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11

Als Dr. Tarleton am nächsten Morgen sein Schlafzimmer verließ, war er mit seiner bisherigen Tätigkeit in diesem Drama recht unbefriedigt, nicht allein, weil er sich zum Stillschweigen hatte verleiten lassen, sondern auch, weil er noch weit davon entfernt war, die wahren Tatsachen in diesem Falle zu beherrschen. Schließlich war es entschuldbar, einen Mord tot zu schweigen, der die Folge scharfer Herausforderung war, oder die Justiz irre zu führen, wo es sich darum handelte, einen Unschuldigen zu schützen, ohne deshalb den Schuldigen seiner gerechten Strafe zu entziehen. Wenn man aber einen unbekannten Mörder in Freiheit wußte, der jederzeit imstande war, ein neues Verbrechen zu begehen, dann lag die Sache anders.

Die Gewissensbisse des Arztes verstärkten sich, als – während er am Frühstückstische saß – ein Auto vor seinem Hause vorfuhr, und kurz darauf ein starkes Klopfen gegen die Haustür begann. Er hatte bereits eine Ahnung, was nun kommen würde, als er vom Fenster aus denselben Chauffeur und Wagen sah, die ihn vorgestern früh abgeholt hatten, um seine Tätigkeit in Trafford House zu beginnen; als er sich umwandte, sah er den Verwalter des Herzogs ins Zimmer taumeln.

Mit der allergrößten Überraschung nahm er den Unterschied in dem Benehmen des Mannes wahr, verglichen mit der diskreten Person, die er gestern im Hause des Herzogs zum letzten Male gesehen hatte. Die außergewöhnliche Achtbarkeit und Zurückhaltung, die den Verwalter bisher ausgezeichnet hatte, war vollkommen verschwunden. Er sah wie ein Mensch aus, dem man die letzten Reste von Selbstbeherrschung durch etwas Entsetzliches geraubt hatte.

»O, Herr Doktor!« stieß er hervor, »etwas Furchtbares hat sich ereignet. Ein neues Verbrechen ist begangen worden.«

Diese schreckliche Mitteilung übertraf die schlimmsten Befürchtungen des Arztes. So bald hatte er einen neuen Schlag des Verbrechers nicht erwartet. Ein furchtbares Gefühl ließ seine Stimme heiser klingen, als er nun fragte:

»Wer? Wer ist es denn diesmal?«

»Mademoiselle, Herr, die Zofe Ihrer Gnaden.«

Kein anderer Name kam so unerwartet wie dieser. Die Französin war oft genug in die Berechnung des Arztes als Anstifterin oder selbst als Mörderin einbezogen worden, nie aber hatte er sie sich jemals als Opfer vorstellen können.

Der Verwalter stolperte nach einem Stuhl.

»Bitte, entschuldigen Sie, daß ich mich hinsetzen muß, aber der Schlag war doch zu viel für mich.«

Die totenbleichen Wangen des Mannes bestätigten diese Worte. Jetzt hatte seine Schauspielerei ein Ende. Der Arzt eilte zu einem Büfett und schenkte einen starken Kognak ein, den Burrowes dankbar trank.

