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Dr. Tarleton war seit langem Mitglied des anthropologischen Klubs, der, ursprünglich als Treffpunkt der Wissenschaftler gegründet, nach und nach auch Angehörige anderer Kreise an sich gezogen hatte. Es gab in London keinen Klub, in dem man soviel erfuhr wie in diesem, und gerade dieser Vorteil war es, der den Sachverständigen des Innenministeriums hintrieb. Seine Privatpraxis versetzte ihn oft in die Notwendigkeit, soviel wie nur möglich über die Führenden der Menschheit zu erfahren, und in diesem Klub der Anthropologen verkehrte ein Mann, der immer bis zur Hutkrempe voller Skandalgeschichten steckte, und der sich freigebig dem ersten Interessenten, der daherkam, zur Verfügung stellte und alle seine Neuigkeiten verzapfte.
Jimmy Borsall war der Enkel eines Marquis und hatte so genügende Verbindungen zur Aristokratie, um zu wissen, was in ihr vor sich ging. Es war ihm ein Vergnügen, in weniger vornehmen Kreisen seinen Neid, den er seiner früheren Kaste entgegenbrachte, dadurch zu befriedigen, daß er allen, mit denen er zu tun gehabt hatte, den Charakter absprach, das heißt also, sie verleumdete. Es war dem Arzt stets peinlich, das Plaudern dieser Klatschbasen anzuhören, aber ein Vertreter des Gesetzes mußte wohl oder übel auch mit Leuten verkehren, an deren Umgang er nicht gerade Vergnügen empfindet. Demzufolge begab er sich an diesem Abend, nachdem er Trafford House verlassen hatte, mit der Absicht in den Klub, Jimmy Borsall dort zu treffen, und er hatte auch das Glück, den Gesuchten im Rauchzimmer zu entdecken.
Das Angebot eines großen Whisky mit Soda hatte bald die Zunge des Schwätzers gelöst, und Tarleton brauchte nur den Namen des Herzogs von Altringham zu erwähnen, um seinen Berichterstatter wie einen Bluthund auf die gewiesene Fährte zu hetzen.
»Sagten Sie nicht Altringham? Der alte Sünder! Der größte Schuft in ganz England! Hatte sich mit der Tochter des alten Townleigh – einer bildschönen Person – verheiratet und sie gemein behandelt! Sie starb an gebrochenem Herzen – sagt man – trotzdem möchte ich darauf schwören, daß sie ihr Ende ein bißchen mittels Kokain beschleunigt hat! Diese Leidenschaft liegt in der Familie! Der junge Tom Townleigh ist Veronalschlucker, wie sein Diener dem meinen erzählt hat!«
Der Sachverständige des Ministeriums bemühte sich, die Unterhaltung wieder auf den Herzog von Altringham zurück zu leiten.
»Ja, ja!« fuhr der Skandalhausierer fort. »Zwei Töchter sind da, eine davon ist verrückt, und die andere kompromittiert sich mit einem Schauspieler – ich weiß nicht gleich, wie er heißt! Die Stiefmutter, klug wie sie ist, hat die Sache unterdrückt und gleich die Gelegenheit benutzt, eine Verlobung mit einem Verwandten von ihr zustande zu bringen – einem Mann, der nicht zur Gesellschaft gehört, einem Westküstler von Afrika. – Sie kennen doch die Sorte, nicht wahr? Wahrscheinlich säuft er!«
Diese Mischung von Wahrheit und Bosheit über die Bewohner von Trafford House ließ den Zuhörer zusammenzucken. Nur durch große Beherrschung konnte er sich zurückhalten, Lady Rosa gegen diesen Mann zu verteidigen; er mußte sich jedoch hüten, diesem Ehrabschneider vorzeitig seine Gedanken zu verraten, um mehr zu erfahren.
»Wissen Sie etwas über die jetzige Herzogin?« warf er in nonchalantem Ton hin.
