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Es dauerte nicht lange, bis das Frühstück in der Bibliothek – einem Raum, den der Verwalter des Hauses dem Arzt für seine Untersuchungen zur Verfügung gestellt hatte – aufgetragen war.
»Es wird Ihnen sicherlich willkommen sein, Herr Doktor,« sagte der Verwalter, »einen Raum vollständig frei zu Ihrer Verfügung zu haben. Seine Gnaden benützt dieses Zimmer fast nie. Ich werde Befehl geben, daß Sie hier von niemand gestört werden. Ich habe mein Bureau nebenan, Herr Doktor, und werde dort, wenn Sie mich brauchen sollten, immer zu erreichen sein.«
Er verließ das Zimmer, während er noch sprach, und wollte offenbar bei dem Arzt den Eindruck hinterlassen, als sei er von nun an in seinem Bureau zu finden. Aber der Doktor glaubte es nicht; als wenn seine Blicke die Tür zu Burrowes' Bureau durchbohren könnten, so sicher war er, daß der Verwalter so schnell wie möglich zum Herzog gehen würde, um sich von dort neue Instruktionen zu holen.
Mittlerweile trug ein Diener, prächtig in Samthosen und silbergeschnürtem Rock gekleidet, das Frühstück auf. Der Mann erweckte durch sein Benehmen den Anschein, als sei der Arzt für ihn ein göttliches Wesen, dem man sich kaum nahen dürfe. Auch der unsichtbare Beherrscher der Küche hatte dem Spezialisten wohl einen göttlichen Appetit zugeschrieben, denn das Frühstück bestand aus tadellos zubereiteten Haferflocken, einer riesigen Forelle mit Krabben garniert, aus gebratenen Nierchen und aus Kuchen und Keks. Vorzügliche Erdbeeren, Pfirsiche und andere Früchte – in Treibhäusern gezogen – standen auf Porzellanschüsselchen zum Verzehren bereit. Dieses Opfermahl war wohl mehr eine Spende der Furcht vor dem Doktor, als der Liebe zu ihm, und der Arzt beschäftigte sich tatsächlich auch allen Ernstes, während er den gebotenen Genüssen volle Ehre antat, mit dem Problem, das dieser verwickelte Mordfall bot.
Das Benehmen des Herzogs von Altringham in dieser Angelegenheit verwirrte den Doktor mehr, als er sich zugestehen wollte. Anfangs konnte er es wohl verstehen, daß der Herzog so wenig wie möglich von der Mordsache hören wollte oder aber zum mindesten den Wunsch hegte, den Skandal zu unterdrücken. Weiter hatte er Burrowes im Verdacht gehabt, den Befehl von seinem Herrn erhalten zu haben, die Polizei irre zu führen. Aber nun dämmerte es in ihm, daß in diesem Verbrechen mehr verborgen lag, als er von Anfang an vermutet hatte. Es sah aus, als gehörte auch der Herzog zu denjenigen, die irre geführt worden waren, und daß er mit dieser Irreführung vollkommen einverstanden wäre. Die zögernde und furchtsame Art, in der der Herzog an die Aufklärungsabsichten heranging, glich dem Arzt derjenigen des Kindes, das sich scheut, in einen Schrank zu blicken, in dem Furchtbares verborgen zu sein scheint. Die Frage war nur: – Welche Entdeckung befürchtete der Herzog?
Bis dahin hatte Dr. Tarleton nichts entdeckt, was jemand im Haushalt des Herzogs als besonders verdächtig erscheinen lassen konnte – ausgenommen vielleicht einige Indizien, die auf den Hauptmann Theobald oder auf seinen schwarzen Diener hindeuteten. Wenn er – der Arzt – in seinen Vermutungen, daß das Gift aus Nigeria stammte, recht hatte, dann mußte es von einem der beiden Männer ins Haus gebracht worden sein, und es lag nahe, daß es auch von einem – oder von beiden – gebraucht worden war. Es war wohl möglich, daß der Schwarze der Mörder war, denn das Töten eines Mitmenschen war in seiner Heimat keine so ungewöhnliche Sache wie bei zivilisierten Nationen. Die einzige Schwierigkeit lag darin, einen Grund zu finden, der den Nigeriadiener veranlaßt haben konnte, den Mord zu begehen.
