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5

Dr. Tarleton wartete, bis die Familienmitglieder den Korridor verlassen hatten und begab sich dann in das Wohnzimmer der herzoglichen Töchter.

Wohin man in diesem Zimmer auch blickte, überall sah man den Einfluß von Lady Rosa. Es war ersichtlich, daß die ältere, ernstere Schwester dem verwöhnten Liebling in allen Wünschen nachgegeben hatte. Tarleton warf einen diskreten Blick auf das Schlafzimmer zur Linken und sah einen Raum, der wie eine Nonnenzelle streng und ernst eingerichtet war, mit einem kleinen Stückchen Teppich auf dem sonst nackten Fußboden und einer Nische, die durch eine spanische Wand abgeteilt, als Betraum diente. Ganz anders sah das Zimmer aus, das beiden Schwestern als gemeinsames Wohnzimmer diente. Alles wirkte hier luxuriös, beinahe frivol. Die Stühle waren in den verschiedensten, jedoch immer modernsten Modellen ausgeführt; auf den zahlreichen Tischchen lagen die kostbarsten, aber zwecklosesten Firlefanzereien. Die ausgewähltesten Erzeugnisse des Treibhauses erfüllten den Raum mit süßem, schwerem Duft. Bücher, in geringer Anzahl vorhanden, beschränkten sich auf moderne Novellen und Gedichtbände. Die Bilder, meist Aquarelle, schienen nach dem Gesichtspunkt der Farbenfreudigkeit gewählt, jeder Zentimeter des Kaminsimses war mit Photographien – von Schauspielern und Musikern – bedeckt, meist in exotischen Rahmen; die dargestellten Personen verdankten ihre Gegenwart in diesem Raum wohl weniger ihrem Talent als ihrem Äußeren. Zahlreiche dieser Bilder trugen das Autogramm des Künstlers, woraus man auf eine nähere Bekanntschaft der Lady Rosa mit den Originalen schließen durfte.

Die Augen des Arztes wanderten langsam durch den Raum, ohne sich lange bei den einzelnen Gegenständen aufzuhalten. So schmerzlich auch diese Feststellung für ihn war, mußte er sich doch eingestehen, daß seine Vermutung, den fehlenden Pfeil hier finden zu können, irrig gewesen war. Sein innerstes Gefühl hätte ihn vielleicht verleiten können, Lady Rosa von jeder Beteiligung an diesem Verbrechen loszusprechen, aber als Kriminalist mußte er die Möglichkeit, daß sie Anstifterin oder Ausführende des Mordes war, im Auge behalten. Nach den bisherigen Ergebnissen war der Mord jedenfalls auf Eifersucht zurückzuführen, und die Waffe, mit der die Tat ausgeführt worden war, gehörte ohne jeden Zweifel dem Bräutigam der jungen Dame. Die einzige andere Möglichkeit, die noch bestand, war, daß etwaige Erpressungen des Ermordeten zu dem Verbrechen geführt hatten. Es war nicht unmöglich, daß ein junges Mädchen, das Photographien aller Arten von Menschen zu ihren Heiligtümern zählte, sich vielleicht ganz unschuldigerweise in die Gewalt eines Erpressers begeben hatte, um so mehr, als sie ja als Waise ohne die Fürsorge einer Mutter aufgewachsen war.

Wer war »E. Dunlop?« Der Verwalter des Herzogs, der Herzog selbst und auch Hauptmann Theobald hatten vorgegeben, den Toten nicht zu kennen, trotz alledem hatte man sich bemüht, die Personalien des Ermordeten vor dem Kriminalisten geheimzuhalten; aus diesem Grunde hatte dieser Vorsorge getroffen, niemand erfahren zu lassen, daß er den Namen des Toten bereits entdeckt hatte. Als er nochmals seine Blicke über die Photographien in Lady Rosas Zimmer wandern ließ, fragte er sich plötzlich, ob er nicht unter ihnen vielleicht das Gesicht des Ermordeten würde entdecken können.

