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Nun aber war endlich die Zeit für den Sachverständigen gekommen, offen und klar auszusprechen, was er mit Rücksicht auf den Herzog so lange verschwiegen und geheimgehalten hatte. Ein Unschuldiger war durch wissentlich falsche Beschuldigung des Mordes zur Flucht getrieben worden; aber sein Ankläger sollte nicht triumphieren! Was der unglückliche Neger gesagt hatte, in Trafford House befände sich der Mörder noch auf freiem Fuße, beruhte auf Wahrheit: und keinesfalls durfte zugelassen werden, daß sich noch weitere Tragödien dieser Art abspielten.
Die Gelegenheit zur offenen Aussprache schien günstig. Seine Gnaden dachte nicht im entferntesten daran, was ihm bevorstand, denn er hatte sich mit der Miene eines Mannes in seinen Stuhl zurückgelegt, der nun endlich mit der ganzen unglücklichen Angelegenheit Schluß gemacht zu haben glaubt. Er betrachtete Theobald mit erstaunten Blicken, als wenn er sich wundere, daß dieser das Zimmer nicht mit seiner Braut verlassen habe. Erst jetzt schien er die traurige Miene des jungen Mannes zu bemerken.
»Was habt ihr denn, du und Rosa, miteinander gehabt?« fragte er.
Der Hauptmann beugte sein Haupt.
»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Lady Rosa unsere Verlobung aufgelöst hat.«
»Um Himmels willen! Warum denn?«
»Darüber hat sie sich nicht geäußert – wenigstens nicht in einer Art, die ich als Aufklärung betrachten könnte. Sie sagt nur, daß sie angesichts der hier im Hause stattgefundenen traurigen Ereignisse sich nicht mehr mit dem Gedanken abfinden könnte, meine Gattin zu werden.«
Das Gesicht des Herzogs umwölkte sich. Der Blick, den er dem jungen Offizier zuwarf, war beinahe mißtrauisch.
»Besteht denn die Möglichkeit, daß sie dich in irgendeiner Weise als mitschuldig erachtet?«
Theobald blickte unruhig zur Tür, und Tarleton ergriff die günstige Gelegenheit, sich einzumischen.
»Keiner von uns hat eine Ahnung, in welche Richtung sich die Vermutungen Lady Rosas erstrecken,« sagte der Arzt dem Vater der jungen Dame. »Sie ist ja noch sehr jung, und wie Sie wissen, haben Jugendliche oft recht merkwürdige Ansichten. Was mir vollkommen zweifelsfrei erscheint, ist, daß Lady Rosa sich mit der offiziellen Auffassung der Lage nicht einverstanden erklärt hat.«
»Was verstehen Sie unter offizieller Auffassung?«
»Ich meine die Auffassung, die Sie uns mitgeteilt haben und von der ich hoffe, daß sie auch für die Behörde annehmbar sein wird,« entgegnete ihm der Sachverständige mit leiser Zweideutigkeit. »Vielleicht ist es für Sie angenehm, wenn ich Ihnen nochmals wiederhole, daß ich ebenso froh bin, wenn die Angelegenheit nicht zur öffentlichen Kenntnis gelangt, wie Sie auch. Ich habe deshalb der Totenschau in Chiswick gestattet, ein Urteil gegen Unbekannt auszusprechen, womit ja die Angelegenheit Montacute erledigt ist, selbstverständlich vorbehaltlich der Zustimmung des Ministers. Im zweiten Mordfalle wird sich eine Totenschau wohl ebenfalls nicht vermeiden lassen, und ich befürchte, daß der Totenbeschauer und seine Beisitzer eine Mordanklage gegen den geflüchteten Neger aussprechen werden, dann wäre ja alles in Ordnung und die Sache erledigt. Aber wir müssen ja auch die Möglichkeit ins Auge fassen, daß er auf Grund des Totengerichtsurteils von der Polizei verhaftet wird. Das ist die große Gefahr, mit deren Wahrscheinlichkeit wir unter allen Umständen rechnen müssen.«
Die Miene des Herzogs drückte Überraschung und Unruhe aus.