Während dieser versuchte, seine Fassung wiederzufinden, arbeitete das Gehirn Dr. Tarletons angestrengt. Er mußte nun alle seine Theorien revidieren. Oberflächlich betrachtet, konnte man jetzt den gesamten Fall als bedeutend einfacher ansehen, denn der Mörder des ersten Opfers mußte notgedrungen auch der des zweiten sein. Die Ermordung der Zofe war nicht so schwer zu motivieren. Sie hatte offen den Neger Falai beschuldigt, der Mörder Montacutes zu sein, und gerade an diesem Morgen sollte sie ins Haus kommen, um diese Aussage zu bestätigen. Es lag für jeden Durchschnittsmenschen klar auf der Hand, daß man es auf die einfachste Art versucht hatte, ihr den Mund zu stopfen. Tarleton hatte persönlich dem Hauptmann berichtet, wie die Sache stünde, und dieser hatte seine Entrüstung offen gezeigt. Es schien daher vollkommen erklärlich, wenn er seinen Diener gewarnt hätte, daß man den erwähnten Verdacht gegen ihn hegte, und wenn der Schwarze sich mit dem Instinkt und der Hemmungslosigkeit eines Wilden des einfachsten, ihm am nächsten liegenden Mittels bedient hätte, um die ihm drohende Gefahr abzuwenden, ohne jede Berücksichtigung der möglichen Folgen für sich. Dies ungefähr würde die nächstliegende Lösung des Dramas sein, und nur wenige würde es geben, die eine solche Erklärung nicht als stichhaltig ansehen würden; für den Totenbeschauer würde dieser Indizienbeweis unbedingt genügen, um gegen den Diener die Anklage wegen Mordes zu erheben. Alles ging offenbar so, wie es der Herzog sich nur wünschen konnte. Tarleton war nicht sicher, ob seine vorgesetzte Behörde es ihm gestatten würde, die Wahrheit ans Licht zu ziehen. Seine Zähne bissen sich zusammen, als er sich vornahm, sich ohne jede Rücksicht auf die Folgen dafür einzusetzen, daß ein unschuldiger Schwarzer nicht für die Verbrechen eines anderen büßen würde.

Sobald sein Besucher sich wieder erholt hatte, erkundigte sich der Arzt nach den Einzelheiten über den Tod der Französin.

»Wie der andere, Herr Doktor, genau wie der erste, durch einen vergifteten Pfeil. Er lag noch neben ihr, als wir sie fanden.«

»Wo wurde sie gefunden?«

»In ihrem Zimmer. Wahrscheinlich ist sie im Schlaf ermordet worden. Man konnte keinerlei Merkmale eines vorausgegangenen Kampfes feststellen; nur ein schwarzer Flecken an der Kehle bezeichnete die Stelle, an der der Pfeil sie getroffen hatte – genau solch ein Zeichen wie bei Mr. Montacute.«

Tarleton runzelte die Stirn. Es war ihm klar, daß Mr. Burrowes bereits der festen Überzeugung war, daß der Mörder Mr. Montacutes und der Mademoiselles ein und dieselbe Person gewesen sein müßten. Er versuchte den Verwalter durch eine diesbezügliche Bemerkung zum Sprechen zu bringen.

»Was Sie mir sagen, weist eher auf Selbstmord als auf Mord hin.«

Nur einen Augenblick blickte ihn der vor ihm Sitzende hoffnungsvoll an; der Burrowes von gestern hätte sicherlich diese Andeutung mit großer Freude aufgegriffen, ja, hätte vielleicht versucht, diese Erklärung als erster vorzubringen. Aber heute war es ein anderer Mensch, mit dem Tarleton zu verhandeln hatte. Der Verwalter ließ seinen Kopf hängen, als er endlich mit einem tiefen Seufzer antwortete:

»Ach, wenn ich es doch glauben könnte, Herr Doktor! Es wäre wohl sogar meine Pflicht, es zu tun, aber ich bringe es nicht fertig, nicht mehr nach dem heutigen Ereignis.«

Hatte dieser Fall den vertrauten Diener des Herzogs nun endlich zum Sprechen gebracht? Der Sachverständige blickte ihn erwartungsvoll an, denn er war von Anfang an sicher gewesen, daß dieser Mann über Sachen unterrichtet war, die er im Interesse der Familie des Herzogs von Altringham zu verschweigen für nötig gefunden hatte.

»Sie glauben also nicht, daß diese Französin als Täterin beim ersten Verbrechen in Frage kam, wie?«

Burrowes antwortete mit einem trostlosen Kopfschütteln.

