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Nachdenklich begab sich Dr. Tarleton auf den Korridor und ging dann die Treppe hinab. Würden die Beweise, die ihm Lady Rosa eben geliefert hatte und die so stark gegen diese junge Dame – zum mindesten in den Augen der Kriminalpolizei – sprachen, nicht auch dazu dienen können, die bisher so verschwiegenen Lippen ihres Verlobten und ihres Vaters, des Herzogs, zu öffnen?
Als er im Erdgeschoß anlangte, traf er den emsigen Mr. Burrowes, der eben aus den Gemächern des Herzogs heraustrat. Das plötzliche Zusammenzucken des Verwalters bewies dem Arzt, daß jener eben eine Beratung mit seinem Herrn beendet hatte. Er meldete dem Spezialisten, daß sich Seine Gnaden eben in der Behandlung seines Kammerdieners befände, und Dr. Tarleton ersuchte ihn daher, ihn in die Räume der Dienstboten zu führen.
Mr. Burrowes freute sich sichtlich dieses Auftrages, noch mehr aber, als er den Befehl erhielt, dem Arzt vor allen Dingen das Zimmer des schwarzen Dieners Hauptmann Theobalds zu zeigen. Er protestierte nicht mehr, wie er es bisher getan hatte, gegen die Äußerung eines Verdachtes gegen den Schwarzen, sondern trug die überhebliche Miene des Unschuldigen zur Schau, dem man die Schuld eines andern erzählt. Es war dem Arzt vollkommen klar, daß Burrowes nunmehr den schwarzen Diener als angenehmes Verdachtsobjekt ansah, und er tat noch sein übriges, um diesen Verdacht weiter zu verstärken.
»Seine Gnaden hat mir mitgeteilt, daß Sie den Tod« – er konnte auch jetzt scheinbar das Wort »Mord« noch nicht über seine Lippen bringen – »einem Pfeilstich zuschreiben,« flüsterte er vertraulich. »Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen beim Nachforschen nach der Waffe behilflich sein.«
Da Tarleton keinen Widerspruch dagegen erhob, wandten sie sich nach dem Schlafzimmer des Negers – einem kleinen, notdürftig möblierten Raum in einer Mansarde – und der Verwalter begann sofort mit dem Durchwühlen des Zimmers, augenscheinlich im stillen hoffend, daß das Suchen von Erfolg begleitet sein möchte. Aber vergeblich! Weder Pfeil noch sonst eine Waffe, die den Tod hätte verursachen können, wurde irgendwo aufgefunden.
»Er muß die Waffe vernichtet haben,« rief Burrowes bedauernd aus, »wahrscheinlich hat er sie im Feuer, das er sich jeden Morgen anmacht, wenn er sein Frühstück kocht, verbrannt.«
Der Spezialist hielt es nicht für angebracht, seinem Begleiter jetzt schon die Karten aufzudecken; auch hatte er selbst noch keineswegs den Gedanken aufgegeben, daß der Neger an dem Verbrechen beteiligt sein könnte. Es war ja recht leicht möglich, daß der schwarze Diener nur als ausführendes Werkzeug des Mordes gebraucht worden war, sei es von seinem Herrn oder von einem Dritten. Wahrscheinlich – so sagte sich Tarleton – würde es ihm eher gelingen, die Wahrheit aus Mr. Burrowes oder seinem Herrn herauszuholen, wenn er sie in dem Glauben ließ, daß er ihrer Version zustimme.
Er antwortete daher nur kurz:
»Wenn der Herzog mich gegenwärtig zum Vortrag meines Berichtes nicht empfangen kann, dann wollen Sie, bitte, Hauptmann Theobald bitten, mich für einen Augenblick anzuhören.«
Der Verwalter schien erstaunt zu sein, doch widersprach er dem Wunsch des Arztes nicht, und es dauerte nicht lange, so erschien der junge Offizier in der Bibliothek, wo ihn Tarleton erwartete. Nachdem ihn der Arzt ersucht hatte, Platz zu nehmen, und sich Theobald mit augenscheinlicher Nervosität niedergelassen hatte, war es offensichtlich, daß der Offizier nunmehr ebenso bereit war, Auskunft zu geben, wie er vorher versucht hatte, diese zu verweigern. Wie groß auch das Vorurteil des Arztes gegen ihn gewesen sein mochte, jetzt war er sicher, daß er jede Auskunft von dem Bräutigam bekommen konnte, da es galt, seine Verlobte reinzuwaschen.