»Ich fasse nicht ganz, was Sie damit meinen, Doktor. Wenn man ihn verhaftet und verurteilt, muß er sich eben damit abfinden, hingerichtet zu werden.«
»Leider wird er das nicht tun. Das ist ja eben die Sache.«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil er unschuldig ist.«
Diese Erklärung wurde mit ruhiger und vollkommen sicherer Stimme gegeben. Der Herzog schien wirklich erschrocken zu sein.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie der unsinnigen Schuldprobe, der er sich unterworfen hat, Bedeutung beimessen?«
»Als zusätzlichen Beweis der Unschuld Falais weise ich die Prozedur absolut nicht ab. Aber sie war meines Erachtens nicht einmal notwendig. Ich habe auch nicht einen Augenblick ernsthaft die Schuld Falais ins Auge gefaßt.«
Seine Gnaden schien mehr und mehr bestürzt.
»Warum haben Sie dann überhaupt die Prozedur vorgeschlagen? Und wer …?« Er unterbrach sich, als fürchtete er, die Frage auszusprechen.
»Ich war der Meinung, daß die Probe ja kein großes Unheil anrichten und doch vielleicht etwas ergeben könnte, was uns von Nutzen hätte sein können. Gleichzeitig muß ich allerdings zugeben, daß ich kurze Zeit durch die Zweifel Lady Rosas beeinflußt worden sein mag.«
»Welche Zweifel meinen Sie! Um Himmels willen, reden Sie endlich offen!!!«
»Es ist für mich nicht so leicht, offen zu sein, Herzog, da es sich doch immer nur um einen Verdacht und um eine logische Folgerung handeln kann; denn wirkliche Beweise oder auch selbst genügend Unterlagen dazu habe ich ja leider nicht. Aber mir ist der Gedanke aufgetaucht, daß der Schwarze vielleicht nur das ausführende Werkzeug des Planes eines Dritten gewesen sein könnte.«
Der Herzog fragte nicht nach dem Namen dieses Dritten. Der bedrückte Blick, den er auf seinen Schwiegersohn warf, zeigte, daß er ahnte, wohin sich der Verdacht Tarletons richtete.
»Ich habe Hauptmann Theobald und auch Lady Rosa meine Vermutungen bereits mitgeteilt. Ich hatte den Verdacht klarzustellen, ob Hauptmann Theobald es nicht als seine Pflicht betrachtet haben könnte, den Mann, der seiner Meinung nach ein Weib vielleicht erpreßte, aus dem Weg zu schaffen, ganz besonders, wenn es sich um eine Frau handelte, die sich seinem Schutz unterstellte.«
Noch immer verstand der Herzog nicht – oder wollte es vielleicht auch nicht verstehen – wohin die Bemerkung des Arztes zielte.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Vermutung hegen, dieser Montacute wäre ins Haus gekommen, um meine Tochter zu besuchen?« fragte der Herzog den Hauptmann mit zorniger Stimme.
Theobald schüttelte den Kopf.
»Dr. Tarleton irrt sich, wie ich ihm ja auch bereits versichert habe. Ich habe von diesen Vermutungen nicht mehr Ahnung als Sie auch, Herzog.«
Diese Ableugnung trug den Stempel der Wahrheit an sich. Aber das unruhige Benehmen des Offiziers zeigte, daß er unter schlimmen Ahnungen litt.
»Lady Rosa ist nicht die einzige Frau, die ein Recht hätte, sich auf den Schutz Hauptmann Theobalds zu berufen,« sagte der Sachverständige ernsten Tones, während er dem Herzog voll ins Auge blickte.
Trotz allem, was vorgegangen war, schien der Herzog auf eine derart schwerwiegende Andeutung doch nicht vorbereitet zu sein. Er brach darunter offenbar zusammen.
»Dr. Tarleton?« stöhnte er. »Was sagen Sie da nur? Bitte, vergessen Sie doch nicht, daß die Ehre meiner Gattin mir teurer sein muß, als meine eigene.«
Tarleton blickte auf den tief getroffenen Gatten mit größerem Mitleid, als er bisher für ihn aufgebracht hatte. Etwas unsagbar Bedeutsames lag in diesem plötzlichen Zusammenbruch. Er hatte erwartet, daß der hochmütige Edelmann die erste für Herzogin Amy feindselige Andeutung mit Zorn und Entrüstung aufnehmen würde, und statt dessen vernahm er ein Flehen um Gnade. Hierfür gab es nur eine Erklärung. Die Gedanken des Herzogs mußten sich bei gesundem Menschenverstand und logischer Verwertung seiner Vermutungen schon von Anfang an in dieser Richtung bewegt haben. Seine Vernarrtheit hatte ihn aber wohl dazu getrieben, allen logischen Folgerungen zum Trotz seine Augen zu schließen, wenn sie dem Weib seines Herzens schaden konnten, er schien seine eigenen Zweifel unterdrückt zu haben; er hatte sich sogar dazu hergegeben, diese Zweifel seiner Tochter zuzuwenden; er hatte falsche Spuren mit Eifer verfolgt und sich gezwungen, ein erlogenes Geständnis der Zofe zu glauben.