»Ich wünschte, ich könnte es, Herr Doktor,« antwortete er in demselben Tone wie zuvor. »Sie können sich denken, wie schrecklich wir es empfinden, daß sich ein Mörder in unserem Hause befindet. Ich habe es ermöglicht, das erste Verbrechen vor der Dienerschaft geheimzuhalten, aber diesmal war es unmöglich gewesen. Das Zimmermädchen war, wie gewöhnlich, ins Zimmer der Zofe gegangen, um ihr das gewohnte heiße Wasser zu bringen und um sie zu wecken und fand sie tot auf ihrem Bett liegen mit dem Pfeil an ihrer Seite. Das Mädchen rannte sofort mit ihrer Neuigkeit zu den andern Dienstboten, und ich hatte alle Mühe, sie davon abzuhalten, zur Polizei zu laufen, ehe ich Sie rufen konnte. Ich mußte den Leuten eine Andeutung geben, wer Sie wären.«

Der Berater des Ministeriums sah ein, daß dies nicht zu vermeiden gewesen war, daß es aber die Untersuchung bedeutend schwieriger gestalten würde.

»Schauen Sie mal her,« sagte er plötzlich, »wäre es nicht besser, Sie sagten mir alles offen? Was wissen Sie alles über diese Angelegenheit? Ich mußte schon von Anfang an manche Details mühevoll zusammentragen, die Sie mir mit ein paar Worten hätten sagen können; z.B. daß Montacutes bürgerlicher Name Dunlop lautete, und daß er ein Verwandter der Herzogin war. Ich zweifle nicht daran, daß Sie mir noch mehr mitteilen könnten, wenn Sie wollten. Sehen Sie denn nicht ein, daß durch diese Verheimlichungen ein großer Teil Schuld, daß das zweite Verbrechen geschehen konnte, Sie selbst trifft? Wenn Sie nicht so geheimnisvoll getan hätten, wäre es vielleicht doch schon möglich gewesen, den Mörder zu verhaften, nicht wahr?«

Burrowes machte einen etwas verwirrten Eindruck, als er diesen Worten zuhörte, aber zum Schluß schüttelte er wiederum abwehrend den Kopf.

»Ich darf nichts sagen, Herr Doktor. Es ist auch nicht recht von Ihnen, mich auszufragen. Ich gehöre schon zu lange dem herzoglichen Haushalt an, um etwas verraten zu können … Nicht, daß ich wirklich etwas zu erzählen hätte, nein, wirklich nicht. Ich weiß nichts!« schloß er seine Sätze, als hätte er bereits mehr gesagt, als er beabsichtigt hatte.

Tarleton sah ein, daß aus diesem Manne gegenwärtig nichts heraus zu bekommen war. So eingeschüchtert und so unglücklich der Vertraute des Herzogs auch sein mochte – seine Pflicht zu schweigen stand ihm immer noch zu sehr vor Augen, und der Arzt konnte nicht umhin, ihm ob dieser Treue seine Achtung zu zollen.

In Eile beendete er sein Frühstück und nahm dann in des Herzogs Auto seinen Weg nach Trafford House.

Diesmal bemerkte man schon beim Eintreten, daß der Frieden des Hauses einen bösen Schlag erlitten hatte. Der Lakai, der die Tür öffnete, hatte ängstliche Augen, und der Kellermeister, der eben die Diele entlang kam, zitterte wie Espenlaub. Unwirsch wies Tarleton das Angebot, ihn dem Herzog zu melden, zurück, und ersuchte Burrowes, ihn ohne Verzug nach oben zu geleiten.

Er hatte erwartet, nach dem obersten Stockwerk geführt zu werden, aber der Verwalter hielt bereits im zweiten Stock an und wandte sich dem kleinen Zimmer zu, das der Arzt bereits einmal gesehen hatte.

»Hat denn die Prégut die vergangene Nacht hier unten geschlafen?«

Sogar diese Frage schien den Verwalter zu verwirren.

»Ja, auf Befehl Ihrer Gnaden. Ihre Gnaden war nicht ganz wohlauf, da sie sich außerordentlich über den Tod Montacutes erregt hatte.«

Das mochte wahr sein, und Tarleton machte sich selbst Vorwürfe, daß er einen Augenblick den Verdacht gehegt hatte, der Befehl der Herzogin, daß die Prégut unten schlafen sollte, wäre auf andere Gründe zurückzuführen gewesen.