»Wenn Sie es mir gestatten, Hauptmann Theobald, möchte ich mit Ihnen einige Worte im Vertrauen sprechen. Ich verlange nicht, daß Sie mein Vertrauen erwidern sollen; wie Sie darüber entscheiden, ist Ihre eigene Angelegenheit. Ich hoffe aber, daß Sie mir wenigstens den guten Willen entgegenbringen werden, soweit Lady Rosa in Frage kommt. Ich würde mich sehr freuen, wenn es möglich sein könnte, den Namen dieser Dame aus der schrecklichen Angelegenheit überhaupt auszuschalten.«
Die Miene des Hauptmanns drückte zuerst offene Überraschung, dann aber Zorn aus.
»Was wollen Sie damit sagen? Wie kann ihr Name hier überhaupt hineinspielen? Kein Mensch, außer vielleicht Sie selbst, denkt auch nur im entferntesten daran, sie zu verdächtigen!«
Ungeduldig schüttelte der Arzt den Kopf.
»Das ist ja gerade das Schwierige,« erwiderte der Arzt. »Ich spreche einzig und allein im Interesse der jungen Dame. Ich will Ihnen Gelegenheit geben, ihr zu helfen, sie, wenn es nötig ist, zu verteidigen, und Sie möchten mir am liebsten an den Hals fahren, als ob ich der größte Feind Lady Rosas sei. Ich muß Ihnen nunmehr offen sagen, daß Lady Rosa in größter Gefahr schwebt, und daß, wenn Sie sich weiter weigern, mich anzuhören, die Konsequenzen für Ihre Braut, wie auch für Sie, sehr ernsthaft werden können.«
Der Ernst dieser Rede hatte den Offizier wider seinen Willen beeinflußt. Er drehte seinen Schnurrbart, ohne ein Wort darauf zu erwidern.
»›Gegen Verleumdung sind auch die reinsten Naturen nicht gefeit,‹ sagt ja schon Shakespeare,« fuhr Tarleton fort. »und gerade die Unschuldigen befinden sich um so leichter in Gefahr, weil sie sich in ihrer Unschuld keiner Gefahr vorsehen. Lady Rosa hat eine Anzahl Tatsachen zugegeben, die ich ihr nicht raten würde, vor der Polizei zu wiederholen. Sie weiß ja nicht, daß ich mich in amtlicher Eigenschaft hier befinde.«
Offenbar war Theobald nun doch erschrocken.
»Tatsachen zugegeben? Um Gotteswillen, Doktor, was kann sie denn überhaupt zugeben?«
»Die erste Tatsache war derartig schlagend, daß ich mich wunderte, daß weder Sie noch Mr. Burrowes sich bemüht hatten, sie aus dem Weg zu räumen. Ich habe ein Bild des Ermordeten an der Wand im Wohnzimmer Lady Rosas hängen sehen.«
Es war ersichtlich, daß diese Worte den erschreckten Hauptmann wie ein Schlag trafen.
»Sie können daraus ersehen,« fuhr der Spezialist weiter fort, »wie falsch es von Ihnen allen war, mich glauben zu machen, der Ermordete wäre im Hause unbekannt. Burrowes muß ihn ja, sobald er ihn nur sah, erkannt haben, denn vor kaum einem Jahre kam der Tote noch in das Haus als willkommener Freund Lady Rosas.«
Wenn man der Miene Theobalds glauben konnte, war ihm diese Nachricht eine Neuigkeit, und zwar eine recht unangenehme und unglaubliche.
»Burrowes hat mir kein Wort davon gesagt,« rief er.
Man konnte Dr. Tarleton nicht anmerken, ob er diese Erklärung als glaubhaft empfand oder nicht; wenn sie wahr war, dann um so besser. Alles, was Mißtrauen zwischen die Verschwörer tragen konnte, war ihm willkommen, denn dadurch würde die Wahrheit eher ans Tageslicht zu bringen sein.