»Ich habe so lange wie möglich gezögert, Ihnen meine Vermutungen mitzuteilen,« fuhr der Sachverständige im zartesten Ton fort. »Ich glaube sogar, zu lange damit gezögert zu haben. Jetzt aber muß ich offen und klar sprechen: Die Herzogin von Altringham darf dieses Haus nicht verlassen, so lange der Fall nicht völlig geklärt ist.«
Sogar der Vetter der Herzogin war über dieses offen ausgesprochene Verlangen des Arztes erschrocken.
»Aber warum?« fragte der Herzog erstaunt. »Sie wollen sie doch nicht etwa des Mordes verdächtigen?«
Tarleton schüttelte den Kopf.
»Ich muß offen gestehen, daß ich im Augenblick nicht weiß, wen und was ich in Verdacht habe. Aber darüber bin ich mir klar, daß Ihre Gnaden auf die Sache mehr Licht werfen kann, als sie es bisher getan hat. Sie muß unbedingt von den heimlichen Besuchen Montacutes wissen und vielleicht auch sagen können, wie ihn der Tod erreicht hat. Ich muß Ihnen weiterhin mitteilen, daß ich meine Vermutungen mit dem Minister besprochen habe, und daß ich mich seither moralisch verpflichtet fühle, Ihre Gnaden nicht aus meinen Augen zu lassen.«
»Sir Charles ist in dieser Sache nicht vorurteilsfrei,« widersprach der unglückliche Herzog. »Er ist ein Vetter meiner ersten Frau und hat natürlich keine großen Sympathien für ihre Nachfolgerin.«
Wieder schüttelte der Sachverständige den Kopf.
»Sir Charles folgte mit seiner Meinung nur meinen Vermutungen, und diese Gedankengänge mußten jedem unbefangenen Beobachter von Anfang an als wahrscheinlich erscheinen. Wir müssen uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß Montacute ein Verwandter der Herzogin war. Sie traf ihn hier an als willkommenen Besucher und verbot ihm sofort das Haus. Warum? Weil er ihrer Stieftochter den Hof machte, und das – so lautet die Meinung Lady Rosas – rief ihre Eifersucht hervor.«
»Meine Töchter haben ihre Stiefmutter von Anfang an gehaßt,« warf der Herzog ein. »Daraus resultierte das Vorurteil, mit dem sie alle deren Handlungen betrachteten.«
»Warum Vorurteil, Herzog? Lady Agatha ist eine tiefreligiös veranlagte junge Dame, die wohl auch eine Stiefmutter nicht hassen würde. Auch Lady Rosa ist keine Natur, die grundlos haßt und verabscheut. Wenn nun alle Ihre Familienmitglieder dieselbe Meinung über Ihre Gattin hegten, glauben Sie nicht, daß sie Gründe dazu haben könnten?«
Der Herzog ließ, ohne zu antworten, seinen Kopf auf die Brust sinken.
»Hauptmann Theobald ist ja selbst ein Verwandter von ihr und noch dazu Gast im Hause auf ihre Einladung hin, und er hätte dadurch die am meisten begründete Ursache, ihr zur Seite zu stehen. Tatsächlich hat er das auch getan, trotz der vorliegenden Verdachtsgründe, bis er sich in die Zwangslage versetzt sah, die Schuld entweder auf seine Braut oder auf seine Verwandte, die Herzogin, zu legen.«
Der Herzog blickte auf.
