumanoir war der erste, der dem Herzog von den Beziehungen zu Montacute Mitteilung machte; so wurde diesem das Haus verboten.«
»Also aus diesem Grunde?«
»Das war die tatsächliche Veranlassung, Herr, obgleich man seine Bewerbung um die Hand Lady Rosas vorschob. Sogar wenn Sir Charles nichts gesagt hätte, würde ich es gemerkt haben, wenn ich die beiden zusammensah. Ich glaube auch, daß die beiden jungen Damen etwas vermuteten, Lady Rosa sowohl als auch Lady Agatha.«
»So, so!« sagte der Arzt gedankenvoll. »Diesem Wissen schreiben Sie wohl auch Lady Agathas Ausdruck ›Das Haus der Sünden‹ zu?«
»Das möchte ich nicht mit Sicherheit behaupten, aber ich glaube, daß Ihre Herrlichkeit hinterher etwas geahnt hat,« erwiderte Burrowes. »Als Pflegeschwester kam sie oft sehr spät nach Hause, und ich vermute, sie hat gemerkt, daß schiefe Sachen vorgingen. Zu mir hat sie eigentlich niemals etwas gesagt.«
»Na, und? Sie haben mir noch immer nicht erzählt, wie Sie dies alles erfahren haben.«
»Durch Zufall, Herr. Ich halte es für meine Pflicht, ab und zu in der Nacht die Treppe hinunterzugehen, um mich zu überzeugen, ob alle Leute zu Hause sind. Auf einen großen Haushalt wie den unsern müssen Sie ein scharfes Auge haben, denn so sorgfältig man auch seine Auswahl trifft, so geht es doch nicht an, den Dienern zu viel Vertrauen zu schenken. Kurz und gut, als ich eines Nachts in Filzpantoffeln die Treppe hinunterschlich, sah ich Mr. Montacute hinaufgehen.«
Burrowes hielt in seinem Bericht inne, als wollte er seinem Zuhörer Gelegenheit geben, sich die mitternächtliche Szene vorzustellen, die sich zwischen dem treuen Wächter des herzoglichen Hauses und dem Mann abgespielt hatte, der der Gatte der Frau war, die der Herzog geheiratet hatte.
»Ich knipste meine elektrische Taschenlampe an und erkannte Mr. Dunlop sofort. Er traf auch keine Anstalten, wegzulaufen. Ich verlangte zu wissen, was er im Hause zu suchen habe, und er antwortete ohne weiteres: ›Kommen Sie mit herunter in eines der Zimmer, ich will Ihnen dort alles erklären.‹«
Er folgte mir in mein Zimmer, ließ sich dort ganz ruhig nieder und erzählte dann die ganze Geschichte. Er brauchte keine Angst zu haben. Er war ja der wirkliche Gatte der Herzogin und hatte ohne Zweifel das Gesetz in diesem Falle auf seiner Seite. Er schwor mir, daß er seine Frau nur geschäftlich besuchte, aber ich glaubte es ihm natürlich nicht. Aus verschiedenen Äußerungen, die er fallen ließ, konnte ich den Schluß ziehen, daß es ihm leid tat, sie von sich gelassen zu haben und daß er sie zu überreden versuchte, den Herzog zu verlassen und ihm, ihrem wirklichen Gatten, wieder zu folgen.«
»Das zeigt eigentlich, daß er doch noch etwas Charakter gehabt zu haben scheint.«
»Möglich, aber ich selbst konnte niemals etwas Gutes an ihm finden. Ich hatte den Eindruck, als wollte er seine Frau erpressen. Ich möchte damit nicht behaupten, daß es sich hierbei um Geld handelte, denn das hat er wohl von ihr nicht genommen. Wenn es das gewesen wäre, so wäre sie ihn wohl bald los gewesen, denn sie brauchte ja nur von Seiner Gnaden zu verlangen, was sie wollte.«
Allmählich begannen sich im Geiste des Arztes die Umrisse der gesamten Tragödie abzuzeichnen. Der junge Gatte bereute, daß er sich so leichtfertig von seiner Frau getrennt hatte. Fortschreitende Besserung seiner Verhältnisse und größere Berühmtheit in seinem Beruf hatten ihn ermutigt, sie zu bitten, wieder zu ihm zurückzukehren. Aber sie war andrer Meinung. Entweder war ihre Liebe zu ihm geschwunden, oder der Glanz ihrer neuen Stellung im Leben überwand jede andere Rücksicht. Vielleicht hatte sie recht, wenn sie sich weigerte, neuerdings einen Bund aufzunehmen, den sie in gegenseitigem Einverständnis aufgegeben hatten. Die ganze Situation erwies sich als ein sittliches Labyrinth, daß der Arzt nicht so leicht entwirren konnte.