Er begann nun, den Raum mit einem doppelten Ziel im Auge zu durchsuchen. Seine Bewegungen wurden schnell und heimlich wie die eines Frettchens. Er berührte alles, aber veränderte nichts. Jede Photographie betrachtete er eingehend, jeden Kasten öffnete er, jeden Bettvorleger und Teppich schlug er zurück, aber nichts war zu entdecken. Nachdem er eine Stunde lang vergeblich gesucht hatte, begann er aufzuatmen, weil er nun hoffen konnte, daß Lady Rosa doch unbeteiligt wäre. Er stand auf einem Kaminvorleger und nahm gerade seine Uhr heraus, um sich neuen Mut und neue Ideen einzuflößen, als er plötzlich mit der Spannung eines Adlers aufblickte; seine Gestalt schien sich zu strecken. Seine Aufmerksamkeit war durch einen Gegenstand gefesselt worden, der bisher seinen suchenden Blicken entgangen war, trotzdem er ohne weiteres gesehen werden konnte.

Eine Federzeichnung, nur mit wenigen Strichen ausgeführt, hing in einem Phantasierahmen an der Seite der Tür, durch die Tarleton eingetreten war. Mit zwei Sprüngen hatte er das Bildchen erreicht. Kein Zweifel war möglich; wenn auch nur leicht skizziert, stammte das Bild doch offenbar von einer Meisterhand und stellte unzweifelhaft den Mann vor, der innerhalb der letzten zwölf Stunden hier im Palast ermordet worden war.

Lange Zeit stand der Beobachter in zweifelndem Schrecken vor dieser Entdeckung. Von Anbeginn der Untersuchung hatte man hier im Hause den Anschein erwecken wollen, als sei der Ermordete vollkommen unbekannt. Burrowes hatte die Theorie aufgestellt, es müsse sich um einen Einbrecher handeln, der die Familienjuwelen hatte stehlen wollen. Der Herzog hatte versucht, dem Arzt diese Theorie plausibel zu machen. Es war unmöglich, weiterhin anzunehmen, daß diese beiden ihre Angaben nach bestem Wissen und Gewissen machten. Der Verwalter des Hauses, ein alter und vertrauter Beamter des Herzogs, mußte sicherlich den Ermordeten sofort erkannt und dem Herzog mitgeteilt haben, daß es sich um einen Mann handelte, dessen Portrait sich in Lady Rosas Zimmer befände.

Beide, sowohl der Herzog als auch der vertraute Diener mußten sich doch unbedingt gesagt haben, daß der Ermordete sich im Hause als Besucher Lady Rosas befunden haben müßte; keiner von beiden konnte auch nur im entferntesten daran glauben, daß ein Selbstmord vorläge.

Die goldene Repetieruhr schwang unruhig an dem seidenen Band, das der Arzt in seiner Hand festhielt, während er die neue Lage betrachtete. Der doch so sorgfältige Burrowes hatte noch einen zweiten schweren Fehler begangen, als er diese verräterische Zeichnung nicht rechtzeitig entfernte. Daß der mysteriöse Mr. Dunlop ein Freund, ja sogar ein guter Freund Lady Rosas gewesen war, stand fest. Auch darüber, daß er höchstwahrscheinlich aus diesem Grund seinen Todesstich empfangen hatte – wer es gewesen sein mochte, das blieb dahingestellt – konnten keine Zweifel mehr gehegt werden. Über diese Gedanken hinaus weitere Folgerungen zu ziehen, davor bebte der Arzt zurück. Seine eigene Erfahrung sagte ihm deutlich genug, daß die meisten Morde dieser Art durch Frauen, die ebenso schön und jugendlich waren wie Lady Rosa, verübt worden waren.