»Aber die Prégut? Sie hat doch gestanden?«
»Ich habe von Anfang an kein Wort davon geglaubt, dieses Weib trug ihren Charakter in den Gesichtszügen zur Schau. Mir erschien sie von Anfang an als eine vollständig skrupellose Abenteuerin, die keine Dame in ihre Dienste nehmen würde, außer daß sie einer Vertrauten für alle Lagen bedurfte.«
»Sie befand sich bereits im Dienst meiner Frau, ehe wir uns heirateten. Sie wurden während ihrer Theaterzeit miteinander bekannt.«
»Es ist möglich. Aber ich kann mir nicht helfen, Herzog, Sie haben doch sicherlich oft gefühlt, daß Ihre Frau eine etwas anständigere Zofe hätte engagieren können. Haben Sie Ihrer Gemahlin denn niemals angedeutet, daß Sie sich eine bessere Gesellschafterin für sie wünschten?«
Die Miene des Herzogs zeigte, daß der Arzt mit seiner Frage den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Bis zu einem gewissen Punkt erscheint mir die ganze Sache ziemlich klar. Meiner Meinung nach war Montacute der Liebhaber Ihrer Gattin, ehe Sie auf dem Schauplatz erschienen. Dann gab sie der Versuchung nach, eine große Dame zu werden. Als sie jedoch merkte, daß ihr früherer Galan nunmehr als Bewerber für die Hand ihrer Stieftochter auftrat, da erschien ihr die Lage doch wohl etwas zu brenzlich. Ganz abgesehen davon, daß sie eifersüchtig war, führte wohl auch die Erwägung, daß Lady Rosa Verdacht schöpfen könnte, wenn diese sie täglich zusammen sähe, zu dem Hausverbot. Nur um ihrer eigenen Sicherheit willen mußte die Herzogin dem Verehrer Ihrer Tochter das Haus verbieten. Als dies geschehen war, setzte sie entweder auf eigenen Wunsch oder vielleicht auch auf den Montacutes, ihre früheren Beziehungen wieder fort. Wahrscheinlich auf die Anregung ihrer Herrin borgte die Prégut dem Schauspieler ihren Hausschlüssel. Wir wollen für den Augenblick annehmen, daß keine der beiden Frauen eine Ahnung von dem Verbrechen hatte. Aber schon meine Nachforschungen nach dem Eigentümer des gefundenen Schlüssels hatten die Herzogin vor irgendeiner lauernden Gefahr gewarnt, und sie getraute sich auch nicht, am ersten Tag beim Lunch mir gegenüber zu treten. Als sie am nächsten Morgen erfuhr, daß Montacute verschwunden wäre, legte sich die Herzogin sofort ins Bett. Als ich erschien und darauf bestand, die Herzogin zu befragen, verabredeten die beiden Frauen, daß die Zofe gegen eine gewisse Entschädigung alle Schuld auf sich nehmen sollte.«
Weder der Gatte noch der Vetter der Herzogin widersprachen dieser Logik. Nur Hauptmann Theobald warf die Frage hin:
»Wie erklären Sie sich denn die Ermordung der Prégut?«
»Dahin werde ich gleich kommen. Als ich der Herzogin die Mitteilung machte, daß ihr Verehrer ermordet worden wäre, war ihr erstes Gefühl das der Erleichterung. Die Gefahr war damit aus dem Wege geräumt. Sie müssen immer die eine ebenfalls mögliche Auffassung im Auge behalten, daß Montacute das Haus gegen den Willen Ihrer Gnaden betreten hätte.«
»Oh!« seufzte der unglückliche Herzog.
»Auch die Ermordung der Zofe räumte für die Herzogin eine Gefahr aus dem Wege. Damit war ja auch die zweite Person, die etwas von ihr wußte, erledigt. Bisher durfte sie sich wohl den Gefühlen der Erleichterung hingeben; nun aber kommt für uns die ernsthafte Frage: Aus welchen Gründen will die Herzogin so plötzlich das Haus verlassen und sogar aus dem Lande flüchten?«
Beide Zuhörer betrachteten den Sprecher mit zaghafter Erwartung.
»Die Erklärung, ja beinahe die einzige Erklärung dafür würde sein, daß sie für beide Morde verantwortlich ist. Damit meine ich nicht etwa, daß sie selbst die Tat ausgeführt hätte. Nein! Wohl aber die Tat veranlaßt hat.«
Die beiden natürlichen Verteidiger der Herzogin – wenn man die Herren als solche bezeichnen konnte – tauschten mißtrauische Blicke aus, als ob sie sich fragen wollten, wer denn nun mehr von dem allen gewußt hätte.