Er war nicht sehr überrascht, daß er beim Betreten des Zimmers dieselben Laute hörte, wie im Aufbahrungszimmer Montacutes. Er sah, daß Lady Agatha, ihrem Charakter treu, im Gebet auf ihren Knien lag und in einem Gebetbuch las, ohne den Eintretenden einen Blick zuzuwerfen. Der Arzt sah sich gezwungen, das Gebet Lady Agathas selbst zu unterbrechen.

»Ich muß mich wegen der Unterbrechung Ihrer Andacht entschuldigen, Lady Agatha, aber ich bin verpflichtet, den Körper der Toten so schnell wie möglich zu untersuchen.«

Lady Agatha erhob sich und wandte sich ihm mit demselben leisen, spöttischen Lächeln zu, das ihm bereits früher so rätselhaft erschienen war.

»Tun Sie Ihre Pflicht, Herr, wie ich die meine bereits getan habe. Aber wiederum kommen Sie zu spät, um dieses jämmerliche Weib vor den Folgen ihrer Sünden zu bewahren.«

Tarleton ärgerte sich über die herzlosen Worte der frommen Herzogstochter. So wenig Sympathie er auch für die Tote gefühlt hatte, und so überzeugt er auch war, daß sie ihr Schicksal verdient haben mochte, in der Rede Agathas schwang ein Ton von Überhebung mit, der ihm auf die Nerven fiel.

»Die Strafe, wie Sie es nennen, hätte vielleicht abgewendet werden können, wenn ich so viel über die letzte Tat gewußt hätte, wie es bei Ihnen der Fall zu sein scheint,« sagte er streng. »Ist Ihnen denn noch nicht der Gedanke gekommen, daß ich dieses zweite Verbrechen hätte verhindern können, wenn Sie mir gesagt hätten, was Sie darüber wissen? Fühlen Sie nicht, daß Sie damit eine furchtbare Verantwortung auf sich genommen haben?«

Wenn er erwartet hatte, daß Lady Agatha durch diesen Vorwurf beeinflußt werden würde, so hatte er sich getäuscht. Sie konnte ebensowenig veranlaßt werden, etwas zu sagen, als Burrowes. Ihr Blick, den sie dem Arzt jetzt zuwarf, war kalt wie vorher:

»Ich räume weder Ihnen noch sonst jemand auf Erden das Recht ein, mir eine Verantwortung aufzuerlegen. Warum denken Sie, daß ich mich einmischen sollte, um dieses Weib ihrer Strafe zu entziehen? ›Die Rache ist mein‹, spricht der Herr.«

Der Bevollmächtigte des Ministeriums sah ein, daß es zwecklos wäre, mit dieser Fanatikerin zu streiten. Wenn nur die nichtswürdige Zofe das Opfer gewesen wäre, dann hätte er vielleicht die Worte der jungen Herzogin begreifen können, denn er wußte, was Lady Agatha nicht wissen konnte, daß der Tod die Zofe gerade im rechten Augenblick ereilt hatte, um zu verhindern, daß sie einen Unschuldigen einem schmählichen Tod ausliefern konnte, indem sie den Neger fälschlich des Mordes bezichtigte. Unerfreulicherweise war sich Tarleton gar nicht darüber sicher, ob bei dieser Toten wirklich der letzte vergiftete Pfeil verschossen worden war. Diese Frage mußte er der erbarmungslosen Richterin noch vorlegen.

»Soll das heißen, daß Sie nicht einen Finger heben würden, um ein anderes, drittes Verbrechen in diesem Hause zu verhüten?«

»Dies ist ein Haus der Sünden, und der Lohn der Sünde ist der Tod!« rief Lady Agatha ohne jedes Zögern aus. Dann drehte sie sich um, und mit einer kaum sichtbaren Verbeugung eilte sie aus dem Zimmer, den Doktor mit einem Gefühl zurücklassend, als wäre eben ein Eishauch durch das Zimmer gegangen.