Aber konnte man nicht gerade daraus, daß das Portrait nicht entfernt worden war, schließen, daß Lady Rosa unschuldig an dem Verbrechen war? Es war doch klar, daß die junge Dame sich keinerlei Beziehungen zu dem Ermordeten bewußt war, denn sonst hätte sie ja die Federzeichnung sorgfältig verborgen. Es war undenkbar, daß ein Mädchen das Bild eines Mannes vor Augen dulden würde, der sie gegen ihren Willen täglich besuchte, um sie ihren bösen Plänen gefügig zu machen. Auch daß die Herzogstochter noch nicht von dem Mord unterrichtet war, konnte man aus dem Vorhandensein des Bildes schließen. Wenn sie eine Ahnung haben würde, daß das Original des Bildes in diesem Augenblick tot unter dem Dach ihres Vaters lag und daß man sich bemühte, die Persönlichkeit des Toten festzustellen, dann hätte sie doch sicherlich das Bild so schnell wie möglich entfernt, um es sowohl vor ihren eigenen Augen als auch vor denen der sicherlich zu erwartenden Polizei zu verbergen, oder es, wenn möglich, vollkommen zerstört.

Wenn es sich so verhielt, dann erschien die ganze Sache dem Arzt bedeutend einfacher. Wenn Lady Rosa ausgeschalten wurde – wer konnte dann ein Interesse daran haben, ihr zuliebe den Mord zu begehen. Wenn der Grund in Eifersucht zu suchen war, dann verengerte sich der Kreis der Verdächtigen auf einen einzigen Mann, ihren Verlobten. Wenn er jedoch die dunklen Andeutungen der Lady Agatha richtig verstanden hatte, dann mußte diese andere Beweggründe im Auge gehabt haben. Der Doktor sah sich genötigt, das Benehmen der älteren Herzogstochter mit dem ihres Vaters und mit dem seines Verwalters in Verbindung zu bringen. In der Haltung des Herzogs und seines ersten Ministers lag sicherlich mehr als nur die Absicht, ein Verbrechen zu unterdrücken, das auf leidenschaftliche Beweggründe zurückzuführen war. Auch sie mußten gewußt, oder zum mindesten geglaubt haben, daß die geheimen Besuche des Ermordeten nicht nur unschuldige Gründe gehabt haben konnten. Und wenn ein stolzer Adliger der Ansicht war, daß die Ehre seiner Tochter in Gefahr war – was mochte ein solcher Mann nicht alles tun, um sein Fleisch und Blut zu schützen?

Sorgenvoll schüttelte Tarleton den Kopf. Er konnte sich den Herzog vorstellen, wie er mit seinem Verwalter lange Stunden beraten hatte, mehr andeutend, als befehlend. Die Ankunft des Wilden aus Nigeria mochte den beiden als ein Gottesgeschenk erschienen sein, die Geeignetheit des Wilden zur Ausführung der Tat war vielleicht die größte Versuchung für sie gewesen; die vergiftete Waffe konnte ihnen gelegen gekommen sein, um eine Entdeckung möglichst auszuschließen; endlich bestand der Ausweg, den Verdacht auf den Neger zu lenken, sollte ja die Todesursache entdeckt werden. Trotz all dieser Wahrscheinlichkeiten war der Beamte nicht befriedigt. Sein Instinkt sagte ihm, daß in dieser geheimnisvollen Tat noch Beweggründe liegen mochten, auf die er noch nicht gekommen, die er noch nicht näher untersucht hatte, und daß er sich vor allen Dingen erst näher über die Persönlichkeit des Toten würde informieren müssen und was diesen zum öfteren Betreten des Hauses verleitet haben mochte. Nicht eher glaubte er sich eine Theorie über das Verbrechen selbst erlauben zu dürfen.

Er erwartete auch nicht mehr, die Todeswaffe im Zimmer der Lady Rosa zu finden. Sein längeres Verbleiben hatte nur den Grund, sie über die Persönlichkeit des auf dem Bilde Dargestellten zu befragen. Er überlegte sich noch, wie er seinen Zweck erreichen konnte, ohne Lady Rosa zu erschrecken, als sich die Tür öffnete, und Ihre Herrlichkeit ins Zimmer tänzelte.