Anders lag, unglücklicherweise, die Sache bei dessen Herrn. Seine Folgerungen hatten Tarleton davon überzeugt, daß der Grund zu diesem Verbrechen entweder in Eifersucht oder aber darin zu suchen war, daß ein Weib vor den Erpressungen des Ermordeten geschützt werden sollte. In beiden Fällen würde die Annahme zutreffen, daß die Tat einem Manne zuzuschreiben sei, der dieses Weib liebte. Soweit der Kriminalist unterrichtet war, gab es in diesem Hause nur einen Menschen, der hierfür in Frage kam, und das war der junge Offizier, der mit Lady Rosa verlobt war.
Als die Gedanken des Arztes bei diesem Punkte angelangt waren, fand er sich beinahe in demselben Dilemma wie sein adliger Klient. Er fürchtete sich davor, seine Folgerungen weiter auszubauen, denn er scheute die Schatten, die dadurch auf das liebliche Wesen fallen würden, das sein Herz heute morgen durch ein Wort und ein süßes Lächeln gewonnen hatte. Er wehrte sich gegen die tragische Logik, die das Resultat seiner Folgerungen sein mußte, und hätte damit wahrscheinlich Erfolg gehabt, wenn er nicht sicher gewesen wäre, daß er mit seinem Verdacht nicht allein stand. Das geheimnisvolle Benehmen Burrowes', die sichtbare Trostlosigkeit des Herzogs, der selbstgerechte Zorn Lady Agathas, alle diese Tatsachen wiesen darauf hin, daß seine logischen Folgerungen wohl berechtigt waren. Er hätte seinem Schöpfer gedankt, wenn er dem Beispiel Sir Philipps hätte folgen und sich von der weiteren Aufklärung des Verbrechens hätte freimachen können, aber das ging nicht an, denn wer konnte wissen, wie die Sache dann weiter verlaufen würde.
Ohne daß er sich darüber klar war, geriet der langjährige Beamte des Innenministeriums in die Gefahr, seine Pflicht der Polizei gegenüber zu vernachlässigen, weil er bestrebt war, jeden Skandal von dem lieblichen Mädchen fernzuhalten. Er riß sich mit Gewalt aus allen diesen Gedanken. Als er sein Frühstück beendet hatte, zeigte ihm ein Blick auf seine Uhr, daß es gerade neun Uhr war. Jetzt, wo sich die herzogliche Familie beim Frühstück befand, konnte er seine Untersuchungen ungestört in den oberen Räumen durchführen, und mit dieser Absicht trat er aus der Bibliothek in das Zimmer des Verwalters.
Der tadellose Mr. Burrowes saß vor seinem Schreibtisch, allem Anschein nach mit seinen Abrechnungen beschäftigt. Er erhob sich respektvoll beim Eintreten des Arztes und erkundigte sich, ob das Frühstück den Wünschen des Gastes entsprochen habe.
»Das war der Fall – beinahe zu sehr,« antwortete ihm der Arzt. »Ich befürchtete schon, durch so viel Luxus bestochen zu werden.«
Der Verwalter zuckte vor dem ironischen Lächeln des Spezialisten zusammen.
»Ich bin nun bereit, wieder an die Arbeit zu gehen, und möchte Sie bitten, mich durch das Haus zu führen und mir zu sagen, wo die Bewohner des Hauses schlafen. Selbstverständlich können Sie mich, falls wir jemandem begegnen sollten, als Sachverständigen für hygienische Fragen vorstellen, der die schadhaften Abzugsleitungen und Ventilationen nachsehen soll.«
»Jawohl, Herr Doktor.« Die Antwort des »Premierministers« erfolgte etwas zögernd. »Es wäre sehr zu wünschen, daß Ihre Gnaden, die Frau Herzogin, nicht so früh gestört würde. Sie steht meist erst um elf Uhr auf.«
»Es wird nicht nötig sein, sie zu stören; es genügt, wenn Sie mir sagen, wo ihre Räume liegen.«
»Gewiß, Herr.« Die Antwort war in etwas freierem Tone gegeben. Die beiden wandten sich der Diele zu, und der Verwalter erklärte dem Arzt den Zweck der verschiedenen Räume im Erdgeschoß, die sie auf ihrem Wege passierten.