In kurzen Worten schilderte der Sachverständige den Inhalt seiner Unterredung mit Lady Rosa und gab dann seiner Meinung über die Sache Ausdruck.
»Ein Mann, den die Herzogin – eine Verwandte von Ihnen, nicht wahr? – als Verehrer Lady Rosas betrachtete, und dem sie deshalb ihr Haus verbot, kam doch noch verstohlen in diese Wohnung. Er kam und ging in vollkommener Gefahrlosigkeit, bis ihn gestern das Geschick ereilte. Sie kommen von Afrika zurück, verloben sich, und – anschließend wird der Mann ermordet. Der Mord erfolgt mittels einer Waffe, die Sie von Nigeria mitgebracht haben; wahrscheinlich hat niemand außer Ihnen und Ihrem Diener überhaupt gewußt, daß die Mordwaffe derart tödlicher Natur ist. Sie können ruhig meinen Worten glauben, daß jeder, dem der Fall in dieser Weise geschildert wird, überzeugt sein wird, daß Sie den Mord begangen haben, weil Sie der Meinung waren, daß die Besuche des Toten Ihrer Braut galten.«
Hauptmann Theobald mußte seine volle Energie und seinen ganzen Glauben, daß der Arzt die beste Absicht mit ihm habe, aufbieten, um sich soweit zu beherrschen, diese Erklärungen in Ruhe anzuhören. Nur einen Einwurf machte er nach den Erklärungen des Arztes:
»Ich glaube trotzdem, daß die tödliche Wirkung der Waffe im Haus selbst recht wohl bekannt war, denn ich habe jeden vor der leisesten Berührung der Pfeile gewarnt. Dieses zu tun, war, meines Erachtens, meine Pflicht.«
Der Sachverständige nickte finster.
»Sicherlich hatten Sie diese Pflicht, und ich glaube wirklich, daß Sie diese Warnungen ausgesprochen haben, ob es natürlich dem Totenbeschauer und der Polizei genügen wird, das vermag ich nicht zu sagen.«
»Was würden Sie mir denn dann raten zu tun?« erkundigte sich der Offizier nach kurzem Schweigen.
»Ich rate Ihnen, mir zu vertrauen, und mir zu helfen, den wirklichen Mörder zu entdecken.«
Ein Unschuldiger würde dieser Aufforderung sicherlich schnell und willig gefolgt sein, aber Theobalds Miene blieb weiter finster. Ob er selbst nicht recht daran glaubte, daß Lady Rosa vollkommen unschuldig am Mord war, oder ob er selbst an dem Verbrechen beteiligt war; ob ihn das Gefühl leitete, daß er seinem Schwiegervater nicht in den Rücken fallen dürfe ohne die größten Verwicklungen herbeizuführen, wenn er etwas tat und sagte, wovon der Herzog nicht unterrichtet war und wozu er seine Zustimmung vielleicht nicht gegeben haben würde – das zu entscheiden war dem Arzt, als er der Antwort des Offiziers harrte, nicht möglich. Der junge Mann beschränkte sich jedenfalls auf einige unverständlich gemurmelte Worte des Dankes und flüchtete so schnell wie möglich aus dem Zimmer.
Der Spezialist hielt es für sehr geraten, dem Schwiegersohn des Herzogs keine Gelegenheit zu geben, sich mit Burrowes oder dessen Herrn über einen neuen Plan zu beraten, ehe nicht Tarleton selbst die Wirkung seiner Mitteilungen auf den Herzog beobachten konnte.
Er traf den Herzog in intimster Beratung mit seinem Hausminister an, und der scheue Blick, mit dem ihn beide begrüßten, war ihm der beste Beweis dafür, daß er eine Beratung unterbrochen hatte, zu der sie ihn sicherlich nicht eingeladen haben würden. Der Herzog von Altringham sah bedeutend besser aus als am Morgen. Er war nicht nur vollkommen angezogen, auch seine Augen waren klarer, und er war jetzt offenbar eher in der Lage, mit dieser unangenehmen Angelegenheit fertig zu werden, als es am frühen Morgen der Fall gewesen war.