Ohne sich augenscheinlich durch diese Blicke stören zu lassen, fuhr Tarleton fort:
»Aber auch eine andere Erklärung wäre möglich, die ich zwar bisher noch nicht erwähnt habe, die mir aber trotzdem schon verschiedentlich durch den Sinn gegangen ist. Diese Verbrechen sind vielleicht gar nicht von einem Freund, sondern von einem Feind der Herzogin begangen worden.«
Ein Schrei des Schreckens entfuhr den Lippen der beiden Zuhörer.
»Jawohl! Ich muß die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß hier im Hause jemand die Ereignisse beobachtet und beschlossen hat, diesen ein für allemal ein Ende zu bereiten. Wir müssen uns in die Lage eines solchen Menschen versetzen, der sich in einen Gedanken hineingefressen hat, und sich nun das Für und Wider einer derartigen Tat vor Augen führt.«
Der Arzt wandte sich dem Hauptmann zu.
»Ihre Ankunft – und damit gleichzeitig die Möglichkeit, durch die Pfeile die Schuldigen in den Tod zu senden – kam gerade gelegen, um die Wagschale zugunsten der Ausführung der Tat zu senken, und Ihr schwarzer Diener war außerordentlich gut dazu geeignet, als Sündenbock zu dienen.«
Den jungen Offizier durchschauerte es. Er wagte kein Wort zu sagen. Die Miene des Herzogs hatte anfänglich höchste Überraschung gezeigt, aber nunmehr düsterster Resignation Platz gemacht.
Beiden Herren ersparte der Arzt eine Erklärung.
»Ich habe den Eindruck gewonnen, daß auch die Herzogin zu demselben Schluß gekommen ist wie ich und daß dies die wirkliche Ursache ihrer Flucht ist. Erst sah sie ihren Freund Montacute ermordet, dann folgte ihre Vertraute, und sie flüchtet deshalb, um dem Täter die Gelegenheit zu rauben, sie als das nächste Opfer ins Auge zu fassen.«
Ein Schrei des Hauptmanns und der schärfste Widerspruch vom Herzog folgten dieser überraschenden Erklärung. Tiefes Schweigen herrschte für einige Augenblicke, und die drei Männer sahen sich erschüttert an. Dr. Tarleton zog seinen Talisman aus der Tasche und schwang die kostbare Uhr an dem kurzen, schwarzen Band langsam hin und her. Er erweckte den Eindruck eines Mannes, der eine Zündschnur angebrannt hatte und nun die Explosion erwartet.
Aber die Explosion erfolgte nicht. Keiner seiner beiden Zuhörer war offensichtlich in der Stimmung, irgendeine Bemerkung über die furchtbare Situation, die sich ihnen darbot, zu machen. Der Hauptmann wollte wahrscheinlich nichts sagen, um sich nicht dem Vorwurf unbefugter Einmischung auszusetzen, und der Herzog hatte wohl zu viel Angst vor dem Arzt, um das auszusprechen, was sich in seinem Innern abspielte. Erst als der Arzt aufstand, um sich zu entfernen, fand der Herzog den Mut zu reden.
»Was soll ich denn nur anfangen, Doktor? Wenn Sie wirklich glauben, daß die Herzogin in Gefahr schwebt, wie kann ich sie dann abhalten, fortzureisen? Ich kann ihr nicht gegenübertreten, wenn ich all dies über ihrem Haupt weiß.«
Tarleton zeigte durch sein Nicken an, daß er sich dieser Frage des Herzogs freute.
»Es ist nicht notwendig, Herzog, daß Sie gegenwärtig etwas unternehmen. Ich will gern mit Ihrer Erlaubnis die Herzogin aufsuchen und ihr verständlich machen, daß sie ihre Abreise noch für kurze Zeit verschieben muß. Ich hoffe, Sie werden mir vertrauen, daß Ihre Gemahlin dadurch keinen Schaden erleiden wird.«
»Wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich muß mir all das noch durch den Kopf gehen lassen,« murmelte der unglückliche Gatte. »Bitte, geh noch nicht, Theobald!« bat er, als der Offizier dem Arzt aus dem Zimmer folgen wollte.