Ein Korridor führte von der Diele in ein Billard- und Rauchzimmer, während der Anrichteraum, die Küche und einige Schlafzimmer für die Dienerschaft hinter diesen beiden Räumen gelegen waren.
Der Arzt ging an allen diesen Gemächern vorüber, ohne den Wunsch zu äußern, einzutreten. Eine breite Treppe führte zum ersten Stockwerk, das Tanzsäle und Salons enthielt, die in ihrer Pracht kaum überboten werden konnten; außerdem lag eine Gemäldegalerie mit herrlichen Meisterwerken in diesem Stockwerk. Auch diese Räume inspizierte der Arzt nicht. Er verweilte nur einen Augenblick in der kleinen Nische, in der sich, wie Burrowes erwähnt hatte, das Drama der vergangenen Nacht abgespielt hatte. Hier zog er den Vorhang auf und zu, der über dem Eingang hing, stellte sich dahinter und blickte auf die Treppe hinaus. Dann nahm er ein Vergrößerungsglas aus der Tasche, ließ sich auf die Knie nieder und begann eine genaue Untersuchung des Teppichs, der den glänzenden Parkettboden teilweise verdeckte.
Unzufrieden schüttelte er den Kopf, als er sich endlich erhob, und wandte sich dem nächsten Stockwerk zu. Hier schien das Interesse des Arztes lebhafter zu werden. Das zweite Stockwerk war hauptsächlich in die Gemächer des Herzogs und der Herzogin aufgeteilt. Beide bewohnten die gleiche Anzahl von Räumen – ein Schlafzimmer, Ankleideraum, Badezimmer und ein Boudoir beziehungsweise Frühstückszimmer. Burrowes, der hier auf den Zehen umherschlich und nur flüsternd sprach, mußte dem Arzt an der Tür den Zweck eines jeden Raumes erläutern. Auf eine Frage des Spezialisten erklärte er ihm, daß die einzige Verbindungstür zwischen den Gemächern des Herzogs und der Herzogin vom Ankleideraum des Herzogs in das Schlafzimmer seiner Gattin führe.
»Schläft außer den beiden Herrschaften noch jemand auf dieser Etage?«
Burrowes runzelte die Stirn, als wollte er damit andeuten, daß der Fragesteller seine Neugierde zu weit treibe.
»Gewöhnlich nicht, Herr Doktor. Es sind Schlafzimmer für die Zofe und für den Kammerdiener vorhanden, die aber nur benützt werden, wenn jemand von den Herrschaften krank ist, das heißt, wenn man den Diener während der Nacht bedarf. Gewöhnlich aber haben beide Leute ihre Schlafzimmer im vierten Stock.«
»Ich möchte das Zimmer der Zofe besichtigen,« erklärte der Arzt. »Können Sie mir sagen, ob sie in der letzten Zeit hier unten geschlafen hat?«
Die Miene des Verwalters veränderte sich. Die Andeutung, die in der Frage des Arztes lag, daß der nächtliche Besucher vielleicht zu der Zofe gewollt hatte, gefiel ihm. Er führte den Arzt ohne Murren in das betreffende Zimmer.
»Ich weiß nicht,« antwortete Burrowes auf die Frage des Spezialisten, »ob das der Fall gewesen ist; aber ich kann vom Zimmermädchen, das sie bedient, Auskunft bekommen,« fügte er, beinahe zu lebhaft, hinzu. »Ihre Gnaden hat in der letzten Zeit viel mit ihren Nerven zu tun gehabt, und es ist daher sehr leicht möglich, daß sie gewünscht hat, Mademoiselle Prégut soll hier unten schlafen.«
»Ich glaube, die Zofe ist Französin, nicht wahr?«
»So ist es wohl.«
Sogar in diesem nebensächlichen Punkt vermied es der vorsichtige Verwalter, sich festzulegen. Er führte den Arzt bis zur Tür des Zimmers der Mademoiselle Prégut, klopfte bescheiden und öffnete.