Als sie des Spezialisten ansichtig wurde, blieb sie wie angewurzelt stehen und schaute ihn überrascht an. Ärgerlich schien sie nicht zu sein, und auch keine Regung von Furcht zeigte sich. Das ganze Haus war durch Burrowes davon unterrichtet worden, daß die sanitären Anlagen des Hauses durch Dr. Tarleton untersucht würden, und daß der Doktor berechtigt wäre, jedes Zimmer im Haus zu besichtigen. Ihr Wissen über hygienische Anlagen war zu gering, als daß sie sich hätte wundern sollen, was für Abzugsanlagen der Sachverständige in den oberen Geschossen zu suchen hätte; das einzige, was sie interessierte, schien der Umstand zu sein, daß der Mann dastand und sich ihre Bilder betrachtete.

Der Arzt vergaß die Zeichnung, als er die entzückende junge Herzogstochter sah. Das Kleid der jungen Dame, so einfach es auch sein mochte, war unstreitig Pariser Geschmack, der mehr instinktiv gefühlt als beschrieben werden kann. Ihre Augen, etwas dunkler nur als das türkisfarbene Seidenband um ihren Hals, glänzten mit der Klarheit einer Waldquelle. Das harmlose Lächeln, das beim Anblick seiner Verwirrung um ihre Lippen huschte, bewies ihm ohne jeden Zweifel, daß sie von den wirklichen Gründen seiner Anwesenheit im Hause und in ihrem Zimmer keinerlei Ahnung hatte. Als sie ihn endlich ansprach, wollte sie nur wissen, was aus seinem Führer geworden sei.

»Wo ist denn Mr. Burrowes? Ich dachte, er wollte Sie durchs Haus führen?«

Tarleton murmelte eine verwirrte Antwort. Es war ihm selbst eine Überraschung gewesen, daß Burrowes verschwunden war, und er konnte sich dessen Abwesenheit nur durch den Wunsch deuten, die Zeit zu benutzen, etwa noch vorhandene Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Aber es war nicht die Schwierigkeit, die Abwesenheit seines Führers zu erklären, die Dr. Tarleton erröten und stammeln ließ. Die Ursache dazu lag vollkommen außerhalb seiner professionellen Gefühle und gehörte sicherlich nicht zum Dienst eines Arztes, der mit der Aufklärung eines Verbrechens beschäftigt war.

Lady Rosa lächelte noch mehr, als sie die Verwirrung ihres Besuchers merkte. Sie sah vor sich einen Mann, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können, und sah ihn plump und tolpatschig wie einen Bären; sie kam deshalb nicht auf den Gedanken, daß sie ihn auch als Weib interessieren könne, nicht nur als hübsches Mädchen, das jedem, auch dem ältesten Manne, Ausdrücke der Bewunderung entlockt. Ihr bedeutete der Doktor nicht mehr als ein etwas besserer Schlosser oder Klempner, und seine Anwesenheit in ihrem Zimmer beschäftigte sie nicht mehr, als wenn er ein Fensterreiniger oder ein Essenkehrer gewesen wäre. Sie amüsierte sich darüber, daß sie ihn erschreckt zu haben schien, und daß er es als notwendig empfunden haben müßte, sich zu entschuldigen.

»Ich werde klingeln,« sagte sie herablassend. »Es muß Sie doch jemand herumführen.«

Sie wollte an ihm vorbei, während sie sprach, doch er hielt sie mit einer Bewegung auf ihrem Wege auf.

»Einen Augenblick, Lady Rosa. Verzeihen Sie, bitte, meine Frage nach jener Federzeichnung. Ich glaube, ich kenne das Bild.«

Die Miene des jungen Mädchens veränderte sich plötzlich, während der Arzt sprach. Überraschung, Verlegenheit und zuletzt Zorn überfluteten ihr Gesicht, als sie sich mit deutlichem Widerstreben der Richtung zuwandte, die Dr. Tarleton ihr anzeigte.