Burrowes setzte seine Aufklärung fort.
»Mr. Montacute fragte mich, ob ich beabsichtigte, alles dem Herzog zu erzählen. Ich wußte kaum, was ich darauf erwidern sollte, denn ich fürchtete mich, Seiner Gnaden mit einer derartigen Erzählung gegenüber zu treten. Wußte ich doch nicht, wie er sie aufnehmen würde. Zuletzt sicherte ich Montacute zu, daß ich schweigen würde, wenn er verspräche, nie wieder zu kommen. Er gab mir sein Wort, hielt es aber nicht.«
»Haben Sie sich erkundigt, wie er ins Haus gelangt war?«
»Nein, Herr, ich erkundigte mich nicht. Ich vermutete, daß ihn irgendein Diener hereingelassen hatte. Dann sprach mich Mademoiselle an. Er schien entweder ihr oder der Herzogin Mitteilung gemacht zu haben, und die Prégut versuchte mich auszufragen. Ich wiederholte ihr, daß ich nichts sagen würde, wenn Mr. Dunlop das Haus miede. Wahrscheinlich aber trauten sie mir doch nicht, und Mrs. Dunlop – die Herzogin – versuchte den Herzog gegen mich aufzubringen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Seine Gnaden machte einige Andeutungen darüber. Ich hatte bisher wirklich kein Wort von meinem Wissen um diese Dinge erwähnt, doch er rief mich eines Tages in sein Zimmer und machte mir böse Vorwürfe.«
»Was legte er Ihnen denn zur Last?« fragte Tarleton erstaunt, die Brauen hochziehend.
»Daß ich vor ihm Geheimnisse hätte. Ich war genau so überrascht, wie Sie es eben sind. Ich bat den Herzog, mir zu sagen, was er damit meine, und er erklärte mir, daß die Herzogin ihn vor mir gewarnt hätte. Sie hätte ihm gesagt, daß ihr Vetter – sie hatte Mr. Montacute als ihren Vetter bezeichnet – sie dauernd mit Geldforderungen belästigte, und sie es ihm verweigert hätte. Das klang Seiner Gnaden wahrscheinlich, da sie ihn in der letzten Zeit nur selten um Geld angegangen war. Dann hätte sie weiter erzählt, daß ich wohl etwas über sie erfahren haben müßte, und sie deshalb zu erpressen versucht hätte. Was sagen Sie dazu? Ich, dessen Großvater und Vater schon im Dienste der Herzöge von Altringham gestanden hatten, also seit mehr als hundert Jahren!«
Der arme Teufel konnte vor Erregung kaum weiter reden. Der Arzt versuchte ihn zu beruhigen.
»Sie dürfen sich aus den Verleumdungen eines derartigen Weibes nichts machen. Keiner, der sich unter die Vernünftigen rechnet, würde solchen Leuten etwas glauben.«
»Ja, Dr. Tarleton, das ist es ja gerade! Mein Herr konnte damals nicht unter die Vernünftigen gerechnet werden und kann es noch heute nicht, solange er sich unter dem Einfluß jenes Weibes befindet. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon bekannt ist: Wahnsinn ist in seiner Familie ein Erbleiden.«
Der Sachverständige nickte verstehend, denn diesmal war er über diese Mitteilung nicht erstaunt.