Tarleton betrat den Raum, der ziemlich klein war, aber einen bequemen, beinahe luxuriösen Eindruck erweckte. Es war ein Zimmer, das ebensogut von der Tochter einer gutbürgerlichen Familie hätte bewohnt sein können. Nichts deutete darauf hin, daß das Zimmer kürzlich benutzt worden war, im Gegenteil, das Bett war vollkommen mit einer Leinendecke bedeckt, und als Tarleton den Schrank öffnete, fand er ihn leer.
Durch diese kurze Besichtigung zufriedengestellt, bat er Burrowes, ihn nach dem nächsten Stockwerk zu führen.
»Wieviel Leute schlafen denn hier oben?« erkundigte er sich, als sie die dritte Etage erreichten.
»Lady Rosa und Lady Agatha haben hier ihre Zimmer, Herr Doktor. Sie liegen dort weiter unten auf diesem Korridor.« Er zeigte den Gang entlang, in dem Lady Rosa am frühen Morgen erschienen war. »Die anderen Zimmer sind Gastzimmer.«
»Und wieviel Gäste weilen gegenwärtig im Hause?«
»Nur Hauptmann Theobald.«
»Schön! Das Stockwerk über uns – so sagten Sie mir wohl – ist nur mit Dienerschaft belegt, nicht wahr?«
»Ganz nicht. Auch einige der höheren Dienerschaft wohnen da. Mein eigenes Zimmer liegt ebenfalls dort, und außerdem ist noch ein Kinderzimmer da.«
Tarleton lächelte leise, als er Burrowes den feinen Unterschied zwischen sich und der höheren Dienerschaft betonen hörte.
»Es ist doch wohl auch noch eine Treppe für die Dienerschaft vorhanden, nicht wahr?«
»Diese liegt aber auf der anderen Seite des Hofes,« erwiderte sein Führer. »Sie steht mit diesen Räumen durch einen Gang auf der rechten Seite am Ende dieses Korridors in Verbindung.« Er gab diese Auskunft in sicherem Ton, aber im gleichen Augenblick schien er die Falle, die ihm gestellt worden war, bemerkt zu haben, denn er fuhr hastig fort: »Die Treppe, die von der Dienerschaft benutzt wird, ist leichter erreichbar als diese, denn verschiedene Hausangestellte haben ihre Schlüssel dazu und kommen oft erst spät nach Hause. Jemand, der ungesehen ins Haus eindringen möchte, würde viel einfacher die Haupttreppe benutzen, und dabei sicherlich weniger Gefahr laufen, gesehen zu werden, als auf der vielbenutzten Hintertreppe.«
Tarleton zuckte die Achseln. »Vermutlich haben Sie recht. Wollen Sie nun so freundlich sein, mir Hauptmann Theobalds Zimmer zu zeigen?«
Mr. Burrowes betrachtete ihn besorgt.
»Ich glaube nicht, daß der Hauptmann in seinem Zimmer ist,« erwiderte er zögernd.
»Um so besser. Ihr Herr hat Sie wohl dahingehend angewiesen, sich voll und ganz nach meinen Befehlen zu richten, nicht wahr?«
Auf diese Frage hin erlaubte sich der »Premierminister des Herzogs« keine Widerrede mehr und führte den Arzt nach links den Korridor hinab. Als sie eine verschlossene Tür passierten, hörte der Arzt Stimmen aus dem Zimmer und blieb stehen.
»Wer bewohnt dieses Zimmer?« fragte er flüsternd.
»Das Wohnzimmer Ihrer Gnaden der Töchter. Beide Damen haben eine Tür von ihren Schlafzimmern nach diesem gemeinsamen Wohnzimmer.«
Burrowes ging schnell weiter und blieb vor der nächsten Tür stehen. »Dies ist das Zimmer des Hauptmann Theobald.«
Die Tür zu diesem Raum stand einladend offen. Tarleton überschritt ohne Zögern die Schwelle und sah, daß das Zimmer leer war. Einen Augenblick später hörte er, wie sich die Tür nach dem Korridor leise hinter ihm schloß.
Ein verschmitztes Lächeln lief über das Gesicht des Arztes. Leise trat er wieder zur Tür zurück, öffnete sie lautlos und blickte in den Korridor hinaus. Genau, was er erwartet hatte, sah er: Der kluge Burrowes klopfte leise an die Tür, an der er, einige Minuten vorher, so schnell vorübergehen wollte. Wahrscheinlich wollte er den Hauptmann Theobald warnen, daß man in sein Zimmer eingedrungen war.