Jimmy Borsalls Mund verzog sich verächtlich.
»Ich weiß, soviel überhaupt über sie bekannt ist,« gab er selbstbewußt zu. »Das Mädchen aus der Fremde! Nannte sich Alica Hemans, wahrscheinlich aber hieß sie Marie Lehmann, versuchte im Varieté vorwärts zu kommen, brachte keinen anständigen Ton heraus, hatte keine Ahnung von Tanzkunst, überall wurde sie von der Bühne heruntergezischt, und mußte demzufolge die niedrigsten Filmrollen annehmen. Selbstverständlich ein hübsches Gesicht; ein bißchen unfeine Schönheit, aber wahrscheinlich für den Film extra zurecht gemacht.«
Dem Doktor fiel ein, daß er ja die Genauigkeit seines Berichterstatters durch eine Frage feststellen konnte.
»Wie hat sie denn den Herzog kennengelernt?«
Jimmy Borsall lachte anzüglich.
»Ha ha! Es ist ein richtiger Ulk, wenn man Altringham die Sache erzählen hört; er gibt an, daß er sich in das Gesicht auf der Leinwand verliebt hätte. Ein richtiger Roman der Courths-Mahler, nicht wahr? In Wahrheit aber hat sie ihn erpreßt, bis er sie geheiratet hat. Hat ihn gelockt, bis er hineingefallen war, und sie dann heiraten mußte, um die Sache aus der Welt zu schaffen.«
Der Arzt wußte nicht, wieviel er von dieser Schilderung glauben durfte, aber die Notwendigkeit, Näheres über die Herzogin zu erfahren, war äußerst dringend. Klatsch allein konnte ihm nicht helfen.
Jimmy Borsall trank seinen Whisky aus und stand auf.
»Ich muß jetzt gehen, Doktor! Ich gehe ins Theater!«
Ein Gedanke durchschoß den Arzt.
»Gehen Sie zufällig ins Charing Cross?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich wollte mit einigen Freunden gehen. Warum fragen Sie?«
»Weil ich Ursache habe zu vermuten, daß einer der Schauspieler heute abend dort fehlen wird.«
Jimmy Borsall wurde ersichtlich neugierig.
»Derjenige, der unter dem Namen Montacute bekannt ist.«
»Herrjeh! Das ist ja der Kerl, den ich vorhin gemeint hatte! Wegen der Sache mit Lady Rosa, wissen Sie! Was ist denn passiert? Ist er mit ihr ausgerissen?«
Tarleton konnte seinen Zorn nicht länger unterdrücken.
»Unsinn, Sie täuschen sich vollkommen in Lady Rosa! Niemals hat etwas zwischen den beiden außer einer oberflächlichen Bekanntschaft bestanden. Der Herzog hatte die Meinung gefaßt, daß sich Montacute Hoffnungen auf Lady Rosas Hand gemacht hatte und ihm natürlich sofort das Haus verboten. Sie werden entschuldigen, Borsall, aber Sie sollten vorsichtiger sein, ehe Sie über eine junge Dame Klatschereien verbreiten.«
»Verzeihen Sie, mein Lieber! Ich wußte nicht, daß Sie mit ihr befreundet sind. Aber was ist denn mit Montacute los?«
»Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich behaupte, daß er tot ist.«
»Tot?! Teddy Montacute? Aber er hat doch gestern abend wie gewöhnlich gespielt!«
»Ich zweifle nicht daran!«
»Was ist ihm denn zugestoßen? Etwa ein Unglück?«
Der Sachverständige schüttelte den Kopf.
»Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, aber Sie können sich darauf verlassen, daß das, was ich Ihnen gesagt habe, stimmt.«
Jimmy Borsall blickte auf die Uhr. Er hatte unbedingt noch sieben Gastgeberinnen mit der Neuigkeit zu überraschen und mußte auch noch die Skandalvermutungen einflechten, an die man bei ihm gewöhnt war, und er hatte dazu noch fünfundvierzig Minuten Zeit. Er eilte in die Diele hinaus und ließ sich einen Taxameter kommen.