»Es ist eine Federzeichnung von Augustus John,« erklärte sie kühl, während sie die letzten Bemerkungen des Arztes ignorierte. »Man sagt, sie sei sehr gut.« Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich, als wäre die Kunst, mit der diese Zeichnung ausgeführt war, nicht genügend, um ihr das Bild sympathischer zu machen.

»Ah!« Tarleton blickte nicht auf das Bild, sondern beobachtete dessen Besitzerin. »Wissen Sie, wen das Bildchen vorstellt?«

Lady Rosa zuckte empfindlich ihre Achseln.

»Ich dachte, Sie hätten das schon gewußt,« entgegnete sie. »Sie haben doch sicherlich Mr. Montacute schon gesehen, Edwin Montacute, den Schauspieler, nicht wahr?«

Tarleton konnte sie nur hilflos ansehen, erst sie und dann das Portrait. Da er weder Theater besuchte noch sich mit Theaterneuigkeiten beschäftigte, war er in Angelegenheiten, die die Bühne betraf, ziemlich unwissend. Aber aus dem verwunderten Ausruf der Lady Rosa konnte er schließen, daß das Original der Zeichnung eine Berühmtheit sein mußte, die nicht plötzlich aus dem Lichte der Öffentlichkeit verschwinden konnte, ohne daß es Aufsehen erregte. Falls Edwin Montacute das Pseudonym für E. Dunlop darstellte – der Anfangsbuchstabe des Vornamens war jedenfalls derselbe – und falls die Leiche, die oben lag, gerade über dem Raum, in dem die beiden sich unterhielten – wirklich diese berühmte Persönlichkeit war – sogar ein Liebling des Publikums – dann war es erklärlich, daß Burrowes und sein Herr tief erschrocken waren; es war dann kein Wunder, daß der Herzog von Altringham lieber alles auf sich nehmen wollte, um wenigstens den Sturm zu beschwören, der über Trafford House hereinbrechen mußte, wenn die Öffentlichkeit von der Tat erfuhr. Das Zusammenspiel, das bisher so viele Rätsel aufgegeben hatte, wurde dem Arzt nun klarer, und Lady Agathas Szene im Zimmer, in dem der Tote aufgebahrt lag, verständlicher. Natürlich war sie davon unterrichtet, wen das Bild im Zimmer ihrer Schwester darstellte, und sie hatte auch sicherlich den Ermordeten als Freund Lady Rosas erkannt. Wie auch ihre Ansicht über den Mord – gerecht oder ungerecht vollbracht – gelautet haben mochte, sie hatte sich jedenfalls berechtigt gefühlt, im Totenzimmer ein stilles Gebet zu sprechen.

Daß zwischen den Namen Montacute und Dunlop ein Unterschied bestand, verwirrte den Arzt nicht. Er wußte, daß es im Theaterleben bei den Berühmtheiten üblich war, einen anderen statt des bürgerlichen Namens anzunehmen, wußte auch, daß das Pseudonym bei berühmten Schauspielern den unbekannten bürgerlichen Namen oft vollständig in Vergessenheit geraten ließ. Gleichzeitig war es auch verständlich, daß es für diese pseudonymen Herrschaften unter Umständen angenehm war, wenn sie an irgendeinem Platz unter ihrem bürgerlichen Namen bekannt waren.

Er sondierte Lady Rosa in dieser Hinsicht so vorsichtig wie möglich.

»Sie werden mich sicherlich in Theaterangelegenheiten für recht unwissend halten, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich den Namen, den Sie mir nannten, entweder noch nie gehört oder aber wahrscheinlich wieder vergessen habe. Wissen Sie vielleicht, ob der Name Montacute richtig ist? Er klingt eher wie ein Pseudonym.«

Das Mädchen war mehr und mehr überrascht. Obgleich sie anfangs gegen eine Erörterung dieser Angelegenheit gewesen war, hatte nun doch ihre Neugier die Scheu vor dieser Unterhaltung überwunden.