Glücklicherweise bedeutete das für den Beamten nichts, denn schon der erste Blick in das Zimmer des Hauptmanns hatte ihm alles Wissenswerte gezeigt. Dem Vetter der Herzogin war allem Anschein nach das beste Zimmer im Hause eingeräumt worden. Vorhänge, in kluger Anordnung angebracht, erweckten den Eindruck, als handle es sich um eine fortlaufende Zimmerflucht, wie sie Junggesellen so oft bewohnen. Der Hauptmann hatte sich recht behaglich eingerichtet. Ein Teil des Zimmers war als Rauchsalon eingerichtet worden. Hier lagen in malerischer Unordnung persönliche Gebrauchsgegenstände und Andenken, die der Offizier aus den Ländern mitgebracht, in denen er seine Dienstzeit verbracht hatte. Merkwürdige Bronzeschüsseln und Schalen, Ledersäckchen, rot und grün, mit reichen Verzierungen, bedeckten die Stühle, während die Wände mit Speeren und Messern, in fremdartigen Scheiden steckend, übersät waren. Ein Bogen, wie ihn ein Eingeborener benutzen mochte, hing über einem Lederköcher, der mit leichten Pfeilen angefüllt war; unter diesem hing ein uraltes Steinschloßgewehr, bedeckt mit Zeichnungen und Talismanen – Kaurimuscheln –, die das genaue Schießen garantieren sollten.
Der Arzt hatte gerade begonnen, eine oberflächliche Untersuchung einzuleiten, als er vor der Tür Schritte hörte. Als sich diese öffnete, drehte er sich um und fand sich dem Bewohner des Zimmers gegenüber. Der junge Offizier betrat den Raum mit einem wütenden Blick.
»Wie kommen Sie dazu, diesen Raum zu betreten?«
»Ich betrat ihn mit der Genehmigung des Besitzers dieses Hauses,« erwiderte ruhig der Arzt.
»Was??! Wollen Sie damit andeuten, daß der Herzog mich im Verdacht hat, daß ich mit dieser unglückseligen Sache etwas zu tun habe? Oder haben Sie ihm etwa diesen Verdacht eingeflößt?«
»Niemand hegt, soviel ich weiß, gegen Sie, bisher wenigstens, irgendwelchen Verdacht. Es wird Ihre eigene Schuld sein, wenn sich das ändert. Wenn Sie weiter fortfahren, meine Bemühungen, den Fall aufzuklären, zu hindern, so dürfen Sie sich auch nicht wundern, wenn man sich fragt, was Sie für ein Interesse haben könnten, die Aufklärung zu verzögern.«
Hauptmann Theobald biß auf seinen Schnurrbart.
»Ich habe gegen eine anständige und zartfühlende Untersuchung nichts einzuwenden,« murmelte er, »aber wenn ich Sie in meinem Zimmer finde, wie Sie es während meiner Abwesenheit durchsuchen, dann habe ich wohl die Berechtigung, mich zu erkundigen, warum Sie das tun. Ich bin ein Offizier Seiner Majestät, das wollen Sie doch, bitte, nicht vergessen, und habe auch ein Recht, als solcher behandelt zu werden.«
»Auch ich bin hier im Dienste Seiner Majestät,« erwiderte ihm der Vertreter der Kriminalbehörde in strengem Ton. »Wenn Sie mich in meinen Untersuchungen hindern wollen, dann werde ich mein Amt niederlegen, um für andere, die eine Ermächtigung zur amtlichen Durchsuchung in Händen haben, Platz zu machen; sie werden das, was ich als Freund zu tun versuche, amtlich durchführen.«
Der Hauptmann ließ seinen Kopf hängen.