Der Arzt aber zog langsam seine Uhr heraus und zwickte das schwarze Band mit Nachdruck, als hätte er die Zunge der Klatschbase, die ihn eben verlassen hatte, unter den Fingern. Er stand noch in Gedanken versunken, als ein anderer Klubbekannter herantrat, der die Mode des Arztes kannte.
»Worüber zerbrechen Sie sich denn den Kopf, Tarleton?«
»O, ich wunderte mich eben, ob es mir nicht gelingen würde, den Mädchennamen der jetzigen Herzogin von Altringham zu erfahren.«
»Aber, um alles in der Welt, warum schauen Sie denn nicht in den Adelskalender?« rief der andere verwundert aus.
Tarleton ließ beinahe seine Repetieruhr fallen.
»Was, zum Donnerwetter, ist denn mit mir los? Mein Verstand scheint heute abend auf der Wanderschaft zu sein. Besten Dank!«
Er eilte in das Lesezimmer und suchte den betreffenden Abschnitt im Kalender heraus. Dann schloß er das Buch mit solch einem vernehmlichen Knall, daß jeder der im Zimmer Anwesenden verwundert zu ihm hinüberblickte.
Der Mädchenname der zweiten Herzogin war im Adelskalender mit Amelia Dunlop angegeben.
Ohne sich um die verwunderten Blicke der anderen Leser zu kümmern, riß der Arzt das Stückchen Etikett, das er heute morgen aus dem Rock des Ermordeten herausgetrennt hatte, aus seiner Brieftasche. Kein Zweifel war mehr möglich! »E. Dunlop« lautete der auf dem Etikett stehende Name. Wenn also der Mädchenname der Herzogin »Dunlop« lautete, dann war es ebenso sicher, daß zwischen ihr und dem Ermordeten eine Verbindung bestand, die Tarleton noch aufzuklären hatte. Es mochte sein, daß diese Verbindung eine harmlose war; sie konnten Geschwister gewesen sein. Aber zeigte nicht gerade der Hausverweis, den die Herzogin dem Schauspieler hatte erteilen lassen, daß da etwas existierte, was die Herzogin nicht wieder aufgefrischt haben wollte?
Eine ganze Lawine von Fragen ballte sich im Gehirn des Arztes zusammen, die alle geklärt sein mußten, ehe er Trafford House wieder betrat. Er nahm sein Diner im Klub ein und leistete sich einen halben Liter Portwein dazu. Seine Gedanken wurden froher, während er ihn langsam schlürfte. Er überblickte den Fall, wie er sich ihm jetzt darstellte. Was ihm am meisten Vergnügen bereitete, war die Hoffnung, daß es nunmehr leicht sein würde, Lady Rosa von jeder Mitwisserschaft an dem Verbrechen freizusprechen. Die ganze Zeit hindurch hatten sich seine Gedanken mit der kleinen Fee – wie er sie im stillen nannte – beschäftigt, er hatte sich den plausiblen Indizienbeweisen instinktiv widersetzt, und jetzt konnte er endlich ihre Unschuld auch durch seine beweisende Denktätigkeit feststellen, und nicht bloß wie bisher als Kriminalist lächerlichen Gefühlsanwandlungen Raum geben. Niemand konnte nunmehr behaupten, daß Lady Rosa die einzige in Trafford House gewesen wäre, die verstohlene Besuche vom Ermordeten empfangen hatte. Von der Zofe hatte die Dame, die den Namen des Ermordeten getragen hatte, den Schlüssel erhalten, der dem Toten Zutritt ins Palais gewährt hatte. Nunmehr konnte man unbesorgt den Schluß ziehen, daß die Besuche der Herzogin gegolten hatten.