»Die Mutter Seiner Gnaden starb in geistiger Umnachtung,« fuhr der Verwalter fort. »Ich bin fest davon überzeugt, daß man beim weiteren Verfolg der Vergangenheit in seiner Familie mehrere derartige Fälle findet.«
»Ja, ja, ich weiß das! Fahren Sie nun aber mit Ihrer Geschichte fort. Sie beichteten mir zuletzt, was der Herzog Ihnen vorwarf.«
»Ich erklärte die Verleumdung der Herzogin für erlogen, aber er glaubte mir nicht, wenigstens gab er vor, mir nicht zu glauben. Er wollte wissen, ob ich von den geheimen Besuchen Mr. Montacutes gewußt hätte, und ich sagte ihm selbstverständlich die Wahrheit. Dann verlangte er die Ursache zu erfahren, weshalb ich ihm davon nicht gleich Mitteilung gemacht hätte.«
»Sie hatten sich, befürchte ich, von Anfang an in ein falsches Licht gebracht, Burrowes,« sagte der Arzt. »Der Fehler lag darin, daß Sie sich mit solchen Leuten überhaupt eingelassen hatten.«
»Jetzt sehe ich das ein, aber ich habe ja immer nur in bester Absicht gehandelt,« begründete der Verwalter sein Verhalten. »Ich wagte es nicht, Seiner Gnaden die Augen zu öffnen, und jetzt mußte ich für diese Rücksicht leiden; denn als ich ihm meine Gründe darlegen wollte, glaubte mir der Herzog nicht. Daraufhin sagte ich ihm erst die offene Wahrheit, daß Mr. Dunlop der Gatte Ihrer Gnaden wäre.«
»Was hat er denn dazu gesagt?«
»Er lachte mich einfach aus. Er nahm es nur als faule Ausrede von mir auf. Das ist ja eben die Verschlagenheit jener Clique gewesen. Die Frau hatte ihn erst mit Lügen vollgepumpt, damit er mich für ihren Feind hielte, der sicherlich lügenhafte Aussagen gegen sie machen würde. Er mußte also meine Angaben als Rache auffassen. Nun aber passierte etwas ganz Merkwürdiges.«
»Was war das?«
»Seine Gnaden entließ mich nicht.«
»So!« Tarleton erkannte das Merkwürdige dieser Tatsache durch ein energisches Kopfnicken an.
»Ich bat Seine Gnaden, mich gehen zu lassen, er aber weigerte sich entschieden. Er sagte – ich zitiere aus dem Gedächtnis – Sie und ich sind alte Freunde, Burrowes, und die Tatsache, daß Sie mit Ihrer Gnaden keinen guten Faden zu spinnen vermögen, kümmert mich nicht. Ich verlange weiter nichts, als daß Sie Ihren Dienst weiter so versehen wie bisher. Sprechen Sie mit niemand darüber, und hüten Sie sich, weitere Geheimnisse vor mir zu haben.«
»Eigentlich eine merkwürdige Haltung, wie?«
»Meines Erachtens gibt es nur eine Erklärung dafür, Herr Doktor. Seine Gnaden gerät aus dem Häuschen, wo ein Weib in Frage kommt, aber sonst ist er recht vernünftig. Er glaubte ihr alles, was sie gegen mich vorbrachte, hielt aber alles, was ich gegen sie sagte, für erlogen. Trotzdem vertraute er mir in meiner Amtsführung in jeder Beziehung. Nie hatte ein Diener einen gütigeren Herrn,« schloß der Verwalter mit Tränen in den Augen.
Der Arzt blickte ihn freundlich an.
»Ich glaube, ich weiß nun, warum Sie mir alles erzählen wollen,« bemerkte er. »Sie glauben, Ihr Herr habe diese Mordtaten begangen, aber Sie halten ihn nicht für verantwortlich dafür, nicht wahr?«
Burrowes bewegte sich unruhig.
»Um offen zu sein, Herr Doktor! Ich glaube nicht, daß ich mich dazu aufgerafft hätte, Ihnen das alles zu erzählen, wenn ich nicht befürchtete, daß noch Schlimmeres folgen könnte. Ich habe furchtbare Angst.«
»Angst, wovor?«
Der Diener des Herzogs ließ den Kopf sinken.
»Beinahe schäme ich mich, es auszusprechen, Herr. Aber ich habe Angst, daß der Herzog mich auf die Seite schaffen will.«
Der bis dahin freundliche Blick Tarletons machte einem der Verachtung Platz. Feigheit war eine der Eigenschaften, die er unter allen Umständen mißbilligte.
»Und wollen Sie mir, bitte, sagen, wie Sie auf eine derartige Idee gekommen sind?«
»Vor allen Dingen, weil ich zu der Meinung gelangt bin, daß er seine Ansicht über den Fall Dunlop geändert hat. Er glaubt jetzt, daß seine Frau Dunlops Gattin war.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Weil er am Tage nach dem Verbrechen andeutete, er werde seine Trauung mit Ihrer Gnaden noch einmal wiederholen. Den Auftrag zur Vorbereitung hat er mir erteilt.«
»Aha!«
»Jawohl. Wahrscheinlich war seine größte Angst, daß er seine Gattin – als solche sah er sie doch an – verlieren würde. Sobald er zu der Ansicht gelangte, daß der rechtmäßige Gatte seiner Frau sie ihm wegzunehmen beabsichtigte, ermordete er ihn. Die Hauptsache bei ihm war, wie Sie ja selbst erfahren haben, alles, was nach Skandal roch, zu unterdrücken. Mademoiselle und ich sind ja die einzigen gewesen, die alles wußten und deshalb auch die Gründe für den ersten Mord liefern konnten. Sie wurde also zum Schweigen gebracht, sobald sie die Lügen, die auszusprechen er sie bezahlt hatte, wirklich ausgesagt hatte. Ich und Hauptmann Theobald wurden beauftragt, die Leiche auf die Straße zu schaffen, wie Sie ja wissen. Nun aber bin ich an der Reihe.«
Die Miene des Sachverständigen war undurchdringlich, als er diesen Vermutungen Burrowes' zuhörte.