»Ich habe nicht die Absicht, Sie an der Durchführung Ihrer Untersuchung zu hindern,« sagte er in sanfterem Ton. »Aber wenn Sie wirklich als Freund hier tätig sind, dann sagen Sie mir, bitte, was Sie in meinem Zimmer zu finden erwarten?«
Der Ärger des jungen Offiziers, der dadurch den Eindruck eines Unschuldigen machte, gefiel Dr. Tarleton. Er antwortete deshalb etwas freundlicher:
»Ich verschweige Ihnen nicht, daß ich dieses Zimmer in der Absicht betreten habe, hier die Waffe, mit der der Mord ausgeführt worden ist, zu finden.«
Theobald zuckte zusammen, seine Augen wandten sich den Waffen zu, die hier aufgehängt waren, und zum ersten Male zeigte sich ein Ausdruck von Furcht in seinen Blicken.
»Die Waffe??!« rief er aus. »Aber er war ja gar nicht verwundet! Weder Burrowes noch ich konnten eine Wunde entdecken, auch Sir Philipp nicht!«
»Ich kann nicht wissen, was Sir Philipp gefunden hat oder nicht,« antwortete trocken der Arzt, »da er sich weigerte, mir seine Diagnose mitzuteilen. Ich spreche von meinen eigenen Untersuchungsergebnissen.«
Während dieser Rede hatte der junge Offizier ohne Unterlaß die vorhandenen Waffen mit seinen Augen überflogen.
»Gott sei Dank, nichts, was mir gehört, ist angerührt worden,« sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Es wäre ja auch seltsam, wenn in England jemand diese Waffen verwenden wollte.«
»Bisher wissen wir nicht, ob der Mörder ein Engländer war,« gab der andere zurück.
Wieder zuckte der Hauptmann zusammen.
»Um Gottes willen, Sie glauben doch nicht etwa, daß es mein Diener war. Falai ist das harmloseste Geschöpf in der ganzen Welt.«
»Das bestreite ich auch nicht. Sie dürfen meine Bemerkung auch nicht so auffassen, als wäre mein Urteil in dieser Hinsicht schon abgeschlossen. Aber andererseits muß ich von seiner Existenz immerhin Kenntnis nehmen. Ich traf ihn heute morgen recht zeitig, wie er hier im Hause umherwanderte.«
Falais Herr äußerte Zeichen von Zweifel. Er sprach wiederum in wärmerem Tone:
»Er ist eine Perle, der beste Diener, den ich je unter den Eingeborenen hatte. Für mich würde er durchs Feuer gehen, und ich kann für ihn bürgen wie für mich selbst.«
Der Arzt nickte zustimmend.
»Ich freue mich, das zu hören. Ich habe auch vorläufig nichts gegen ihn, es war der Herzog, der ihn im Verdacht hatte.«
Er warf diese Bemerkung anscheinend arglos hin, hegte aber im stillen die Hoffnung, zwischen diesem jungen Mann und dem Herzog eine Saat des Mißtrauens aufgehen zu sehen. Immer noch konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß diese beiden mit Burrowes eine Verschwörung eingegangen waren, um wichtige Tatsachen vor ihm – Tarleton – geheimzuhalten; und er wußte, daß der kürzeste Weg zur Wahrheit der sei, zwischen den Verschworenen Mißtrauen auszustreuen. Der Gesichtsausdruck des Hauptmanns bewies, daß diese Hoffnung nicht vergebens gewesen war. Er preßte etwas zwischen seinen Zähnen hervor, das wie ein Fluch klang.
»Es wäre ja auch sehr schwierig, einen Grund zu finden, der Ihren Diener zu diesem Mord veranlaßt haben könnte,« fuhr der Arzt rasch fort. »Seit wann ist denn Falai im Palast?«
»Gestern waren es drei Wochen; genau so lange, wie ich selbst hier bin.«
Wollte der Hauptmann damit andeuten, daß er also genau so den Verdachtsgründen unterworfen wäre wie sein Diener? Tarleton nickte.
»Das würde selbstverständlich seine Unschuld fraglos feststellen; wenn es anders gewesen wäre, dann hätte man ihn wohl mit ins Auge fassen müssen. Wie der Herzog sehr richtig bemerkte, machen sich Eingeborene bedeutend weniger aus einem Menschenleben als wir. Gerade die Eingeborenen von Nigeria stehen im Ruf, unter besonders geheimnisvollen Umständen den Tod herbeiführen zu können. Aber Sie werden ja über dieses Thema besser Bescheid wissen als ich.«
Wieder hatte der Hauptmann ein recht sorgenvolles Aussehen. Ein neuer Blick über die Wände schien ihn zu überzeugen, daß keine der Waffen fehlte.