Soweit sah der Sachverständige seinen Weg klar vor sich, aber die wichtigste Frage blieb immer noch ungelöst. Tarleton hatte keinerlei Möglichkeit, festzustellen, ob die Besuche Montacutes bei der Herzogin mit oder ohne deren Zustimmung erfolgten. Niemand konnte daher angeben, ob die Ermordung des Schauspielers auf ihre Initiative oder die ihres Gatten erfolgt war. Nicht einmal das konnte der Arzt beantworten, ob überhaupt der Herzog den bürgerlichen Namen des Schauspielers kannte oder nicht, oder ob er über irgendwelche vergangenen Beziehungen zwischen den beiden unterrichtet war. Die auffällige Nervosität des Herzogs, die nur erzwungene, flaue Verteidigung seiner Tochter Lady Rosa, ließen sich wohl unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß er hinsichtlich des Besuchszweckes Montacutes in seinem Hause Vermutungen hatte; aber trotz alledem hatte Dr. Tarleton das innere Gefühl, als wären es wirklich nur Vermutungen und nicht Gewißheiten, die der Herzog in dieser Beziehung hegte. Der Sachverständige war eher der Meinung, daß er bei dem verschwiegenen, unantastbar respektablen Verwalter des herzoglichen Hauses die Lösung suchen mußte, und er verzweifelte beinahe daran, diesen so sorgfältig behüteten Lippen das Geheimnis zu entreißen.
In der Zwischenzeit jedoch hatte er eine Waffe in der Hand, die er der Herzogin gegenüber zur rechten Zeit gebrauchen konnte. Als er am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug, war die erste Notiz, auf die sein Auge fiel, ein Artikel mit der Überschrift: »Vermißter Schauspieler.« Zuerst beschrieb der Artikel das Aufsehen, das das Verschwinden des Schauspielers im Theater hervorgerufen hatte; dann folgte die Schilderung, wie man ihn in seiner Wohnung und dann bei allen irgendwie in Betracht kommenden Freunden gesucht hatte, und zum Schluß wurde darauf hingewiesen, daß man sich wegen einer Gefahr, in der der Liebling des Publikums möglicherweise schwebte, große Sorge machen müßte.
Gerade das war es, was sich Tarleton wünschte, um einen genügenden Grund zu einem Besuche bei der Herzogin zu besitzen. Er ließ sein Auto vorfahren und begab sich nach Beendigung seines Frühstücks sofort nach Trafford House.
Aber es war ihm nicht vergönnt, die Herrin des Hauses so bald sehen zu können. Der Lakai, der ihm die Tür öffnete, war achtungsvoller in seinem Benehmen als je zuvor, jedoch vermied er es peinlich, auf des Arztes Wunsch einzugehen, ihn bei der Herzogin zu melden.
»Wenn Sie die Güte haben würden, einen Augenblick in die Bibliothek zu kommen, so will ich sofort Mr. Burrowes benachrichtigen; er bittet um eine dringende Unterredung.«
Der Sachverständige runzelte mißtrauisch die Stirn, konnte aber die Erfüllung dieser Bitte nicht gut verweigern. Er hatte kaum die Tür der Bibliothek hinter sich geschlossen, als auch schon der Verwalter eintrat. Mit einem verstohlenen Blick nach rückwärts zog Burrowes die Tür sorgfältig zu und wandte sich an Tarleton, ohne ihm jedoch offen ins Auge zu blicken.
»Es ist etwas passiert, Herr Doktor, was ich Ihnen sofort mitteilen mußte. Die Leiche, die wir gestern gefunden haben, ist spurlos verschwunden.«
»Verschwunden? Unsinn! Was wollen Sie damit sagen?« Der Arzt blickte den Verwalter mit Verachtung an.