»Was soll ich Ihrer Meinung nach also tun?« war die einzige Frage.
»Ich bin der Meinung, daß man Seine Gnaden im Auge behalten sollte. Damit habe ich hauptsächlich sein eigenes Interesse im Auge. Wenn Sie es möglich machen könnten, die nächsten ein oder zwei Nächte ohne Wissen des Herzogs in Trafford House zuzubringen, so glaube ich, daß Sie Seine Gnaden fassen und ihn wieder zur Vernunft bringen könnten.«
Dr. Tarleton erhob sich gemächlich.
»Das Versprechen, die nächste Nacht in Trafford House zu schlafen, habe ich bereits Mrs. Dunlop gegeben. Sind Sie nicht überrascht, wenn ich Ihnen sage, daß sie genau so viel Angst hat wie Sie?«
Diese Mitteilung kam Mr. Burrowes unerwartet. Er öffnete den Mund und starrte den Doktor an, als wäre ihm dieser Gedanke völlig unbegreiflich.
»Warum, um Gottes willen, sollte sie vor ihm Angst haben?« rief er endlich fragend aus. »Er hat doch alles nur für sie getan?«
»So kommt es Ihnen vor,« erwiderte der Arzt. »Sie vielleicht hat eine andere Ansicht darüber. Sie ist der Meinung, daß die Vergeltung erst ihren Liebhaber – denn dafür mußte ihn jeder, außer Ihnen, halten – dann ihre Mitschuldige erreichte, und sie vermutet naturgemäß, daß sie die nächste sein wird. Wie sie mir sagte, ist die Angst, auch nur noch eine Nacht in Trafford House zu verbringen, die einzige Ursache zu ihrem Entschluß, nach Paris zu fahren, gewesen. Auch vor wem sie Angst hatte, hat sie mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben.«
Der verwirrte Verwalter mußte diese Erklärung glauben, aber man sah ihm an, daß er der Meinung war, seine Herrin irre sich. Immerhin, was er ersehnte, hatte er erreicht: Der Arzt würde ihn begleiten, und diese Nacht im Palast Wache halten. Weiter hatte er ja nichts gewollt. Tarleton schnitt seine Dankesbezeugungen kurz ab:
»Ich komme gleich mit Ihnen,« sagte er in dem Ton eines Mannes, der keiner weiteren Überlegung bedarf. »Sie müssen mich zur Hintertür einlassen und so lange in Ihrem Zimmer verborgen halten, bis alles zur Ruhe gegangen ist. Dann weiß ich schon, was ich weiter zu tun habe.«
Burrowes stimmte dankbar zu. Da es noch nicht sehr spät war, zog es der Arzt, um die Zeit zu verbringen, vor, den Weg nach Belgrave Square zu Fuß zurückzulegen. Auf dem Weg dahin ließ er sich von dem Verwalter noch eine Anzahl Fragen beantworten, die sich auf den Nachtdienst im herzoglichen Hause bezogen, ohne jedoch viel Wichtiges zu erfahren. Eine dieser Fragen bezog sich auf Lady Rosa.
»Eine Sache möchte ich noch von Ihnen, wenn möglich, geklärt haben. Erinnern Sie sich, daß ich, als ich am ersten Morgen das Haus betrat, Lady Rosa recht zeitig auf einem Gang durch das Haus antraf? Sie gab für ihr zeitiges Spazierengehen einen etwas durchsichtigen Grund an, und als ich später wieder darauf zurückkommen wollte, ging sie nur ungern darauf ein.«
Der Verwalter fuhr überrascht zusammen. Dieses Ereignis war seinem Gedächtnis offenbar entschwunden, und er antwortete bestürzt.