»Ich habe immer geglaubt, daß Montacute der richtige Name wäre; ich dachte nie daran, daß er auch noch einen anderen haben könnte,« rief sie aus; »warum aber fragen Sie so? Wissen Sie etwas darüber?«

»Das Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich weiß genau, daß ich es nie auf der Bühne gesehen habe, wenigstens kann ich mich dessen nicht entsinnen. Sie wissen ja, ich bin beratender Mediziner, und ich wurde eben zu einem Fall gerufen, der recht ernsthaft ist, wo aber der Name des Patienten jedenfalls nicht Montacute war. Trotzdem kann ich mich nicht des Gefühls erwehren, daß das Bild ihn darstellt.«

Lady Rosa lächelte überlegen.

»Sie müssen sich irren, Doktor. Wenn Mr. Montacute krank wäre, stünde das sicherlich in allen Zeitungen, und ich hätte davon gehört. Er tritt jede Nacht im Charing Cross Theater in seiner Romeo-Rolle auf, und wenn Sie heute abend dorthin gehen, werden Sie ihn sehen können.«

Dr. Tarleton schlug die Augen nieder, damit das Mädchen nicht an seinem ernsten Gesichtsausdruck bemerken sollte, welchen Eindruck ihre vertrauliche Erklärung hervorgebracht hatte. Trotzdem war er ihr dankbar für diese Aufklärung, denn wenn irgend etwas die Unschuld der schönen Sprecherin erwies, dann war es diese offene Erklärung. Erleichtert setzte der Arzt seine Fragen fort.

»Sie werden mich für sehr neugierig halten, befürchte ich. Ich wußte nicht, daß das Original dieser Zeichnung Ihr Freund war.«

Das Mädchen warf mit verachtungsvoller Gebärde den Kopf in den Nacken.

»Mr. Montacute gehört nicht mehr zu meinen Freunden,« erläuterte sie. »Er war früher wiederholt hier im Hause, aber in dieser Saison ist er noch nicht hiergewesen. Ich weiß auch wirklich nicht, warum ich sein Bild aufbewahrt habe.«

Sie ging impulsiv darauf zu, riß es von dem Nagel und legte es verächtlich in ein Schubfach.

Wenn diese Handlung nicht aus ihren eigenen Gefühlen entsprungen war, dann war sie eine ausgezeichnete Schauspielerin, und Tarleton beobachtete die Bewegung mit großer innerer Erleichterung. Er hatte sich seit langem den Kopf zerbrochen, wie er einen derartig belastenden Beweisgegenstand auf die Seite schaffen konnte. Selbstverständlich warf die Neuigkeit, die er hier erfahren hatte, den ganzen mühselig gebauten Lügenapparat Burrowes' über den Haufen. Dr. Tarleton war nunmehr in der Lage, die Lügenhaftigkeit der Behauptungen zu beweisen, und konnte so sowohl den Herrn als auch den Diener zwingen, die Wahrheit zu gestehen.

Eine Schwierigkeit bestand noch. Lady Rosa erweckte den Anschein, als wenn sie vollkommen freimütig ihr Wissen auskramte, und er mußte die Zeit benutzen, solange sie noch in dieser Stimmung war und ehe sie noch von den andern gewarnt werden konnte. Wie aber sollte er sein Interesse für den Schauspieler erklären, den er doch nach seinen eigenen Angaben nicht kannte?

Er entschloß sich nochmals, ihre Neugierde wachzurufen.

»Er ist auch kein Freund von mir,« sagte er, »aber wenn er derselbe Mann ist wie mein Patient – und ich glaube, er ist es – dann wird er sicherlich heute abend nicht im Theater spielen. Ich glaube, es wird sich herausstellen, daß es eine unbekannte Seite in seinem Leben gab, die man bei ihm, den man unter dem Namen Montacute kannte, nicht gesucht hätte.«

Er hatte seinen Zweck erreicht, denn Lady Rosa war diesmal unstreitig interessiert.