Die Antwort des Verwalters war in grollendem Tone gegeben:
»Genau das, was ich ausgesprochen habe; ich ließ die Leiche dort, wo sie gestern war, und schlief selbst in einem anderen Zimmer. Als ich diesen Morgen mein Schlafzimmer betrat, um einige notwendige Sachen zu holen, war sie fort. Ich habe überall, so gut ich es wagen konnte, danach gesucht und bin nunmehr überzeugt, daß sich der Leichnam nicht mehr im Hause befindet.«
Tarleton zweifelte nicht mehr an der Tatsache der letzten Bemerkung, da er sich nach den Ereignissen der vergangenen Stunden dieser Wahrheit nicht länger zu verschließen vermochte. Es war ihm klar, daß sämtliche Anstrengungen des Herzogs von Altringham darauf hinausgelaufen waren, unter allen Umständen eine offizielle Totenschau zu vermeiden. Mit diesem Ziel im Auge hatte er die unmöglichsten Theorien vorgebracht, hatte gestritten, gefleht und zuletzt sogar versucht, ihn zu bestechen. Jetzt endlich schien es, als sollte der Wunsch des Herzogs in Erfüllung gehen, der Palast war frei von dem furchtbaren Verhängnis.
So wütend der Arzt auch über den Streich war, den man ihm gespielt hatte, so mußte er doch zugeben, daß der Herzog ihn in dieser Angelegenheit geschlagen hatte. Aber er hatte nicht die Absicht, die Dinge damit auf sich beruhen zu lassen. Er warf dem etwas unruhigen Burrowes einen strengen Blick zu.
»Leichen haben meist nicht die Angewohnheit, aus eigener Kraft zu verschwinden. Sie dürfen mir deshalb auch nicht zumuten, zu glauben, daß dies alles ohne Ihr Wissen und Willen geschehen ist. Ich muß Sie bitten, mich sofort dem Herzog zu melden.«
Der Verwalter trat verlegen von einem Fuß auf den andern.
»Seine Gnaden fühlt sich heute morgen nicht wohl, Herr Doktor, und ich glaube nicht, daß er irgend jemand empfangen wird.«
»Falls er es ablehnt, mich zu empfangen, dann wird er sich damit abfinden müssen, jemand anders, den er vielleicht noch weniger gern sehen würde, doch zu empfangen,« lautete die scharfe Antwort.
Als ob die Worte des Arztes bestätigt werden sollten, erschien in diesem Augenblick ein erschrockener Lakai in der Tür.
»Sie verzeihen, Mr. Burrowes, aber unten an der Tür steht ein Polizeibeamter, der Doktor Tarleton zu sprechen wünscht. Er ist per Rad gekommen und war, ehe er hierher kam, bei Ihnen, Herr Doktor; er möchte Sie umgehend sprechen, da es sich um etwas außerordentlich Dringendes handelt.«
Das Gesicht des Verwalters wurde merklich länger, als er sich mit einem vorwurfsvollen Blick an den Arzt wandte:
»Ein Polizist??!«
Die Augen Dr. Tarletons leuchteten triumphierend auf. Er war überzeugt, daß man ihn zu einer gewöhnlichen Untersuchung holen wollte, wie es die Behörde oft zu tun pflegte, und daß die Sache mit dem hier vorliegenden Fall nicht das Geringste zu tun hätte, doch freute er sich über die Gelegenheit, dem Manne ein wenig Angst einjagen zu können, der es gewagt hatte, ein Doppelspiel zu treiben.
»Schön, bringen Sie den Mann hierher,« befahl der Arzt dem Lakai.