»Aber Herr Doktor! Sie halten doch nicht etwa Lady Rosa für beteiligt an dem Verbrechen? Sie würde einer Fliege nichts zuleide tun.«
»Sie fragen mich um meine Meinung, während ich Sie um die Ihrige ersuchte,« war die strenge Antwort.
Burrowes befand sich offensichtlich in größter Angst um Lady Rosas willen.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Möglicherweise ist sie dadurch munter geworden, daß wir die Leiche an ihrem Zimmer vorbeitrugen. Die Schritte auf dem Korridor veranlaßten sie dann, nachzusehen, was los wäre.«
»Hm! Hm! Warum hat sie mir das nicht gesagt? Sie gab vor, daß sie ihre Schwester, die sie nicht im Zimmer gefunden hätte, suchte. Sie erinnern sich doch auch, daß Sie mir sagten, daß Lady Agatha oft sehr spät von ihrem Pflegedienst nach Hause käme, nicht wahr?«
Der Verwalter beugte in achtungsvoller Zustimmung sein Haupt, antwortete aber nicht auf die Frage. Es schien, als befürchte er, durch seine Worte die Angelegenheit nur noch mehr zu verwickeln.
Nichts wurde mehr gesprochen, bis sie den Palast erreichten, in denen schon königliche Herrscher Gast gewesen waren, und dessen Schwelle zu überschreiten sich mancher Edelmann vergeblich bemüht hatte. Niemand von den vorübergehenden Passanten konnte vermuten, welche dunklen Geheimnisse diese prunkvollen Gemächer seit einigen Tagen bargen. Nicht in seinen fernsten Träumen hätte der patrouillierende Polizeibeamte vermutet, daß sich in diesem Hause zwei furchtbare Verbrechen abgespielt hatten, nur wenige Meter von seinem Dienstweg entfernt, den er so eifrig Tag und Nacht abging.
Burrowes war sichtlich erleichtert, als sie endlich das Haus betreten hatten, und wandte sich direkt seinem Privatbureau zu.
»Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick, Herr Doktor. Ich will nur meine Filzschuhe anziehen, die ich immer benutze, wenn ich meinen Rundgang antrete.«
Tarleton setzte sich, während Burrowes seine Stiefel ablegte und dafür ein Paar Filzschuhe anzog; der Gedanke, daß Lady Rosa den Verwalter in jener Nacht in diesen lautlosen Pantoffeln gehört haben konnte, erschien ihm höchst unwahrscheinlich.
»Sobald ich mich überzeugt habe, daß alles schlafen gegangen ist, komme ich zurück,« erklärte Burrowes.
»Schön!«
»Darf ich mich nach Ihren weiteren Absichten erkundigen?« Die Neugier des Verwalters fand einen Grund in seiner Unruhe.
»Ich beabsichtige mich an einen Platz zu begeben, wo ich Ihre Gnaden – oder vielmehr Mrs. Dunlop – beschützen kann.«
Die Unruhe des Verwalters wurde offensichtlicher.
»Verzeihen Sie, Herr Doktor! Aber wäre es nicht angebrachter, ein Auge auf Seine Gnaden zu haben?«
»Vorläufig kann ich nicht sagen, ob der Herzog mit diesem Verbrechen mehr zu tun hatte als Sie,« erwiderte der Arzt festen Tones. »Ich habe es hier mit einer recht bemerkenswerten Folge von Verbrechen zu tun und muß deshalb auch mit den unwahrscheinlichsten Möglichkeiten rechnen. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob Sie nicht ein Schlafwandler sind und in Trance die Morde begangen haben. Solche Sachen sind schon vorgekommen.«
Mr. Burrowes ließ einen Laut des Schreckens hören.
»Sie glauben also nicht, was ich Ihnen erzählt habe, Herr Doktor? Sie glauben nicht, daß ich mich vor meinem Herrn hüten muß?«
Dr. Tarleton konnte die Verachtung in seinem Blick nicht unterdrücken.
»Ich glaube nicht, daß Sie sich überhaupt in der geringsten Gefahr befinden, jedenfalls in einer geringeren wie ich selbst. Die Person, die heute nacht am meisten gefährdet sein dürfte, ist die Frau, der ich Schutz versprochen habe. Ich werde ihr mein Wort halten. Das genügt!«
Der betretene Verwalter wagte keine weitere Entgegnung. Er schlich sich aus dem Zimmer mit der Miene eines Mannes, der jeden Augenblick erwartete, daß ihn der Tod ereilt. Der Doktor aber legte sich bequem in seinen Stuhl zurück und begann seine Uhr hin und her zu pendeln.