Er sorgte sich, denn er bemerkte, daß Burrowes unter den ersten Warnungen Lady Agathas beinahe zusammengebrochen war. Mit gebeugtem Haupt und zitternden Gliedern stand er wie ein eben zum Tode Verurteilter da. Die beiden vorhergehenden Tage hatten ihn anders aussehen lassen, denn wenn er auch nervös gewesen war, so war er es aus dem Grunde gewesen, weil er seinen Herrn und durch ihn die ganze herzogliche Familie hatte schützen wollen. Nun aber drückte sein Benehmen persönliche Furcht aus. Er hatte gesehen, wie der Tod diese Frau erreicht hatte, die den wirklichen Mörder schützen wollte; möglicherweise sah er in ihrem Schicksal eine Lehre dafür, was jedem, der in ihren Spuren wandelte, bevorstand.

Ungeduldig den Kopf schüttelnd, fuhr der Arzt in seiner Untersuchung, die diesmal rein formell war, fort. Ein kurzer Blick schon hatte ihn überzeugt, daß der Verwalter die Wahrheit gesprochen hatte. Ohne eine Bewegung mußte die unglückliche Französin ihre Seele ausgehaucht haben. Ein schwarzer Fleck auf ihrer Kehle deutete klar genug die Todesursache an, und als Mordinstrument lag neben ihr einer der Todespfeile Hauptmann Theobalds. Ob der Mörder diesen Pfeil in seiner Eile verloren hatte, oder ob er ihn als »Mene Tekel« zurückgelassen hatte, konnte noch nicht entschieden werden. Gleichfalls zweifelhaft war augenblicklich, ob dies derselbe Pfeil war, der schon den Tod Montacutes herbeigeführt hatte, oder ob der Mörder im Besitz mehrerer dieser tödlichen Waffen war. Dieser Zweifel hatte einen sehr ernsten Hintergrund, wenn man sich die verhüllten Drohungen Lady Agathas ins Gedächtnis zurückrief und die ausgesprochene Angst Burrowes' sah.

Der Spezialist mußte die Beantwortung dieser Frage solange verschieben, bis er Gelegenheit gehabt haben würde, den Köcher im Haus in Ruhe zu untersuchen. Wichtiger für den Augenblick war es, sofort den Herzog aufzusuchen und ihn darauf aufmerksam zu machen, daß die Zeit, wo er mit seinem Wissen hinter dem Berg halten konnte, vorbei wäre. Er wandte sich Burrowes zu:

»Ich werde jetzt den Herzog aufsuchen. Diesmal wird man nicht zu verbergen suchen, daß im Haus ein Verbrechen begangen worden ist.«

Der Vertraute des Herzogs schlug die Augen nieder.

»Man hat den Dienstboten mitgeteilt, daß Mademoiselle sich selbst entleibt hat,« sagte er nervös. »Man weiß im Hause, daß sie Rauschgift zu nehmen pflegte, und man kann vielleicht annehmen, daß sie unter dessen Einfluß Selbstmord begangen habe.«

Die zögernde Art, in der er diese Worte vorbrachte, zeigte dem Arzt, daß Burrowes selbst nicht viel Zuversicht darin hatte, daß die Dienerschaft dieser Erklärung Glauben schenken würde. Tarletons Antwort wurde jedenfalls in festem Ton gegeben.

»Ich denke nicht, daß die Dienerschaft auch nur einen Augenblick diese Märchen glauben wird, und wenn sie es täte, dann würde dies auch keinen Unterschied machen. Ich werde meine Hand nicht mehr dazu bieten, weitere Heimlichkeiten zu begehen, und je schneller Ihr Herr diese Absicht von mir zu erfahren bekommt, desto besser wird es für alle Beteiligten sein.«

Der Doktor ging voran, und als er das Zimmer verlassen hatte, traf er den Hauptmann, der offensichtlich von seiner Anwesenheit unterrichtet worden war und ihn im Korridor erwartete.