»Herr Doktor?!« rief der Verwalter entsetzt aus, als der Lakai das Zimmer verlassen hatte. »Sie haben Seiner Gnaden versprochen, die Polizei nicht beizuziehen, ehe Sie nicht Sir Charles Beaumanoir gesprochen hätten.«
Der medizinische Sachverständige des Innenministeriums öffnete weit die Augen, um seine Überraschung auszudrücken. Sir Charles Beaumanoir war das nominelle Haupt des Innenministeriums; das heißt, er war der Träger der Ministerialgewalt, hatte wichtige Papiere zu unterfertigen und mußte das Ministerium im Parlament gegen Angriffe verteidigen. Wahrscheinlich hatte der Herzog seinem Verwalter mitgeteilt, daß der Arzt beabsichtigte, den Fall dem Innenminister privat zu unterbreiten, und Burrowes und der Herzog waren sicherlich der Meinung, daß damit der Minister persönlich gemeint wäre. Tarleton jedoch hatte in einem solchen Falle selbstverständlich nur an den zuständigen Unterstaatssekretär gedacht, und er lächelte im stillen, als er diese irrtümliche Ansicht der beiden Verschworenen bemerkte, denn er kannte den Minister kaum von Angesicht.
»Was sich zuletzt ereignet hat, entbindet mich von meinem dem Herzog gegebenen Versprechen,« erwiderte er förmlich. »Glauben Sie denn, daß Sie es mit einem kleinen Kinde zu tun haben, und daß ich dumm genug sein würde, anzunehmen, daß Sie die Leiche ohne Befehl Ihres Herrn entfernt haben?«
»Ich schwöre Ihnen …«
Ehe der Verwalter einen Meineid ablegen konnte, wurde die Tür von einem klug aussehenden Polizeisergeanten geöffnet. Fragend blickte er auf die beiden ihn empfangenden Herren.
»Ich bin Dr. Tarleton; ist Ihre Botschaft vertraulich?«
»Das möchte ich nicht ganz behaupten, Herr Doktor; ich würde nicht erstaunt sein, wenn die Zeitungen die Nachricht schon in den Fingern hätten. Ich komme vom Polizeiamt Chiswick. Man hat dort einen Toten gefunden und ihn vor ein paar Stunden ins Polizeigebäude gebracht. Der lokale Kriminalarzt hat ihn untersucht; da er aber über die Todesursache keine Klarheit gewinnen konnte, hat er befohlen, Sie beizuziehen und zwar so schnell wie möglich.«
Ein Verdacht tauchte in dem Arzt auf.
»Besteht denn besondere Eile aus medizinischen Gründen?« erkundigte er sich.
»Gewiß, Herr Doktor!« der Sergeant zuckte die Schultern. »Trotzdem die Leiche erst heute morgen gefunden wurde, ist der Polizeiarzt der Meinung, daß der Tod schon vor mehreren Tagen eingetreten ist. Die Verwesung hat schon begonnen. Der Lokalarzt ist ferner der Ansicht, daß als Todesursache ein stark wirkendes Gift in Frage kommt, und daß es deshalb ratsam wäre, daß Sie, Herr Doktor, sofort die Untersuchung anstellen.«
»So, so!« Der Sachverständige warf dem Verwalter einen Seitenblick zu, und dieser konnte seine Verwirrung kaum verbergen.
»Wo wurde denn der Körper gefunden?« fragte der Arzt den Sergeanten.
»Auf der Straße in der Nähe des Freibades. Der Portier einer nahe gelegenen Fabrik fand ihn vor dem Tor und benachrichtigte uns sofort. Ich bin selbst mit dem Sanitätsauto hingefahren.«
»Tatsächlich? Das klingt doch beinahe, als wäre der Mord an einer entfernten Stelle begangen und der Tote dann nach der entlegenen Fabrik gebracht worden, um die Polizei auf eine falsche Spur zu führen.«
Tarleton hielt seinen Blick auf Burrowes gerichtet, der an allen Gliedern zitterte.