»Sie zaubern wirklich gern – wir nennen es Ju-Ju da draußen,« führte er aus. »Es gibt Zauberer unter ihnen, die einem Hahn den Kopf abhauen und ihn einem Menschen, den sie umbringen wollen, in den Weg legen; der Mensch stirbt vor Schreck, wenn er den Hahnenkopf sieht. Aber in solchen Fällen ist es ja schließlich nur der eigene Aberglaube, der den Tod herbeiführt. Einen Weißen würden sie auf diese Art nicht töten können.«
»Da haben Sie recht, aber es gibt ja auch noch andere Mittel und Wege, das zu tun, nicht wahr? Ich habe schon viel über die Gifte von Nigeria gehört.«
»Ach so! Man sagt, daß sie ihnen, um sie loszuwerden, Gift ins Essen geben. Glaspulver wird auch viel angewandt, wie man mir erzählt hat. Aber Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Falai den Mann durch solch einen Trick ermordet haben könnte? Wann sollte er wohl Gelegenheit gehabt haben, einem Manne, der mitten in der Nacht das Haus betritt, Gift beizubringen?«
»Es gibt viele Wege, Gift beizubringen,« bemerkte der Spezialist ruhigen Tones. »Die Nigerialeute haben einen unangenehmen Ruf, durch Pfeile zu vergiften.«
Wider seinen Willen blickte Theobald nach dem an der Wand hängenden Köcher. Auch der Arzt wandte sich diesem Gegenstand zu, den er zum ersten Mal zu sehen schien.
»Aha! Sie haben ja solche Pfeile mit nach Hause gebracht,« sagte er in gleichmäßig fragendem Ton. »Hoffentlich sind Sie so vorsichtig gewesen, die Pfeilspitzen in glühende Asche zu tauchen, um das Gift zu sterilisieren. Es ist recht gefährlich, diese Dinger so herumliegen zu lassen.«
Der Offizier war tief erschrocken.
»Ich … ich hatte die Absicht, das Gift abzubrennen,« stammelte er, »aber die Pfeile waren so fest in den Köcher hineingerammt, daß ich sie, ohne sie abzubrechen, nicht hätte herausbekommen können. Ich dachte, daß sie niemand in Gefahr bringen könnten, da sie nicht herausfallen konnten.«
Tarleton schüttelte ernst den Kopf. Dann ging er der Wand zu.
»Ich befürchte, jemand war nicht so besorgt wie Sie, daß sie abbrechen könnten, oder aber, die Pfeile waren nicht so fest eingerammt, wie Sie vermuteten. Schauen Sie her!« Er streckte seine Hand aus, zog ohne jede Schwierigkeit einen Pfeil heraus und hielt ihn dem jungen Offizier zur Prüfung hin.
Der Pfeil bestand aus einem dünnen Bambusrohr, ohne Federschmuck, aber er lief in eine mit gefährlich aussehenden Widerhaken versehene eiserne Spitze aus. Das Eisen zeigte keine glatte Oberfläche, sondern war mit einer schwarzen Schicht bedeckt, die wie getrockneter Schlamm aussah.
»Großer Gott!«
Das Gesicht des Offiziers zeigte eine grünliche Farbe, seine kräftige Gestalt zitterte, und er fiel hilflos in einen Stuhl. Der Arzt betrachtete ihn mehr mit Mitleid, als mit dem Gefühl des Siegers.
»Doktor,« rief der junge Mann untröstlich aus, »ich schwöre Ihnen, daß ich den Köcher noch nie wieder angerührt habe, seit ich ihn an die Wand nagelte. Wenn Pfeile fehlen, so weiß ich nicht mehr darüber als Sie auch.«
»Mein lieber Hauptmann, bitte, beruhigen Sie sich,« tröstete ihn Tarleton mit freundlicherer Stimme. »Es ist ja absolut nicht damit gesagt, daß Sie der Mörder waren, wenn auch die Waffe, die den Tod herbeigeführt hatte, aus Ihrem Zimmer stammt. Aber was ich von Ihnen verlangen muß, ist, daß Sie sich verpflichten, mir Ihren vollen Beistand zu leihen, damit der Mörder entdeckt wird. Sie können mir, wenn Sie wollen, bei dieser Arbeit helfen.«
Mit schweren Füßen erhob sich Theobald.