»Na, Doktor, man sagt mir, daß Sie das Haus gründlich durchsucht haben. Haben Sie etwas Wichtiges entdeckt?«
»Mehr als ich erwartet hatte, Herzog,« erwiderte ernst der Spezialist, während er sich auf den ihm vom Verwalter höflich angebotenen Stuhl niederließ. »Ich möchte gleich betonen, daß meine Vermutung hinsichtlich der Todesursache den Tatsachen vollkommen entsprach. Ich habe einen Köcher im Zimmer des Hauptmanns Theobald gefunden, aus dem der tödliche Pfeil entnommen worden ist. Der Hauptmann ist sich darüber ebenso klar, wie ich.«
Der Herzog atmete etwas schwerer.
»Aber selbstverständlich hat doch wohl Hauptmann Theobald nichts damit zu tun?« warf er ein.
»Das wäre zu wünschen,« war die vorsichtige Antwort. »Jedenfalls schien er tief erschrocken und sehr überrascht, als ich ihm zeigte, daß man den Köcher berührt hatte; er wird wahrscheinlich selbst der Meinung sein, daß er sich in einer etwas gefährlichen Situation befindet, solange man den Dieb nicht entdeckt hat.«
Der Herzog sah nun doch etwas besorgt aus und warf seinem Verwalter einen Blick zu.
»Man berichtet mir, daß es Ihnen nicht gelungen sei, den Pfeil im Zimmer des Schwarzen zu finden,« sagte er, »aber trotzdem weist doch alles darauf hin, daß er der einzige Mann sein kann, der den Pfeil genommen hat. Wer könnte denn überhaupt sonst auf eine derartige Waffe kommen?«
»Was Sie sagen,« gab der Arzt nickend zu, »hat unstreitig etwas für sich, doch ist es noch gar nicht so sicher, daß er, wenn er auch den Pfeil genommen und benutzt hat, wirklich der einzige ist, der an diesem Verbrechen beteiligt ist. Wir müssen doch schließlich auch das Motiv zur Tat finden, und in dieser Hinsicht ist bisher nicht eine einzige Tatsache vorhanden, um den Ermordeten mit dem Schwarzen in Verbindung zu bringen.«
»Aber sind denn in dieser Beziehung gegen andere Personen Verdachtsmomente vorhanden?«
Der Herzog versuchte diese Frage gleichgültig zu stellen, aber seine Augen verrieten die Zweifel, mit der er der Antwort des Doktors entgegensah.
»Leider ja,« war die feste Antwort. »Ich muß Ihnen mitteilen, daß es mir gelungen ist, die Persönlichkeit des Toten festzustellen. Er war ein Schauspieler, der unter seinem Bühnennamen als Edwin Montacute bekannt war.«
»Wie haben Sie denn das herausbekommen?« In seiner Überraschung hatte er ganz vergessen, die absolute Unwissenheit, die er bisher vorgetäuscht hatte, weiter aufrechtzuerhalten. Der Blick, den er mit seinem Verwalter austauschte, erinnerte an den Blick zweier Schuljungen, die von ihrem Lehrer bei einer Lüge ertappt worden sind.
Es gehörte nicht zum Programm des Arztes, sein Triumphgefühl zu äußern, denn er wollte sich den Herzog immer noch versöhnlich erhalten, um so weit wie möglich sein Vertrauen zu gewinnen. Er beschränkte sich deshalb darauf, die Erklärungen, die er eben Hauptmann Theobald gegeben hatte, zu wiederholen: – wie er das Bild des Ermordeten im Zimmer Lady Rosas entdeckt habe, wie sie zugegeben habe, daß sie von Montacute besucht worden sei, offen und ungestört, bis die Stiefmutter sich eingemischt hätte.