»Das ist auch unsere Meinung, Herr Doktor,« stimmte der Polizeibeamte zu. »Weit und breit von der Fundstelle steht nirgends ein Haus, und außerdem habe ich Reifenspuren eines Autos am Fundort entdeckt; das Auto ist dort wieder umgekehrt. Meine Meinung geht dahin,« fügte er vertraulich hinzu, »daß die Mörder den Körper nach Chiswick gebracht haben, um ihn in den Fluß zu werfen. Da es aber nicht leicht ist, in der dortigen Gegend den Weg zum Flusse zu finden – das heißt, wenn man nicht gut bekannt ist – haben die Täter wahrscheinlich den Mut verloren und beschlossen, sich so schnell wie möglich an einer stillen Ecke ihrer Last zu entledigen.«
Die Miene des Verwalters veränderte sich mit jedem Wort, das der Beamte äußerte, als ob er dessen Schilderung in allen ihren Teilen bestätigen wollte. Der Sachverständige versetzte Burrowes einen weiteren Hieb:
»Ist es möglich, den Toten zu identifizieren? Können Sie sein Äußeres beschreiben?«
Der Sergeant schien etwas zu zaudern.
»Er ist ein jüngerer Mensch von ungefähr dreißig Jahren und trägt einen Frack. An seiner Person haben wir nichts gefunden, was ihn identifizieren könnte. Uhr und Geld hatte er in der Tasche, auch ein Brillantring wurde gefunden, so daß ein Raubmord wohl nicht in Frage käme.«
Die Verwirrung des Verwalters erreichte bei dieser Schilderung einen derartig hohen Grad, daß er sich hinsetzen mußte, um seine zitternden Glieder vor forschenden Blicken zu verbergen. Tarleton war der Meinung, daß die Unterhaltung damit beendet werden konnte.
»Gut,« sagte er zu dem Beamten. »Legen Sie, bitte, Ihr Fahrrad auf das Verdeck meines Wagens; wir können dann zusammen fahren. Und Sie« – damit wandte er sich an den vor Schreck fast besinnungslosen Burrowes – »tun gut, Seine Gnaden sofort zu benachrichtigen, daß ich nach Chiswick gefahren bin, um den Toten zu untersuchen; sobald ich damit fertig bin, fahre ich ins Ministerium.«
Da die Fahrt nach Chiswick längere Zeit in Anspruch nahm, benutzte der Doktor diese Gelegenheit, um sich den ganzen Fall noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Seine Position war recht stark geworden. Außer dem Herzog von Altringham und seinen Satelliten war er der einzige, der Auskunft darüber zu geben vermochte, wo der Ermordete, das heißt, der Tote, den man auf der Straße gefunden hatte, ums Leben gekommen war. Wenn er still schwieg, war es sicher, daß die Totenschau an Ort und Stelle stattfinden würde, und es war unwahrscheinlich, daß dabei Spuren auftauchen würden, die den Toten mit dem herzoglichen Hause in Verbindung brächten. Das Urteil des Totenschauers würde nur auf »Mordverdacht gegen Unbekannt« lauten können, und ein weiterer unaufgeklärter Mord würde damit den vielen ungesühnten Londoner Verbrechen hinzugefügt werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, war der Herzog so weit gegangen. Der Arzt war sich darüber klar, daß er selbst mit derartigen Verschleierungsversuchen der Justiz gegenüber nichts zu tun haben dürfte, außer wenn zwei ausschlaggebende Bedingungen erfüllt würden. Er mußte erstens ohne jeden weiteren Zweifel wissen, auf welche Weise der Schauspieler seinen Tod gefunden hatte, und zweitens sicher sein, daß ein zweites Drama vollkommen ausgeschlossen war.