Der Arzt überließ es ihnen, sich so gut wie möglich gegenseitig zu trösten und ging, um seine Mission zu erfüllen. Er betrat das Zimmer des Verwalters, um seine Karte zur Herzogin senden zu lassen.
»Mr. Burrowes, würden Sie so gut sein …« begann er, als er sich überrascht unterbrach, veranlaßt durch das Schauspiel, das sich ihm bot.
Der solide Mr. Burrowes schien alle seine Vorzüge auf einmal vergessen zu haben. Der vertraute Minister des herzoglichen Hauses saß, den Kopf auf seinen Schreibtisch, der mit Papieren und Dokumenten wie übersät schien, gelehnt, und seufzte herzzerreißend.
»Mein lieber Freund, was ist denn los?« fragte ihn der Arzt gütigen Tones.
Burrowes seufzte erneut.
»Ich kann es Ihnen jetzt nicht sagen, Herr Doktor; wenigstens nicht hier. Ich wollte heute abend zu Ihnen ins Haus kommen. Würden Sie es mir gestatten?«
»Aber gern!« war die freundliche Erwiderung. »Sie können kommen, wann Sie wollen. Ich will nur noch ein paar Worte mit der Herzogin sprechen, dann komme ich sofort wieder.«
Der unglückliche Verwalter knirschte mit den Zähnen.
»Verflucht soll das Weib sein!« rief er aus. »Ich verfluche den Tag, an dem sie das Haus betreten hat. All diese Gottlosigkeit und Schande kommen von ihr.«
»Na, na!« beruhigte ihn der Spezialist. »Sie können später noch sagen, was Sie wollen. Ich werde meine Anmeldung durch einen Diener hinaufsenden, da Sie so erregt sind.«
Er begab sich auf die Diele und beauftragte dort einen Lakaien, Ihre Gnaden von seinem Wunsch, sie zu sprechen, zu unterrichten.
Diesmal versuchte die Herzogin nicht, sich verleugnen zu lassen, und der Arzt betrat kurz darauf das Zimmer Ihrer Gnaden. Die offene Schlafzimmertür gestattete einen Blick auf die zahlreichen geöffneten Koffer und die durcheinanderliegenden Wäschestücke.
Ihr Benehmen war von demjenigen des ersten Empfangs grundverschieden. Die Tarnkappe, die sie, unter dem Deckmantel der Würde, über sich gezogen hatte, war verschwunden, und sie gab sich den Anschein, als wären sie und der Arzt altvertraute Freunde. Sie schob ihm einen Lehnstuhl hin und schmiegte sich selbst wie ein Kätzchen auf eine Chaiselongue nahebei.
»Es ist wirklich zu nett von Ihnen, Doktor,« schmeichelte sie, während sie die Hände über den Knien faltete. »Sie kommen mir vor wie ein Schutzengel, wahrhaftig!«
Der Schutzengel sah jedoch in diesem Augenblick eher einem Engel der Rache ähnlich, als er erwiderte:
»Es gibt nichts, wofür Sie zu danken hätten, Herzogin. Ich erfülle Ihnen und jedem andern gegenüber nur meine Pflicht. Der Hauptzweck meines Besuches ist, Ihnen mitzuteilen, daß ich eine Totenschau über die unglückliche Prégut wahrscheinlich nicht vermeiden kann.«
Sie schauerte. Aber sogar in diesem Augenblick vergaß sie nicht, diesen Schauer möglichst graziös zu gestalten.
»Damit muß ich mich eben abfinden, wenn es nicht anders geht,« sagte sie. »Gott sei Dank! Ich werde wenigstens nicht hier sein.«
Tarleton betrachtete sie mit geheucheltem Erstaunen.
»Nicht hier, Madame?«
»Nein. Haben Sie denn nicht gehört, daß ich dem Herzog mitteilte, ich würde heute abend nach Paris fahren?«
Tarleton betrachtete sie mit wachsendem Erstaunen.
»Gewiß, das habe ich gehört. Deshalb komme ich ja zu Ihnen, um Ihnen die Mitteilung wegen der Totenschau zu machen. Ich habe natürlich vermutet, daß das Ihre Pläne ändern würde.«
Nun öffneten sich der Herzogin Augen in ungeheucheltem Erstaunen.