Der Verwalter hörte dieser Geschichte mit beinahe ebensolcher Verwirrung zu, wie es etwas früher bei dem Verlobten der Fall gewesen war. Was aber den Arzt überraschte, war das Benehmen des Herzogs. Seine väterlichen Gefühle schienen von dieser Nachricht wie durch eine Erleichterung beeinflußt worden zu sein; vielleicht war es seine Freude darüber, daß nunmehr die »Katze aus dem Sack« war, daß also keine Notwendigkeit mehr bestand, hinter dem Berg zu halten; vielleicht hatte er eine leise Note der Zärtlichkeit in der Stimme des Arztes mitschwingen hören, die in ihm die Hoffnung erweckte, diesen dahin bringen zu können, die Sache zu unterdrücken. Welches auch immer die Gründe sein mochten, Tarleton schien es, als ob die Verteidigung, die der Herzog seiner Tochter angedeihen ließ, nicht sehr ernstlich gemeint war.
»Mein lieber Herr,« begann der Herzog, »ich möchte Sie bitten, zu niemand ein Wort von dieser Sache verlauten zu lassen. Ich weiß, daß Sie nicht für eine Minute meine Tochter mit der schlimmen Sache ernstlich in Verbindung bringen werden. Lady Rosas Name darf nicht einmal bei der weiteren Untersuchung genannt werden.«
»Auch ich bin nicht geneigt, zu glauben, daß sie eine Ahnung von der Sache in strafrechtlichem Sinne hat,« erwiderte der Sachverständige. »Im Gegenteil, gerade die Tatsache, daß das Bild des Ermordeten für jeden sichtbar in ihrem Zimmer hing, weist darauf hin, daß sie nicht gewußt hat, was Montacute bevorstand. Aber trotzdem weiß ich nicht, ob wir Lady Rosas Namen ausschalten können, denn wir müssen ja nachweisen, was der Mann im Hause zu suchen hatte. Er war doch sicherlich ihr Freund und Verehrer, sie empfand die Einmischung der Herzogin, ihm das Haus zu verbieten, als unangebracht, und deshalb wäre es nur eine logische Folgerung, wenn man glauben würde, sie hätte den Schauspieler heimlich empfangen.«
Der Herzog war besorgt geworden.
»Aber Doktor, merken Sie denn nicht, was Sie damit andeuten? Ihre Worte sind beinahe ebenso schlimm wie eine Anklage des Verbrechens.«
Der Sachverständige schüttelte den Kopf.
»Nur die Tatsachen selbst würden ja diese Meinung aufkommen lassen können. Was ich Ihnen vortrage, ist der Eindruck, der bestimmt bei der offiziellen Totenschau vorherrschend sein wird – der Fall, wie er sich sicherlich darstellen dürfte, und wie wir ihm entgegensehen müssen. Ohne daß irgendein Zweifel an Lady Rosas Charakter auftauchte, könnte irgendein Beobachter doch zu der Auffassung gelangt sein, daß diese Besuche Montacutes, so unschuldig sie auch andern erscheinen mochten, eine ernsthaftere Ursache gehabt haben, mit der Folge, daß der Schauspieler ermordet wurde. Die einzige andere Möglichkeit der Erklärung ist die, die ich Ihnen – mit den bisher entdeckten Spuren vor Augen – vorhin angedeutet habe. Vielleicht hat der Ermordete Lady Rosa genügend in seiner Gewalt zu halten geglaubt, daß es ihm möglich war, sie zu der Duldung seiner heimlichen Besuche zu zwingen, und daß sie sich vielleicht an irgend jemand um Schutz gewandt hat.«
Diese offenen Worte brachten nicht den erwarteten Eindruck hervor. Der Herzog von Altringham hörte die Vermutung mit sichtbarer Unruhe an, aber die Worte schlössen seine Lippen nur noch fester. Er warf Burrowes einen recht anzüglichen Blick zu, als wolle er seine Aufmerksamkeit auf die nun folgende Antwort hinlenken:
»Alles, was Sie bisher erwähnt haben, zeigt mir aufs deutlichste, daß eine Totenschau unter allen Umständen vermieden werden muß; das werden Sie doch einsehen, nicht wahr? Es ist ausgeschlossen, daß die Zeitung und damit das Publikum erfahren dürfen, daß im Palast des Herzogs von Altringham ein Mann ermordet worden ist, den man im Verdacht hat, der Liebhaber Lady Rosas zu sein.«
Seine Gnaden sprach diesen Satz wie ein Mensch, der sich endlich klar geworden ist, was zu tun sei, und daß er diese Klarheit auch von andern geteilt zu sehen wünschte. Aber der Arzt antwortete ihm mit gleicher Festigkeit:
»Ich befürchte, daß diese Totenschau nicht wird vermieden werden können. Ein Toter befindet sich im Haus und kann ohne Bescheinigung des Totenschauers nicht beerdigt werden. Kein Arzt würde es wagen, Ihnen einen Totenschein ohne dieses Attest auszufertigen; Sir Philipp Blennerhasset hat sich ja schon, wie Sie wissen, geweigert, es zu tun.«
»Könnte denn nicht der Innenminister anordnen, daß diese Formalität unterbliebe?«
Der Herzog warf diese Frage mit einem Unterton von Arroganz hin, als wollte er dem Arzt beweisen, daß er es mit einer Persönlichkeit zu tun habe, vor der sich sogar Minister zu beugen hätten.