Diese letzte Bedingung war für ihn am meisten ausschlaggebend. Sein Instinkt raunte ihm zu, daß bei diesem Verbrechen etwas mitspielte, was in gewöhnlichen Eifersuchtstragödien fehlte. Die ganze Atmosphäre hatte etwas Unheimliches an sich. – Die finsteren Worte der Lady Agatha, die Verheimlichungsversuche des Verwalters, das Doppelspiel, das der Herzog trieb, die verborgen gehaltene Verwandtschaft zwischen der Herzogin und dem Toten, all das wies darauf hin, daß der letzte Akt dieses Dramas noch nicht begonnen hätte, und daß noch weitere wichtige Entwicklungen zu erwarten wären. Dieser Eindruck hatte sich in dem Arzt festgesetzt und ließ sich nicht mehr vertreiben. Auf jeden Fall würde er der Einstellung weiterer Untersuchungen nicht eher zustimmen, als bis er Lady Rosa außer Gefahr wüßte.
Er biß seine Zähne zusammen, als er diesen Vorsatz gefaßt hatte, während der Wagen vor dem Tor des Polizeiamts in Chiswick hielt. Der Inspektor vom Dienst trat achtungsvoll vor die Tür, um den berühmten Spezialisten zu empfangen, aber Dr. Tarleton ging vorbei, ohne ihn zu beachten, so ungeduldig war er, den Toten zu sehen. Die Polizei war vorsichtig genug gewesen, den Körper nicht mehr zu berühren, nachdem der Lokalarzt seine Diagnose gestellt hatte. Die Leiche lag noch auf der Bahre, mit einem Leinentuch bedeckt.
Tarleton schlug das Laken gerade weit genug zurück, um das Gesicht des Toten sehen zu können und erkannte sofort die Züge des Mannes wieder, den er gestern im herzoglichen Palast untersucht hatte.
»Kennen Sie den Mann?« fragte er den Inspektor.
»Nein, Herr Doktor.« Diese Antwort enthielt eine gewisse Überraschung des Polizei-Offiziers, der eine ärztliche Untersuchung erwartet hatte.
»Wenn Sie sich die Frühzeitung holen lassen, werden Sie vielleicht etwas finden, was Licht in die Sache bringt.«
Der verwunderte Inspektor sandte einen seiner Leute sofort zum nächsten Kiosk. Als er zum Arzt zurückkehrte, fand er diesen bei der Untersuchung einer kleinen Wunde im Hinterkopf des Toten.
»Dies scheint die Todesursache zu sein, Inspektor. Man hat ihm von hinten einen Stich mit einem spitzen Instrument, wahrscheinlich einem Pfeil, versetzt.«
Der Beamte hörte voll Achtung zu, denn wenn er auch viel von der Fähigkeit des Sachverständigen gehört hatte, so war er doch erstaunt, wie schnell dieser in der vorliegenden Sache seine Schlüsse gezogen hatte. Es würde ihn auch nicht sehr überrascht haben, wenn er den berühmten Arzt den Namen des Mörders und den Grund des Mordes hätte erwähnen hören.
Der fortgeschickte Sergeant kehrte in diesem Augenblick mit einem Bündel Zeitungen in der Hand in das Zimmer zurück.
Tarleton blätterte sie durch, bis er die Nachricht fand, daß der beliebte Theaterschauspieler vermißt würde. Sein Bild war beigefügt.
»Das ist er,« sagte Tarleton zu dem Beamten, der durch diese Entdeckung außerordentlich überrascht war. »Mein Kollege hat sich geirrt, als er angab, der Tod wäre schon vor mehreren Tagen eingetreten. Der Mord muß verübt worden sein, nachdem der Schauspieler vorgestern abend das Theater verlassen hat.«
Mit dieser Bemerkung schloß der Sachverständige die Untersuchung ab. Er hatte sich sorgfältig bemüht, kein Wort davon verlauten zu lassen, daß er schon vor dem Fund in Chiswick von der Angelegenheit gewußt hatte. Der nächste Schritt konnte nur im Einvernehmen mit seinen offiziellen Vorgesetzten getan werden. Er vereinbarte noch mit dem Lokalarzt für denselben Nachmittag eine »Postmortem«-Untersuchung und begab sich zu seinem Wagen, um zum Innenministerium zu fahren.