»Dr. Tarleton,« rief er aus, als er den Arzt erblickte. »Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen. Haben Sie einen Moment für mich übrig? Wollen Sie, bitte, in mein Zimmer eintreten?«

Die Aufregung des Offiziers war offensichtlich. Er hatte sich in dieser Beziehung genau so verändert wie Burrowes. Im Augenblick war sich Tarleton darüber klar, daß er diese Veränderung benutzen mußte, um so viel wie möglich aus ihm herauszubekommen, und er folgte deshalb der Einladung Theobalds; den Verwalter bat er, dem Herzog mitzuteilen, daß er binnen wenigen Minuten zu ihm kommen würde.

Der junge Mann sprach kein Wort, während sie die Treppe emporstiegen; aber als sie den gemeinschaftlichen Salon der Schwestern passierten, aus dem die Stimmen der beiden Damen herausklangen, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer. Sobald sie sein Zimmer betreten hatten, fing Theobald an, seine Sorgen zu beichten.

»Doktor, ich bin verzweifelt! Rosa hat mir mein Wort zurückgegeben! Sie gab mir meinen Ring wieder; ich solle sie vergessen. Einen Grund wollte sie mir nicht sagen, aber es gibt ja nur einen, der in Frage kommen könnte – sie weiß, daß die Prégut mit einem meiner Pfeile umgebracht worden ist und glaubt, ich wäre an dem Mord mitschuldig.«

Er ließ sich in einen Stuhl fallen, zu aufgeregt, um sich der Höflichkeit gegen seinen Gast zu erinnern. Sein Besucher setzte sich und sah ihm ruhig ins Auge. Er wußte, daß Lady Rosa trotz alledem den jungen Offizier liebte, und um ihr zu helfen, nicht um Theobalds willen, wollte er tun, was er nur irgendwie konnte.

Vor allen Dingen aber mußte er ein offenes Wort mit dem Hauptmann reden.

»Sie sind sich offenbar ganz sicher, daß ich gegen Sie keinen Verdacht hege,« sagte er ernst, »und ich möchte gegen diese Ansicht auch nichts einwenden. Aber Sie sind mir gegenüber nicht so offen gewesen, wie es sich gehört hätte. Es mag sein, daß Sie zu der ersten Tat in keinerlei Beziehung stehen, aber daß Sie dazu geholfen haben, die Spur zu unterdrücken, steht zweifellos fest. Sie tun unrecht daran, heute mein Vertrauen in Anspruch zu nehmen, um morgen hinter meinem Rücken meine Untersuchungen zu erschweren.«

Theobald nahm diese Vorwürfe ohne Widerspruch entgegen, denn er war zu verzweifelt, um sich zu verteidigen.

»Es tut mir furchtbar leid, Herr Doktor. Ich wünschte, ich hätte mich niemals in diese furchtbare Sache eingelassen. Aber Sie müssen sich in meine Lage versetzen: Ich weile hier im Hause als Gast des Herzogs von Altringham, der mir Vertrauen genug entgegenbringt, mich als Schwiegersohn anzunehmen. Daher habe ich mich auch von Burrowes überreden lassen, die Leiche Montacutes in der Mordnacht nach dem Zimmer des Verwalters zu schaffen, um der Dienerschaft die Tat zu verbergen. In der nächsten Nacht bat mich der Herzog jedoch selbst, die Leiche aus dem Hause schaffen zu helfen. Er sagte mir, daß er diesbezüglich mit dem Innenminister, Sir Charles Beaumanoir gesprochen hätte, der ja, wie Sie vielleicht wissen werden, ein Verwandter des Herzogs ist. Sir Charles hätte ihm selbst geraten, die Leiche irgendwohin zu schaffen und ihr Finden der Polizei zu überlassen, um die Totenschau im Palast zu vermeiden. Der Herzog bat mich, dabei behilflich zu sein, da er außer Burrowes keinem der Diener trauen könnte, und Burrowes selbst könnte nicht chauffieren. Ich mußte also, obzwar ich von der Sache nicht sehr begeistert war, meine Einwilligung geben. Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen nachträglich alles zu beichten.«

»Mir scheint es, als ob Sie ziemlich viel gewagt hätten,« bemerkte Tarleton.