Aber der Arzt war nicht zu beeinflussen.
»Der Minister wird sich an meinen Bericht halten,« erklärte er gelassen, »und wird darauf bestehen, daß nichts dergleichen geschieht, ehe ich nicht noch einige offene Erklärungen zu diesem Fall erhalte. Ich glaube nicht, daß Sie die Sachlage bisher richtig verstanden haben. Es handelt sich ja nicht um einen vollkommen unbekannten Toten. Montacute scheint ein Liebling des Publikums gewesen zu sein, und wie mir Lady Rosa mitteilte, spielte er die Rolle des Romeo in einem hiesigen Theater. Wenn er heute abend nicht auftritt, wird das ziemliche Aufregung zur Folge haben, nicht wahr? Jede Zeitung wird darüber schreiben, in allen Omnibussen und in allen Klubs wird darüber gesprochen werden. Seine Freunde werden die Polizei in Bewegung setzen. Wie Sie wohl wissen, sind die Schritte eines derartig im öffentlichen Leben stehenden Menschen genau überwacht und bekannt, genauer als der Betreffende es selbst ahnt. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die Verbindung des Ermordeten mit diesem Hause mehreren Leuten seiner näheren Umgebung bekannt ist, und daß man infolgedessen die Polizei dementsprechend instruieren wird. Wenn es sich dann herausstellen würde, daß man ihn dieses Haus hat betreten sehen, daß er ermordet und seine Leiche beiseite gebracht worden ist, dann würde es einen Sturm geben, der sehr schwerwiegende Folgen für alle Beteiligten haben könnte.«
Der treue Burrowes war, während der Arzt diese Möglichkeiten erörterte, bleicher und bleicher geworden, und auch sein Herr wurde offenbar dadurch besorgt. Er rang seine Hände in Verzweiflung, als er ausrief:
»Was sollen wir tun, was sollen wir tun? Die Öffentlichkeit darf nichts erfahren, – koste es, was es wolle – die Ehre meiner Familie darf nicht berührt werden.«
Tarleton glaubte nun den Zeitpunkt seiner Bitte gekommen.
»Es wäre mir leichter, Sie zu beraten und Ihnen zu helfen, wenn man mir alle Aufklärung geben würde. Es liegt in Ihrer Macht, mir mehr, als Sie es bisher getan haben, beizustehen.«
»Ja, ja,« stotterte der Herzog etwas verlegen. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Einer Spur muß ich folgen, und das kann ich nur mit Ihrer Hilfe tun. Sie erinnern sich, daß ich in der Tasche des Toten einen kleinen Schlüssel zur Hintertür gefunden habe?«
»Ja?« erwiderte der Herzog voller Erwartung.
»Der nächste notwendige Schritt wäre, herauszubekommen, von wem Montacute diesen Schlüssel hat.«
Der Herr des Hauses wechselte mit Burrowes einen raschen Blick. Dann siegte der Wille des Herrn. Er wandte sich dem Spezialisten zu:
»Dazu will ich Ihnen gern verhelfen; bitte, sagen Sie mir, was ich tun soll.«