»Sie haben recht, Doktor. Da steckt etwas dahinter, und ich werde nicht ruhen, ehe ich nicht weiß, was es ist. Sie sind sich dessen, was Sie sagten, ganz sicher, nicht wahr? Der Mann wurde durch einen Pfeil getötet?«
»Schon von Anfang an hegte ich darüber recht geringe Zweifel. Ich fand einen kleinen Einstich in der Haut des Toten, genau so, wie er durch einen Pfeilstich hervorgebracht wird; die Wunde war an seinem Hinterkopf unter den Haaren.«
Der Hauptmann blickte auf den an der Wand hängenden Bogen und trat darauf zu.
»Der Bogen sieht nicht danach aus, als ob er benutzt worden wäre,« stellte er fest.
»Ich vermute auch nicht, daß man ihn gebraucht hat. Meine Ansicht geht dahin, daß man das Opfer mit der Pfeilspitze von hinten gestochen hat.«
»Wie konnte es geschehen, daß man so etwas unbeachtet tun konnte?«
»Das halte ich nicht für schwierig. Wenn es ein Mann war, dann hatte der Mörder nur hinter dem Vorhang zu warten, bis sein Opfer vorbeikam. Auf diese Art pflegte man in Neapel oft genug Leute durch gedungene Mörder beseitigen zu lassen.«
»Wenn es ein Mann war!!?« Der junge Offizier sprach mit Entsetzen in seiner Stimme. »Sie wollen doch nicht andeuten, daß es ein Weib war?«
Traurig betrachtete ihn Tarleton.
»Es ist zu früh, um irgendeine Ansicht zu äußern. Erst muß ich herausbekommen, wer der Mann war, und was ihn in jener Nacht hierhergebracht hat. Ich könnte begreifen, daß ein Weib, wenn es genug gereizt worden wäre, sich auf eigene Faust gerächt hätte, oder aber jemand andern dazu gesucht haben würde.«
Hauptmann Theobald hatte diesen Theorien mit sorgenvoller Stirn gelauscht. Ehe er aber seinen Gedanken Ausdruck verleihen konnte, hörte man von unten die Schläge eines Gongs.
»Das ist das Zeichen zum Frühstück,« sagte er eilig. »Sie kommen doch mit herunter, nicht wahr?«
»Danke sehr, ich habe bereits gegessen. Ich muß meine Arbeit oben fortsetzen.«
Der Offizier war offensichtlich nicht davon entzückt, den Arzt ohne Aufsicht seine Untersuchung fortsetzen zu lassen; aber da er nicht gut Einwendungen dagegen machen konnte, öffnete er widerwillig die Tür.
»Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich den Köcher an mich nehmen, da die Pfeile doch noch recht gefährlich sind,« sagte der Kriminalist. »Ich glaube, mein Besteckkasten wird groß genug sein, um sie zu bergen.« Er nahm, während er sprach, den Köcher von der Wand.
»Bitte, nach Ihrem Belieben,« antwortete kalt der Besitzer der Waffen und verließ unwillig das Zimmer.
Tarleton hielt sich nur solange auf, um die Pfeile samt dem Köcher in seinem Besteckkasten unterzubringen, und trat dann auf den Korridor hinaus. Er kam gerade zurecht, um etwas zu sehen, was so gar nicht zu seinen trüben Gedanken paßte. Lady Rosa, genau so niedlich und entzückend wie am zeitigen Morgen in ihrem Nachtanzug, in ein Gewand von Spitzen und Bändern gekleidet, huschte aus dem Salon und, spielerisch wie ein kleines Kätzchen, faßte sie ihren Verlobten beim Arm und zog ihn mit sich. Ihre Schwester folgte ihr, ernster, aber mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen.
Ein tiefer Seufzer, der gar nicht zu einem bejahrten Wissenschaftler paßte, entschlüpfte den Lippen des Beobachters.