»Ja!« Den jungen Offizier überlief ein Schauer. »Das habe ich mir erst überlegt, als wir schon unterwegs waren. Das Auto haben wir selbst aus der Garage geholt, denn glücklicherweise wohnt keiner der Chauffeure im Hause. Dann mußten wir abwarten, bis wir die Straße vollkommen leer fanden. Endlich konnten wir die Leiche – natürlich durch die Hintertür – in den Wagen schaffen. Erst versuchten wir, die Vorhänge im Auto vorzuziehen, aber das hätte, wie ich mir sagte, an und für sich verdächtig ausgesehen. Gegen ein Uhr morgens fuhren wir los und hatten die Absicht, bis Hounslow zu gelangen. Es war eine schreckliche Fahrt. Mir stand jedesmal, wenn wir einem Polizeibeamten begegneten, das Herz einen Augenblick still. Die Straßen lagen vollkommen verlassen da, und es schien uns, als wäre in dieser Nacht überhaupt kein Auto unterwegs. Als wir in die Hauptstraße von Hammersmith einbogen und ich diese lange, breite Straße, auf beiden Seiten hell erleuchtet, vor mir liegen sah, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Aber ich mußte trotz der geisterhaften Helle in dieser Straße weiter, mit der Leiche hinter uns im Wagen. Wir durften es nicht wagen, schneller zu fahren, um uns nicht der Gefahr auszusetzen, untersucht zu werden. Die Fahrt erschien mir endlos. Als wir nach Tournham Green gelangten, vermochte ich die Spannung nicht länger zu ertragen und sagte Burrowes, daß wir schon hier an den Fluß fahren und die Leiche hineinwerfen wollen. Er war mit dieser Aufforderung sehr einverstanden. Wir bogen in eine Straße ein mit der Vermutung, sie würde uns direkt an den Fluß führen, aber wir irrten uns. Der Weg umlief im großen Bogen ein Terrain und endete dann in einer Sackgasse vor einer großen Mauer. Ich war fast verzweifelt, als ich endlich eine kleine Gasse ohne Häuser fand. Wir fuhren diese hinauf – es war ebenfalls eine Sackgasse – und als wir am Ende angelangt waren, hielt ich den Wagen an. Wir verließen ihn, nahmen die Leiche heraus und legten sie auf ein kleines Rasenstück, das auf der einen Seite durch ein großes Tor von der Straße abgeschlossen war. Wenn ich selbst der Täter gewesen wäre, hätte ich mich nicht mehr erleichtert fühlen können, als wir den Toten endlich los waren.«

Der junge Mann erzählte diese Einzelheiten in so ernstem Tone, daß der Arzt nicht mehr länger an der Wahrheit der Schilderung zweifeln konnte. Unzweifelhaft war Theobald dem Gesetz in den Arm gefallen, aber damit schien auch seine Schuld ein Ende zu haben. Das Geheimnis von Trafford House war ihm offenbar unbekannt.

Wenn es sich aber so verhielt – warum hegte dann Lady Rosa gegen ihn Verdacht? Das war die Frage, die der Untersuchungsführer zunächst zu beantworten versuchen mußte. Es erschien geradezu paradox, daß das junge Mädchen von der Unschuld ihres Verlobten, den sie offenbar liebte, nicht ebenso überzeugt sein sollte wie der Arzt, der doch mit einem gewissen Vorurteil gegen den jungen Mann herumging. Wieder durchrann ihn das Gefühl, daß er vor Geheimnissen stehe, die undurchdringlicher und tiefer wären, als alle bisher entdeckten Tatsachen. Eine Ahnung, zu unbestimmt, um schon ein Verdacht zu sein, durchfuhr ihn, eine Ahnung, die sich unbewußt in seinem Geist zu entwickeln begonnen hatte.


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