»Wirklich? Sie wissen etwas über ihn?« flüsterte sie vertraulich fragend.

Der Spezialist schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich es Ihnen anvertrauen darf, ehe ich über seine Identität sicher bin. Es könnte mir vielleicht helfen, wenn Sie irgendeine Ursache angeben könnten, die ihn zu Besuchen in diesem Hause führte. Was sollte ihn veranlaßt haben, seine Bekanntschaft mit Ihnen fallen zu lassen.«

Der Arzt konnte beobachten, daß diese Frage eine sehr wunde Stelle in ihrem Herzen berührt hatte, und er sah an ihrem Ärger, daß die Wunde immer noch schmerzempfindlich war.

»Mr. Montacute hat seine Bekanntschaft mit mir nicht aufgegeben, wie Sie sich auszudrücken beliebten. Er kam nicht mehr, weil man ihm das Haus verboten hatte.«

»Ah! Ich bitte Eure Herrlichkeit um Entschuldigung, wenn ich mich ungeschickt ausgedrückt haben sollte. Aber hat Ihnen das nicht gleich den Eindruck erweckt, als hätte der Herzog etwas erfahren, was den Schauspieler in seinen Augen herabsetzte?«

»Der Herzog hatte gar nichts damit zu tun,« sagte die junge Dame, deren Ärger jegliche Vorsicht außer acht ließ. »Mein Vater hat voriges Jahr wieder geheiratet, und meine Stiefmutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß Mr. Montacute zu … anmaßend wäre.«

Ihre Stimme war wieder zum Flüstern herabgesunken, als sie das gütige Lächeln in den Augen des alten Mannes bemerkte. Sie hatte aber vollkommen genügend verraten, um den Arzt die Situation ziemlich klar erkennen zu lassen. Wahrscheinlich hatte der Herzog, zu sehr in seine eigenen Interessen versunken, dem Wohlergehen seiner Töchter nicht genügend Aufmerksamkeit zugewandt, und die jüngere hatte sich die Situation zunutze gemacht, um mehr in der Gesellschaft Mr. Montacutes zu weilen, als es für ein junges Mädchen ihres Alters und Standes angängig war. Die Herzogin – die Stiefmutter – hatte die Absichten des Schauspielers bemerkt und veranlaßte – was nicht mehr als ihre Pflicht war – dieses unangemessene Verhältnis zu beenden. Aber nur wenige Töchter haben Lust, sich den Befehlen der Stiefmutter zu unterwerfen, und der Zorn der jungen Dame richtete sich dementsprechend gegen den Schauspieler, der so willig gewesen war, sich den Wünschen der Stiefmutter zu fügen.

Tarleton wollte noch einen einzigen Fühler ausstrecken.

»Wenn er wirklich im Leben ein so guter Romeo gewesen wäre wie auf der Bühne, dann hätte er wohl auch den Befehlen Ihrer Gnaden getrotzt,« sagte er lachend.

Aber Lady Rosa war offenbar zu der Überzeugung gekommen, daß die Unterhaltung weit genug gegangen wäre. Sie richtete sich mit einer lieblichen Würde auf und erwiderte:

»Ich habe Ihnen viel mehr gebeichtet, als ich beabsichtigt hatte, Doktor. Bitte, lassen Sie uns das Thema beenden; ich darf Sie auch nicht weiter von Ihren Pflichten abhalten.«

Einem Gesundheitsinspektor hätte es übel angestanden, das Gespräch weiter fortzusetzen. Der Sachverständige konnte deshalb nur wenige Worte der Entschuldigung vor sich hinmurmeln, ohne auf die Frage zurückzukommen, die ihn so sehr interessierte: Warum Lady Rosa heute morgen so zeitig aus ihrem Zimmer gekommen war.


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