»Warum denn nur? Was sollte sich denn deshalb ändern?« fragte sie mit einem nervösen Unterton.
»Sie müssen begreifen, daß eine Totenschau, so rücksichtsvoll sie auch der Minister handhaben läßt, immer eine gewisse Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt. Jeder wird nunmehr wissen, daß Ihre Zofe von einem gewaltsamen Tod ereilt wurde. Glauben Sie nicht selbst, daß Ihre Bekannten von Ihnen ein gewisses Interesse erwarten?«
Die Herzogin warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
»Bitte, sprechen Sie offen, Doktor. Beabsichtigen Sie, mich als Zeugin zu laden?«
»Das vermag nicht ich, sondern nur der Totenbeschauer zu entscheiden. Wahrscheinlich werden aber die Geschworenen auf Ihrer Ladung bestehen, wenn es auch nur darum ist, um Sie zu befragen, ob Sie etwas über eventuelle Motive aussagen können. Sie werden zum Beispiel befragt werden, ob Sie irgendeinen anderen Grund wüßten, warum sie Selbstmord begangen haben könnte.«
»Glauben Sie, daß die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes besteht?«
»Wenn es nicht infolge des Verschwindens Falais zu einem andern Verdikt kommt, so würde ich ein Urteil wegen Selbstmord erwarten.«
Die Herzogin sprang auf.
»Verschwinden? Was soll das heißen?«
»Der Neger ist geflohen. Ich glaube deshalb, daß die Geschworenen dies als Schuldbeweis auffassen und ein Verdikt gegen ihn wegen Mordes herausbringen werden.«
Die Herzogin ballte ihre Hände, daß die Knöchel weiß wurden.
»Bitte, Doktor, sagen Sie mir offen, ob Sie glauben, daß Falai Montacute wie auch die Prégut ermordet hat?« fragte sie in heiserem Flüsterton.
»Zweifellos besteht die Möglichkeit,« erwiderte der Sachverständige in geheuchelt zweifelndem Ton.
»Wenn ich das glauben könnte! – wenn ich sicher wäre!! – Glauben Sie wirklich, daß er fort ist?«
»Ich habe Hauptmann Theobalds Wort dafür angenommen; warum sollte ich daran zweifeln?«
Ihr innerer Kampf war furchtbar. Tarleton fand es deshalb an der Zeit, der Herzogin wieder einige Worte zu sagen:
»Ich möchte damit natürlich nicht andeuten, als setzen Sie sich selbst mit Ihrer Abreise einem gleichen Verdacht aus wie Falai, aber unstreitig würde es wie Öl in brennendem Feuer wirken, wenn man davon erführe. Ich glaube, es ist besser, Sie warten, bis die Schau vorüber ist, damit nicht noch mehr Neugier und Klatsch entfesselt wird.«
»Um Gottes willen! Sie haben doch nicht etwa mich im Verdacht, an den Morden beteiligt zu sein?« Sie beugte sich vor und zischte durch die Zähne: »Ich habe doch selbst Angst, ermordet zu werden, wenn ich auch nur noch eine Nacht hier in diesem verfluchten Haus verbleibe.«
Der Arzt atmete tief auf. Also hatte er doch recht gehabt. Er antwortete in beruhigendem Ton:
»Sie dürfen nicht auf diese Art zusammenbrechen, Madame, denn Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie können doch Ihre Tür zusperren.«
»Mein Zimmer hat drei Türen,« antwortete die Herzogin mit abwesendem Blick.
»Schließen Sie alle ab,« war die sofortige Erwiderung, »und lassen Sie eines der Mädchen bei Ihnen schlafen, wenn Sie sich trotzdem noch fürchten. Ich glaube, ich kann mich für Ihre Sicherheit verbürgen.«
»Wenn Sie im Haus bleiben würden, wäre ich ruhiger,« flehte das zitternde Weib.
»Gut, Madame. Geben Sie mir Ihr Versprechen, hierzubleiben, und ich werde Sie unter meine Obhut nehmen. Aber eine Bedingung stelle ich: Sie dürfen niemand etwas davon erzählen.«
Die Herzogin gab das verlangte Versprechen, und die Unterredung nahm damit ein Ende, eine Unterredung, in der man vieles gesagt hatte, was nicht in Worte gekleidet worden war.